Sie taugte nichts

Original-Übersetzung

 

Der Stadtvogt stand am offenen Fenster. Er hatte ein Oberhemd an und eine Brustnadel in der Hemdkrause stecken und war außerordentlich gut rasiert, das hatte er eigenhändig getan und sich dabei nur einen kleinen Schnitt zugezogen, doch über diesen hatte er ein Stückchen Zeitungspapier geklebt.
„Hörst Du, Kleiner“ rief er.
Der Kleine war aber niemand Anderes als der Sohn der Waschfrau, der eben vorbeiging und ehrerbietig seine Mütze zog. Der Schirm war geknickt und auch sonst war sie nach und nach so eingerichtet worden, dass man sie in die Tasche stecken konnte. In seinen ärmlichen aber sauberen und durchaus ordentlich geflickten Kleidern und den schweren Holzschuhen stand der Knabe ehrerbietig da, als ob er vor dem Könige selber stehe.
„Du bist ein guter Junge“ sagte der Stadtvogt, „Du bist ein höflicher Junge Deine Mutter spült wohl Wäsche unten am Fluss. Dahin sollst Du wohl auch mit dem, was Du in der Tasche hast. Das ist eine schlimme Sache mit Deiner Mutter. Wie viel hast Du da?“
„Ein halb Nößel,“ sagte der Knabe mit erschreckter, halbleiser Stimme.
„Und heute morgen bekam sie ebensoviel,“ fuhr der Mann fort.
„Nein, gestern war es“ antwortete der Knabe.
„Zwei halbe geben ein ganzes. – Sie taugt nichts. Es ist traurig mit dieser Volksklasse. – Sag Deiner Mutter, sie sollte sich schämen. Und werde nicht auch zum Trunkenbold, aber das wirst Du ja doch. – Armes Kind. – Geh nun.“
Und der Knabe ging; die Mütze behielt er in der Hand und der Wind blies durch sein blondes Haar, sodass es sich in langen Strähnen aufrichtete. Er ging um die Straßenecke in das Gässchen zum Flusse hinab, wo die Mutter draußen im Wasser neben der Waschbank stand und mit dem Wäscheklöpfel auf das schwere Leinen schlug. Es war starke Strömung im Flusse, denn die Schleusen der Wassermühle waren geöffnet. Die Laken wurden vom Strome fortgetrieben und rissen fast die Waschbank mit sich; die Waschfrau musste sich kräftig dagegenstemmen.
„Ich bin nahe daran, fortzuschwimmen.“ sagte sie, „es ist gut, dass Du kommst, denn eine Hülfe tut den Kräften schon Not! Es ist kalt hier draußen im Wasser; sechs Stunden habe ich schon hier gestanden. Hast Du etwas für mich?“
Der Knabe zog die Flasche hervor und die Mutter setzte sie an den Mund und trank einen Schluck.
„Ach, das tut gut. Wie das wärmt. Das ist ebenso gut wie warmes Essen, und es ist nicht so teuer. Trink, mein Junge. Du siehst so blas aus, Du frierst in den dünnen Kleidern; es ist ja auch Herbst. Hu, Das Wasser ist kalt. Wenn ich nur nicht krank werde. Aber das tue ich nicht. Gib mir noch einen Tropfen und trinke auch, aber nur einen kleinen Tropfen, Du darfst Dich nicht daran gewöhnen, mein liebes armes Kind.“
Sie ging um die Brücke, auf der der Knabe stand, und trat aufs Land. Das Wasser triefte aus der Schilfmatte, die sie um den Leib gebunden trug und es triefte auch aus ihrem Hemde.
„Ich quäle und placke mich ab, dass mir das Blut fast unter den Nägeln hervorspritzt, aber das tut nichts, wenn ich Dich nur ehrlich durch die Welt bringe, mein Kind.“
Im gleichen Augenblick kam eine etwas ältere Frau, ärmlich an Kleidung und Gestalt. Sie hinkte auf dem einen Bein und trug über dem einen Auge eine mächtige falsche Locke, das sollte von der Locke verdeckt werden, aber das Gebrechen fiel dadurch nur noch mehr in die Augen. Es war eine Freundin der Waschfrau, „Humpelmaren mit der Locke“ nannten die Nachbarn sie.
„Du Ärmste, wie Du Dich quälen und placken und in dem kalten Wasser stehen musst. Du hast doch wahrhaftig ein bisschen Warmes nötig, und doch missgönnt man Dir noch den Tropfen, den Du bekommst!“
Und nun war bald des Stadtvogts ganze Rede zu dem Knaben der Waschfrau zu Ohren gebracht; denn Maren hatte das Ganze mitangehört und es hatte sie geärgert, dass er zu dem Kinde so von seiner eigenen Mutter und von dem Tropfen, den sie zu sich nahm, sprach, wehrend er gleichzeitig große Essen abhielt, bei denen der Wein flaschenweise floss. „Feine Weine und starke Weine werden da getrunken, auch ein bisschen über den Durst bei vielen. Aber das nennt man beileibe nicht trinken! Sie taugen etwas, aber Du taugst nichts!“
„Hat er so zu Dir gesprochen, Kind“ sagte die Waschfrau und ihre Lippen bewegten sich zitternd. „Du hast eine Mutter, die nichts taugt. Vielleicht hat er recht, aber dem Kinde hätte er das nicht sagen dürfen. Doch von diesem Hause kommt viel über mich.“
„Ihr habt ja dort im Hause gedient, als des Stadtvogts Eltern noch lebten und dort wohnten; das ist viele Jahre her. Seit der Zeit sind viele Scheffel Salz gegessen worden, da kann man schon Durst bekommen!“ und Maren lachte. „Heute ist großes Mittagessen beim Stadtvogt, es sollte abgesagt werden, aber es wurde zu spät, und das Essen war schon fertig. Ich habe es von dem Hausknechte. Vor einer Stunde ungefähr ist ein Brief gekommen, dass der jüngere Bruder in Kopenhagen gestorben ist.“
„Gestorben“ schrie die Waschfrau auf und wurde totenbleich.
„Aber ja doch“ sagte die Frau. „Geht es Euch so nahe? Nun ja, Ihr habt ihn ja gekannt von der Zeit an, wo Ihr im Hause dientet.“
„Ist er tot! Er war der beste Mensch auf Erden. Unser Herrgott bekommt nicht viele, wie er war.“ Und Tränen liefen über ihre Wangen. „O, mein Gott. Es dreht sich alles vor mir im Kreise. Das kommt, weil ich die Flasche ausgetrunken habe; ich habe es nicht vertragen können. Ich fühle mich so krank“ und sie lehnte sich gegen einen Bretterzaun.
„Aber Mutter, Ihr seid ja ganz krank“ sagte die Frau. „Seht nur, dass es vorübergeht! Nein, Ihr seid wirklich krank. Es wird das beste sein, dass ich Euch nachhause bringe!“
„Aber die Wäsche hier.“
„Da lasst mich nur machen. Fasst mich unter den Arm. Der Junge kann hier bleiben und solange aufpassen. Nachher komme ich und wasche den Rest. Es ist ja nicht mehr viel übrig.“
Und die Waschfrau schwankte auf ihren Füßen.
„Ich habe zu lange in dem kalten Wasser gestanden. Seit heute morgen habe ich weder etwas Warmes noch etwas Kaltes in den Magen bekommen! Ich fühle, wie das Fieber in meinem Körper sitzt. O, Herr Jesus, hilf mir nachhause. Mein armes Kind“ und sie brach in Tränen aus.
Der Knabe weinte und saß bald allein am Flusse neben der nassen Wäsche. Die beiden Frauen gingen nur langsam, die Waschfrau schwankend, das Gässchen entlang, sie bogen um die Ecke am Hause des Stadtvogts vorbei, und gerade vor diesem sank sie auf das Pflaster. Die Leute liefen zusammen.
Humpelmaren lief in das Haus um Hülfe. Der Stadtvogt mit seinen Gästen sah aus dem Fenster.
„Das ist die Waschfrau“ sagte er. „Sie hat wohl eins über den Durst getrunken; sie taugt nichts. Es ist schade um ihren hübschen Jungen. Für das Kind habe ich etwas übrig. Aber die Mutter taugt nichts.“
Dann wurde sie wieder zur Besinnung gebracht und in ihr ärmliches Heim geführt, wo man sie auf das Bett legte. Die brave Maren machte ihr eine Tasse warmes Bier mit Butter und Zucker zurecht, eine Medizin, die sie immer für die beste hielt. Und dann ging sie zum Flusse hinunter und spülte schlecht aber mit viel guter Meinung die Wäsche, sie zog das nasse Zeug eigentlich nur ans Land und nahm es mit sich.
Am Abend saß sie in der ärmlichen Stube bei der Waschfrau. Ein paar gebratene Kartoffeln und ein prächtig fettes Stück Schinken hatte sie von der Köchin des Stadtvogts für die Kranke bekommen, daran taten sich der Knabe und Maren gütlich; die Kranke freute sich am Geruche, der so nährend wäre, wie sie sagte.
Und der Knabe kam ins Bett, in das gleiche Bett, in dem die Mutter lag, aber er hatte seinen Platz quer zu ihren Füßen und zog einen alten Fußteppich über sich, der aus roten und blauen Streifen zusammengenäht war.
Der Waschfrau ging es ein wenig besser; das warme Bier hatte sie gestärkt und der Duft des feinen Essens ihr wohlgetan.
„Dank, Du gute Seele“ sagte sie zu Maren. „Wenn der Junge schläft, will ich Dir auch alles sagen. Ich glaube, er tut es schon. Wie süß und lieb er doch aussieht mit den geschlossenen Augen. Er weiß nicht, wie schlecht es seiner Mutter geht. Der liebe Gott möge ihm ein anderes Schicksal bescheren! – Als ich bei Gerichtsrats, den Eltern des Stadtvogts diente, traf es sich, dass der Jüngste von den Söhnen, der damals Student war, heimkam; damals war ich jung, wild und warmblütig, aber anständig, das kann ich auch vor Gott getrost behaupten!“ sagte die Waschfrau. – „Der Student war so lustig und fröhlich, ein prachtvoller Mensch. Jeder Blutstropfen in ihm war rechtschaffen und gut. Einen besseren Menschen gab es auf der ganzen Welt nicht. Er war der Sohn des Hauses und ich nur das Dienstmädchen, aber wir wurden uns einig in Zucht und Ehren. Ein Kuss ist doch keine Sünde, wenn man einander richtig lieb hat. Und dann sagte er es seiner Mutter, die für ihn der Herrgott hier auf Erden war. Und sie war auch so klug, so liebevoll und so gut. – Dann reiste er fort und setzte mir seinen goldenen Ring auf den Finger. Als er fort war, rief mich meine Dienstherrin in ihr Zimmer. Ernst und doch so mild stand sie da und sprach mit mir, wie der liebe Gott auch hätte sprechen können. Sie erklärte mir den Abstand in Geist und Bildung zwischen ihm und mir. Jetzt sieht er noch, wie hübsch Du aussiehst, aber die Schönheit vergeht! Du bist nicht in dem Stande erzogen wie er, Ihr seid in den Reichen des Geistes nicht gleich, und darin liegt das Unglück. Ich achte den Armen, sagte sie, bei Gott erhält er vielleicht einen höheren Platz als mancher Reiche, aber auf Erden darf man nicht in der verkehrten Spur fahren, wenn man vorwärts will, sonst schlägt der Wagen um, und Ihr beiden würdet umschlagen! Ich weiß, dass ein braver Mann, ein Handwerker, um Dich gefreit hat, es ist der Handschuhmacher Erik. Er ist Witwer, er hat keine Kinder und steht sich gut; denke darüber nach.“ Jedes Wort, was sie sagte, schnitt mir wie ein Messer ins Herz, aber die Frau hatte recht. Und das drückte mich und lastete auf mir. Ich küsste ihr die Hand und weinte meine bittersten Tränen und noch mehr, als ich dann in meiner Kammer war und mich übers Bett warf. Es war eine schwere Nacht, die dieser Stunde folgte; der liebe Gott weiß es, wie ich gelitten und gestritten habe. Dann ging ich am Sonntag zum Abendmahl, um innere Klarheit zu finden. Da geschah es wie in einer Fügung, dass ich gerade den Handschuhmacher Erik traf, als ich aus der Kirche kam. Da war es mit meinen Zweifeln vorbei, wir passten zu einander in Stellung und Verhältnissen, ja, er war sogar ein wohlhabender Mann, und so ging ich gerade auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte: Sind Deine Gedanken immer noch bei mir? – Ja, ewig und immer werden sie das sein. sagte er. – Willst Du ein Mädchen haben, das Dich achtet und ehrt, wenn es Dich auch nicht liebt? Aber auch das kann wohl noch kommen. – Das wird kommen sagte er, und dann gaben wir einander die Hand. Ich ging heim zu meiner Dienstherrin. Den Goldring, den der Sohn mir gegeben hatte, trug ich auf meiner bloßen Brust, am Tage konnte ich ihn nicht auf meinen Finger setzen, aber jeden Abend, wenn ich mich ins Bett legte, setzte ich ihn auf. Ich küsste den Ring, dass meine Lippen dabei bluteten. Und dann gab ich ihn meiner Dienstherrin und sagte, dass ich in der nächsten Woche von der Kanzel herab mit dem Handschuhmacher aufgeboten werden würde. Da nahm sie mich in ihre Arme und küsste mich – sie sagte nicht, dass ich nichts tauge, aber damals war ich vielleicht auch noch besser, obgleich ich noch nicht so viel Widerstand im Leben hatte durchmachen müssen. Zu Lichtmess fand dann die Hochzeit statt. Das erste Jahr ging es gut, wir hielten einen Gesellen und einen Burschen, und damals dientest Du auch bei uns, Maren.“
„Ach, Ihr wart mir eine gute Dienstherrin“ sagte Maren. „Niemals werde ich vergessen, wie freundlich Ihr und Euer Mann zu mir wart.“
„Das waren die guten Jahre, in denen Du bei uns warst – Kinder hatten wir da noch nicht. – Den Studenten sah ich niemals mehr. – Doch, ich sah ihn, aber er sah mich nicht. Er kam zu seiner Mutter Begräbnis. Ich sah, ihn am Grabe stehen, er war kreideweiß und tiefbetrübt, aber es war um der Mutter willen! Als später der Vater starb, war er in fremden Ländern und kam nicht her, auch später ist er nicht mehr hier gewesen. Niemals hat er sich verheiratet, das weiß ich; er war wohl Rechtsanwalt. – An mich dachte er nicht mehr und hätte er mich gesehen, so hätte er mich wohl nicht mehr erkannt, so hässlich bin ich geworden. Und das ist ja auch gut so!“
Und sie sprach von den schweren Tagen der Prüfung, wie das Unglück geradezu über sie hergefallen war. Sie besaßen fünfhundert Reichstaler, und da in der Straße ein Haus für zweihundert zu haben war und es sich gelohnt hätte, es niederzureißen und ein neues zu bauen, wurde das Haus gekauft. Der Maurer und der Zimmermann machten einen Überschlag, wonach das weitere noch eintausendzwanzig Mark kosten würde. Kredit hatte der Handschuhmacher, das Geld bekam er in Kopenhagen geliehen, aber der Schiffer, der es bringen sollte, ging unter und das Geld mit.
Damals war es, dass mein lieber Junge, der hier schläft, geboren wurde. – Der Vater fiel in eine schwere langwierige Krankheit. Dreiviertel Jahr lang musste ich ihn aus- und anziehen. Es ging immer weiter rückwärts mit uns; wir liehen und liehen, all unser Eigentum ging verloren und der Vater starb. – Ich habe mich gequält und geplagt, habe gestritten und gestrebt um des Kindes willen, habe Treppen gescheuert und Wäsche gewaschen, grobe und feine. Aber Gott wollte, dass ich es nicht besser haben sollte, aber er wird mich wohl einmal erlösen und für den Knaben sorgen.“
Dann schlief sie ein.
Am Morgen fühlte sie sich gekräftigt und, wie sie glaubte, stark genug, wieder an ihre Arbeit zu gehen. Sie war eben in das kalte Wasser gestiegen, als ein Zittern, eine Ohnmacht sie befiel. Krampfhaft griff sie mit der Hand nach vorwärts, machte einen Schritt an das Land und fiel dann um. Der Kopf war auf dem Trockenen, aber die Füße lagen draußen im Fluss. Ihre Holzschuhe, mit denen sie auf dem Grunde gestanden hatte – in jedem von ihnen war eine Strohlage – trieben in der Strömung; hier wurde sie von Maren aufgefunden, die mit Kaffee herunterkam.
Vom Stadtvogt war eine Bestellung zuhause, dass sie sogleich zu ihm kommen möge, er habe ihr etwas zu sagen. Das war zu spät. Ein Barbier wurde geholt, um ihr zur Ader zu lassen; aber die Waschfrau war tot.
„Sie hat sich todgetrunken!“ sagte der Stadtvogt.
In dem Briefe, der die Nachricht vom Tode des Bruders brachte, war der Inhalt des Testaments angegeben und darin stand, dass sechshundert Reichstaler der Handschuhmacherswitwe vermacht waren, die einmal bei seinen Eltern gedient habe. Nach bestem Gewisses sollte das Geld in kleineren oder größeren Teilen ihr und ihrem Kinde übergeben werden.
„Da hat einmal so ein Techtelmechtel zwischen meinem Bruder und ihr stattgefunden!“ sagte der Stadtvogt. „Gut: dass sie aus dem Wege ist, nun bekommt der Knabe das Ganze. Ich werde ihn zu braven Leuten geben, dass ein guter Handwerker aus ihm wird.“ – Und in diese Worte legte der liebe Gott seinen Segen.
Der Stadtvogt rief den Knaben zu sich, versprach, für ihn zu sorgen und sagte zu ihm, wie gut es sei, dass seine Mutter gestorben wäre, sie taugte nichts.
Sie wurde auf den Kirchhof gebracht, auf den Armenfriedhof. Maren pflanzte einen kleinen Rosenstrauch auf das Grab – und der Knabe stand an ihrer Seite.
„Meine liebe Mutter“ sagte er und seine Tränen strömten: „Ist es wahr, dass sie nichts taugte?“
„Ja, sie taugte!“ sagte das alte Mädchen und sah zum Himmel auf. „Ich weiß das seit langen Jahren und seit der letzten Nacht noch mehr. Ich sage Dir, sie taugte. Und unser Herrgott im Himmelreich sagt es auch. Lass die Welt nur ruhig sagen: sie taugt nichts!“

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1852 veröffentlicht.

Pieter, Peter und Per

Original-Übersetzung

 

Es ist unglaublich, was Kinder in unserer Zeit alles wissen! Man weiß bald nicht mehr, was sie nicht wissen. Dass der Storch sie aus dem Brunnen oder Mühlteich geholt und, wie sie noch ganz klein waren, zu Vater und Mutter gebracht hat, ist nun eine so alte Geschichte, dass sie nicht mehr daran glauben, und es ist doch das einzig Richtige.
Aber wie kommen die Kleinen in den Mühlteich und Brunnen? Ja, das weiß nicht jeder, aber manche wissen es doch. Hast du den Himmel richtig betrachtet, in einer sternklaren Nacht die vielen Sternschnuppen gesehen, die sind, wie wenn ein Stern fiele und verschwände? Die Gelehrtesten können nicht erklären, was sie selber nicht wissen; aber es kann erklärt werden, wenn man es weiß. Es ist, wie wenn ein kleines Weihnachtslicht vom Himmel fiele und verlöscht; es ist ein Seelenfunken vom lieben Gott, der zur Erde herabfährt, und während er in unsere dichtere, schwerere Luft hineinkommt, schwindet des Glanz, es bleibt nur, was unsere Augen nicht zu sehen vermögen, denn es ist etwas weit Feineres als unsere Luft, es ist ein Himmelskind, das da ausgesandt wird, ein kleiner Engel, aber ohne Flügel, das Kleine soll ja Mensch werden; still gleitet es durch die Luft, und der Wind trägt es hin in eine Blume; das kann nun eine Nachtviole sein, eine Butterblume eine Rose oder Pechnelke; da liegt es und ruht aus. Luftig und leicht ist es, eine Fliege kann damit fliegen, geschweige denn eine Biene, und sie kommen wechselweise und suchen nach dem süßen in der Blume; liegt ihnen das Luftkind nun im Wege, so stoßen sie es nicht heraus, sie haben nicht das Herz dazu, sie legen es hin in die Sonne auf ein Seerosenblatt, und von dort krabbelt und kriecht es hinab ins Wasser, wo es schläft und wächst, bis der Storch es sehen und zu einer Menschenfamilie holen kann, die sich so ein süßes Kleines wünscht; aber ob es süß ist oder nicht, beruht darauf, ob das Kleine von dem klaren Wasser getrunken hat oder ob Schlamm und Entenflott ihm in die falsche Kehle gekommen ist; das macht so irdisch. Der Storch nimmt ohne Wahl das erste, das er sieht. Eins kommt in ein gutes Haus zu unvergleichlich guten Eltern, ein anderes kommt zu harten Leuten in großes Elend, so dass es viel besser gewesen wäre, in dem Mühlenteich zu bleiben.
Die Kleinen erinnern sich gar nicht, was sie unter dem Seerosenblatt träumten, wo am Abend die Frösche ihnen vorsangen: „Koax, koax! Strax, strax!“ Das bedeutet in der Menschensprache: „Nun sollt ihr sehen, ihr könnt schlafen und träumen!“ Sie können sich auch nicht erinnern, in welcher Blume sie zuerst lagen oder wie sie duftete, und doch ist da etwas in ihnen, wenn sie erwachsene Menschen werden, das sagt: „Die Blume haben wir am liebsten!“ Und das ist die, in der sie als Luftkinder lagen.
Der Storch wird sehr alt, und immer gibt er darauf acht, wie es den Kleinen geht, die er gebracht hat, und wie sie sich in die Welt schicken; er kann freilich nichts für sie tun oder ihre Lage verändern, er hat seine eigene Familie, für die er sorgen muss, aber er verliert sie niemals aus den Augen.
Ich kenne einen alten, sehr ehrbaren Storch, der große Vorkenntnisse hat und viele Kleine geholt hat und auch ihre Geschichte weiß, in der immer etwas Schlamm und Entenflott aus dem Mühlenteich ist. Ich bat ihn, mir eine kleine Lebensbeschreibung von einem von diesen zu erzählen, und da sagte er, dass ich drei für eine haben sollte aus Pietersens Haus.
Das war eine besonders nette Familie, Pietersens; der Mann war einer der zweiunddreißig Ratsmänner der Stadt, und das war eine Auszeichnung; er lebte für die zweiunddreißig und ging auf in den zweiunddreißig. Hier kam der Storch hin und brachte einen kleinen Pieter, so wurde das Kind genannt. Im nächsten Jahr kam der Storch wieder mit noch einem, den nannten sie Peter, und als der dritte gebracht wurde, erhielt er den Namen Per, denn in den Namen Pieter-Peter-Per liegt der Name Pietersen.
Das waren also drei Brüder, drei Sternschnuppen, jeder in seiner Blume gewiegt, unter das Seerosenblatt in den Mühlenteich gelegt und von da vom Storch zu der Familie Pietersen gebracht, deren Haus an der Ecke liegt, wie du wohl weißt.
Die wuchsen auf an Körper und Geist, und so wollten sie noch etwas mehr werden als die zweiunddreißig Männer.
Pieter sagte, er wolle Räuber werden. Er hatte die Komödie von „Fra Diavolo“ gesehen und sich für das Räuberhandwerk, als das hübscheste der Welt, entschieden.
Peter wollte Mistbauer werden, und Per, der ein so süßer und artiger Junge war, dick und rund, aber seine Nägel biss, das war sein einziger Fehler, Per wollte Vater werden. Das sagte nun ein jeder, wenn man sie fragte, was sie in der Welt werden sollten.
Und dann kamen sie in die Schule. Einer wurde Erster, und einer wurde Letzter, und einer kam gerade in die Mitte, aber deshalb konnten sie ja ebenso klug und ebenso gut sein, und das waren sie, sagten ihre sehr einsichtsvollen Eltern.
Sie kamen auf Kinderbälle, sie rauchten Zigarren, wenn keiner es sah, sie nahmen zu an Kenntnis und Erkenntnis.
Pieter war von Klein auf streitbar, wie ja ein Räuber sein muss; er war ein sehr unartiger Junge, aber das kam davon, sagte die Mutter, dass er an Würmern litt; unartige Kinder haben immer Würmer, das ist Schlamm im Leib. Ein Eigensinn und seine Streitlust gingen eines Tages über der Mutter neuen Seidenkleid hin.
„Stoß nicht an den Kaffeetisch, mein Gotteslamm!“ hatte sie gesagt. „Du könntest den Sahnetopf umwerfen und ich bekäme Flecken auf mein neues Seidenkleid!“
Und das „Gotteslamm“ nahm mit fester Hand den Sahnetopf und goss mit fester Hand die Sahne der Mama gerade in den Schoß, die nicht unterlassen konnte, zu sagen: „Lamm, Lamm! Das war nicht klug, mein Lämmchen!“ Aber einen Willen hatte das Kind, das musste sie einräumen. Wille zeigt Charakter und das ist so vielversprechend für eine Mutter.
Er hätte ganz gewiss Räuber werden können, aber er wurde es nicht buchstäblich; er kam nur dahin, auszusehen wie ein Räuber: er ging mit verbeultem Hut, bloßem Hals und langen, wirren Haaren, er sollte Künstler werden, aber er kam nur in die Künstlerkleider und sah dazu aus wie eine Stockrose; alle Menschen, die er zeichneten, sahen aus wie Stockrosen. Er hatte diese Blume sehr gern, er hatte auch in einer Stockrose gelegen, sagte der Storch.
Peter hatte in einer Butterblume gelegen. Er sah so geschmiert aus um die Mundwinkel, hatte eine gelbe Haut, man musste glauben, wäre er angeschnitten worden, so wäre Butter herausgekommen. Er war geboren zum Butterhändler und hätte sein eigenes Firmenschild sein können, aber innerlich, so in seinem Innern, war er „Mistbauer“, er war der musikalische Teil der Pietersenschen Familie, aber „Genug für sie alle zusammen“, sagten die Nachbarn. Er machte siebzehn neue Polkas in einer Woche und setzt sie zusammen zu einer Oper mit Trompeten und Schellen; ei, wie war die schön!
Per war weiß und rot, klein und gewöhnlich; er hatte in einer Gänseblume gelegen. Niemals schlug er um sich, wenn die andern Jungen ihn hauten, er sagte, dass er der Vernünftigste sei, und der Vernünftigste gibt immer nach. Er sammelte zuerst Griffel, dann Marken, dann schaffte er sich ein kleines Naturalienkabinett, in dem das Skelett eines Stichlings, drei bildgeborene Rattenjungen in Spiritus und ein ausgestopfter Maulwurf waren. Per hatte Sinn für das Wissenschaftliche und Blick für die Natur, und das war erfreulich für die Eltern und für Per auch. Er ging lieber in den Wald als in die Schule, lieber in die Natur als in die Dressur; seine Brüder waren schon verlobt, als er noch dafür lebte, seine Sammlung von Wasservogeleiern zu vervollständigen. Er wusste bald viel mehr von den Tieren als von den Menschen, ja, er meinte, dass wir das Tier in dem, was wir am höchsten schätzen, nicht erreichen können, in der Liebe. Er sah, dass, während das Nachtigallweibchen auf seinen Eiern brütete, der Nachtigallvater dasaß und die ganze Nacht seiner kleinen Frau „Kluck, kluck! Zi, zi! Lo, lo, li!“ vorsang. Das hätte Per nie tun oder sich dazu hergeben können. Wenn die Storchmutter mit ihren Jungen im Nest lag stand der Storchvater die ganze Nacht auf einem Bein auf dem Dachfirst, Per hätte so nicht eine Stunde stehen können. Und als er eines Tages das Gewebe der Spinne betrachtete und was darin saß, da gab er den Ehestand ganz auf. Herr Spinne webt, um unbedachtsame Fliegen zu fangen, junge und alte, blutreiche und winddürre, er lebt, um zu weben und seine Familie zu ernähren, aber Madame Spinne lebt einzig und allein für ihren Mann. Sie isst ihn auf vor lauter Liebe, sie isst sein Herz, seinen Kopf, seinen Leib, nur seine langen, dünnen Beine bleiben zurück im Spinngewebe, wo er mit Nahrungssorgen für die ganze Familie saß. Das ist die reine Wahrheit, direkt aus der Naturgeschichte. Das sah Per, das überdachte er, „so von seiner Frau geliebt zu werden, von ihr aufgegessen zu werden in gewaltsamer Liebe. Nein, so weit treibt es kein Mensch; und wäre es zu wünschen?“
Per beschloss, sich nie zu verheiraten! Nie einen Kuss zu geben oder zu nehmen, der wie der erste Schritt in den Ehestand aussehen könnte. Aber einen Kuss bekam er doch, einen, den wir alle bekommen, des Todes großen Kuss. Wenn wir lange genug gelebt haben, dann bekommt der Tod die Order: „Küss weg!“ Und dann ist der Mensch weg; da leuchtet ein Sonnenblitz vom lieben Gott, so hell, dass es uns schwarz wird vor den Augen; die Menschenseele, die wie eine Sternschnuppe kam, fliegt wieder hin wie eine Sternschnuppe, aber nicht, um in einer Blume zu ruhen oder unter einem Seerosenblatt zu träumen; sie hat wichtigere Dinge vor, sie fliegt hinein in das große Ewigkeitsland, aber wie es dort ist und aussieht, kann niemand sagen. Keiner hat da hineingesehen, nicht einmal der Storch, wie weit er auch sieht und wie viel er auch weiß; er wusste nun auch nicht das mindeste mehr von Per, aber dagegen von Pieter und Peter, aber von denen hatte ich genug gehört, und das hast du wohl auch; so sagte ich dem Storch Dank für diesmal, aber nun verlangt er für diese kleine, gewöhnliche Geschichte drei Frösche und ein Schlangenjunges, er nimmt Bezahlung in Lebensmitteln. Willst du bezahlen? Ich will nicht! Ich habe weder Frösche noch junge Schlangen.

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1868 veröffentlicht.

Ole Lukøie

Original-Übersetzung

 

Es gibt niemanden in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß, wie Ole Luk-Oie. Der kann gehörig erzählen:
So gegen Abend hin, wenn die Kinder noch so nett am Tisch oder auf ihrem Schemel sitzen, kommt Ole Luk-Oie. Er kommt sachte die Treppe herauf, denn er geht auf Socken; er macht ganz leise die Türe auf und husch! da spritzt er den Kindern süße Milch in die Augen hinein, und das so fein, so fein, aber doch immer genug, dass sie die Augen nicht aufhalten und ihn deshalb auch nicht sehen können. Er schleicht sich gerade hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und davon wird es ihnen schwer im Kopf. O ja! aber es tut nicht weh, denn Ole Luk-Oie meint es gerade gut mit den Kindern; er will nur, dass sie ruhig sein sollen, und das sind sie, wenn man sie zu Bett gebracht hat; sie sollen still sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann.
Wenn die Kinder dann schlafen, setzt sich Ole Luk-Oie auf ihr Bett. Er ist gut gekleidet; sein Rock ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich, zu sagen, von welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet. Unter jedem Arme hält er einen Regenschirm; den einen, mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und dran träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; aber einen anderen Schirm hat er, auf dem überhaupt nichts ist; den stellt er über die unartigen Kinder, dann schlafen sie wie dumm und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das allergeringste geträumt. Nun werden wir hören, wie Ole Luk-Oie jeden Abend während einer ganzen Woche zu einem kleinen Knaben kam, welcher Hjalmar hieß, und was er ihm erzählte. Es sind sieben Geschichten, denn es sind sieben Tage in der Woche.
„Höre einmal!“ sagte Ole Luk-Oie am Abend, als er Hjalmar zu Bett gebracht hatte; „jetzt werde ich aufputzen!“ Und da wurden alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, welche ihre langen Zweige unter der Zimmerdecke und längs den Wänden ausstreckten, so dass die ganze Stube wie ein prächtiges Lusthaus aussah. Alle Zweige waren voller Blumen, jede Blume war noch schöner als eine Rose, duftete gleich lieblich, und wollte man sie essen, so war sie noch süßer als Eingemachtes! Die Früchte glänzten wie Gold, und es waren da Kuchen, die vor lauter Rosinen platzten. Es war unvergleichlich schön! Aber zur gleicher Zeit ertönte ein schreckliches Jammern aus dem Tischkasten her, wo Hjalmars Schulbücher lagen.
Was ist nur das? sagte Ole Luk-Oie und ging hin zu dem Tisch und zog den Kasten heraus. Es war die Schiefertafel, in er es riss und wühlte, denn es war eine falsche Zahl in das Rechenexempel gekommen, so dass es nah daran war, auseinander zu fallen. Der Stift hüpfte und sprang an seinem Band, als ob er ein kleiner Hund seil,, der dem Rechenexempel helfen möchte; aber er konnte es nicht. Und dann jammerte es auch in Hjalmars Schreibheft; oh, es war ordentlich hässlich mit an zu hören! Auf jedem Blatt standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben, ein jeder mit einem kleinen zur Seite. Das war die Vorschrift; und neben diesen standen wieder einige Buchstaben, welche ebenso auszusehen glaubten, und diese hatte Hjalmar geschrieben. Sie lagen aber fast so, als ob sie über die Bleistiftstriche gefallen wären, auf denen sie stehen sollten.
„Seht, so solltet ihr auch halten!“ sagte die Vorschrift. „Seht, so schräg geneigt, mit einem kräftigen Schwung!“ Oh, wir möchten gern“, sagten Hjalmars Buchstaben; „aber wir können nicht; wir sind so schwächlich!“ „Dann müsst ihr einnehmen!“ sagte Ole Luk-Oie.
„O nein!“ riefen sie, und da standen sie so schlank, dass es eine Lust war“ „Ja, nun können wir keine Geschichten erzählen!“ sagte Ole Luk-Oie; „nun muss ich mit ihnen üben! Eins, zwei! Eins, zwei!“ und so übte er mit den Buchstaben, und sie standen ganz schlank und so schön, wie nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als Ole Luk-Oie ging und Hjalmar sie am Morgen besah, da waren sie ebenso schwächlich und jämmerlich wie vorher.
Sobald Hjalmar zu Bett war, berührte Ole Luk-Oie mit seiner kleinen Zauberspritze alle Möbel in der Stube, und sogleich fingen sie an zu plaudern, und allesamt sprachen sie von sich selbst, mit Ausnahme des Spucknapfes, welcher stumm dastand und sich darüber ärgerte, dass sie so eitel sein könnten, nur von sich selbst zu sprechen, nur an sich selbst zu denken und durchaus keine Rücksicht auf den zu nehmen, der doch so bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ.
Über der Kommode hing ein großes Gemälde in einem vergoldeten Rahmen, das war eine Landschaft; man sah darauf große, alte Bäume, Blumen im Grase und einen breiten Fluss, welcher um den Wald herumfloss, an vielen Schlössern vorbei, und weit hinaus in das wilde Meer.
Ole Luk-Oie berührte mit seiner Zauberspritze das Gemälde; sogleich begannen die Vögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich, und die Wolken zogen ordentlich weiter; man konnte ihre Schatten über die Landschaft hingleiten sehen.
Nun hob Ole Luk-Oie den kleinen Hjalmar zu dem Rahmen empor und stellte seine Füße in das Gemälde, gerade in das hohe Gras, und da stand er. Die Sonne beschien ihn durch die Zweige der Bäume. Er lief hin zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, welches dort lag. Es war rot und weiß angestrichen, die Segel glänzten wie Silber, und sechs Schwäne, alle mit Goldkronen um den Hals und einem strahlenden blauen Stern auf dem Kopf, zogen das Boot an dem grünen Wald vorüber, wo die Bäume von Räubern und Hexen, die Blumen von den niedlichen kleinen Elfen und von dem, was die Schmetterlinge ihnen gesagt hatten, erzählten.
Die herrlichsten Fische, mit Schuppen wie Silber und Gold, schwammen dem Boot nach; mitunter machten sie einen Sprung, so dass es im Wasser plätscherte, und Vögel, rot und blau, klein und groß, flogen in zwei langen Reihen hinterher; die Mücken tanzten, und die Maikäfer sagten: Bum! Bum! Sie wollten Hjalmar alle folgen, und jeder hatte eine Geschichte zu erzählen.
Dies war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder dicht und dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Garten voll Sonnenschein und Blumen. Und da lagen große Schlösser von Glas und von Marmor; auf den Altanen standen Prinzessinnen, und diese alle waren kleine Mädchen, die Hjalmar gut kannte; er hatte früher mit ihnen gespielt. Eine jede streckte die Hand aus und hielt das niedlichste Zuckerherz hin, welches je eine Kuchenfrau verkaufen konnte, und Hjalmar fasste die Hälfte eines Zuckerherzens an, indem er vorüberfuhr; die Prinzessin hielt aber recht fest, und so bekam jeder ein Stück; sie das kleinste, Hjalmar das allergrößte. Bei jedem Schloss standen kleine Prinzen Schildwache; sie schulterten mit Goldsäbeln und ließen es Rosinen und Zinnsoldaten regnen; man sah ihnen an, dass es echte Prinzen waren!
Bald segelte Hjalmar durch Wälder, bald durch große Säle oder mitten durch eine Stadt. Er kam auch durch die, in welcher seine Kinderfrau wohnte, die ihn getragen hatte, als er noch ein ganz kleiner Knabe war, und die ihm immer so gut gewesen; sie nickte und winkte und sang den niedlichen kleinen Vers, den sie selbst gedichtet und Hjalmar gesendet hatte:

Ich denke deiner so manches Mal,
Mein teurer Hjalmar, du Lieber!
Ich gab dir Küsse ja ohne Zahl
Auf Stirn, Mund und Augenlider.
Ich hörte dich lallen das erste Wort,
Doch musst‘ ich dir Abschied sagen.
Es segne der Herr dich an jedem Ort,
Du Engel, den ich getragen!

Und alle Vögel sangen mit, die Blumen tanzten auf den Stielen, und die alten Bäume nickten, gerade als ob Ole Luk-Oie ihnen auch Geschichten erzählte.

Nein, wie strömte der Regen draußen hernieder! Hjalmar konnte es im Schlaf hören; und als Ole Luk-Oie ein Fenster öffnete, stand das Wasser herauf bis an das Fensterbrett; es war ein ganzer See da draußen, aber das prächtigste Schiff lag dicht am Hause.
„Willst du mitsegeln, kleiner Hjalmar“, sagte Ole Luk-Oie, „so kannst du diese Nacht nach fremden Ländern gelangen und morgen wieder hier sein!“ Und da stand Hjalmar plötzlich in seinen Sonntagskleidern mitten auf dem prächtigen Schiff. Sogleich wurde das Wetter schön, und sie segelten durch die Straßen, kreuzten um die Kirche, und nun war alles eine große, wilde See. Sie segelten so lange, bis kein Land mehr zu erblicken war, doch sahen sie einen Zug Störchen, die kamen aus der Heimat und wollten nach den warmen Ländern; ein Storch flog immer hinter dem andern, und sie waren schon weit, sehr weit geflogen! Einer von ihnen war so ermüdet, dass seine Flügel ihn kaum noch zu tragen vermochten; es war der allerletzte in der Reihe, und bald blieb er ein großes Stück zurück; zuletzt sank er mit ausgebreiteten Flügeln tiefer und tiefer; er machte noch ein paar Schlage mit den Schwingen, aber es half nicht; nun berührte er mit seinen Füßen das Tauwerk des Schiffes, nun glitt er vom Segel herab, und plumps! da stand er auf dem Verdeck.
Jetzt nahm ihn der Schiffsjunge und setzt ihn in das Hühnerhaus, zu den Hühnern, Enten und Truthühnern; der arme Storch stand ganz befangen mitten unter ihnen.
„Sieh den Kerl an!“ sagten alle Hühner. Und der kalkuttische Hahn blies sich so dick auf, wie er konnte, und fragte, wer er sein; und die Enten gingen rückwärts und pufften einander: „Rappel dich! Rappel dich!“ Und der Storch erzählte vom warmen Afrika, von den Pyramiden und vom Strauß, der, einem wilden Pferde gleich, die Wüste durchlaufe; aber die Enten verstanden nicht, was er sagte, und dann pufften sie einander: „Wir sind doch wohl alle derselben Meinung, nämlich, dass er dumm ist?“ – „Ja, sicher ist er dumm!“ sagte der Truthahn, und dann kollerte er. Da schwieg der Storch ganz still und dachte an sein Afrika.
„Das sind ja herrlich dünne Beine, die Ihr habt!“ sagte der Kalkuttaer. „Was kostet die Elle davon?“ – „Skrat, skrat, skrat“ grinsten alle Enten, aber der Storch tat, als ob er es gar nicht höre.
„Ihr könnt ruhig mitlachen“, sagte der Kalkuttaer zu ihn; „denn es war sehr witzig gesagt! Oder war es Euch vielleicht zu hoch? Ach, ach! er ist nicht vielseitig! Wir wollen interessant unter uns selbst bleiben!“ Und dann gluckte er, und die Enten schnatterten: „Gik, gak! Gik, gak!“ Es war erschrecklich, wie sie sich selbst belustigten.
Aber Hjalmar ging nach dem Hühnerhaus, öffnete die Türe, rief den Storch, und der hüpfte zu ihm hinaus auf das Verdeck. Nun hatte er ja ausgeruht, und es war gleichsam, als ob er Hjalmar zunichte, um ihm zu danken. Darauf entfaltete er seine Schwingen und flog nach den warmen Ländern; aber die Hühner gluckten, die Enten schnatterten, und der kalkuttische Hahn wurde ganz feuerrot am Kopf.
„Morgen werden wir Suppe von euch kochen!“ sagte Hjalmar, und damit erwachte er und lag in seinem kleinen Bett. Es war doch eine sonderbare Reise, die Ole Luk-Oie ihn diese Nacht hatte machen lassen.
„Weißt du was?“ sagte Ole Luk-Oie; „Werde nur nicht furchtsam! Hier wirst du eine kleine Maus sehen!“ Und dann hielt er ihm seine Hand hin mit dem leichten, niedlichen Tier in derselben. „Sie ist gekommen, um dich zur Hochzeit einzuladen. Es wollen diese Nacht zwei kleine Mäuse in den Stand der Ehe treten. Sie wohnen unter deiner Mutter Speisekammerfußboden: das soll eine schöne Wohnung sein!“
„Aber wie kann ich durch das kleine Mauseloch im Fußboden kommen?“ fragte Hjalmar. „Da lass mich nur sorgen!“ sagte Ole Luk-Oie. „Ich werde dich schon klein machen!“ Und nun berührte er Hjalmar mit seiner Zauberspritze, worauf dieser sogleich kleiner und kleiner wurde; zuletzt war er keinen Finger lang. „Nun kannst du dir die Kleider des Zinnsoldaten leihen; ich denke, wie werden dir passen, und es sieht so gut aus, Uniform zu tragen, wenn man in Gesellschaft ist!“. „Ja freilich!“ sagte Hjalmar, und da war er im Augenblick wie der niedlichste Zinnsoldat gekleidet.
„Wollen Sie nicht so gut sein und sich in Ihrer Mutter Fingerhut setzen“, sagte die kleine Maus; „dann werde ich die Ehre haben, Sie zu ziehen!“ „Gott, wollen das Fräulein selbst sich bemühen!“ sagte Hjalmar; und so fuhren sie zur Mäusehochzeit.
Zuerst kamen sie unter den Fußboden in einen langen Gang, der gar nicht höher war, als das sie gerade mit dem Fingerhut dort fahren konnten; und der ganze Gang war mit faulem Holz ausgelegt.
„Riecht es hier nicht herrlich?“ fragte die Maus, die ihn zog. „Der ganze Gang ist mit Speckschwarten geschmiert worden! Es kann nichts Schöneres geben!“ Nun kamen sie in den Brautsaal hinein. Hier standen zur Rechten alle kleinen Mäusedamen; und die wisperten und pisperten, als ob sie einander zum besten hätten. Zur Linken standen alle Mäuseherren und strichen sich mit der Pfote den Schnauzbart; mitten in dem Saal aber sah man die Brautleute; die standen in einer ausgehöhlten Käserinde und küssten sich gar erschrecklich viel, denn sie waren ja Verlobte und sollten nun gleich Hochzeit halten.
Es kamen immer mehr und mehr Fremde; die eine Maus war nahe daran, die andere totzutreten, und das Brautpaar hatte sich mitten in die Tür gestellt, so dass man weder hinaus- noch hereingelangen konnte. Die Stube war ebenso wie der Gang mit Speckschwarten eingeschmiert, das war die ganze Bewirtung; aber zum Dessert wurde eine Erbse vorgezeigt, in die eine Maus aus der Familie den Namen des Brautpaares eingebissen hatte, dass heißt, den ersten Buchstaben. Das war etwas ganz Außerordentliches! Alle Mäuse sagten, dass es eine schöne Hochzeit und dass die Unterhaltung sehr angenehm gewesen sei.
Hierauf fuhr Hjalmar wieder nach Hause; er war wahrlich in vornehmer Gesellschaft gewesen, aber er hatte auch ordentlich zusammenkriechen, sich klein machen und Zinnsoldaten-Uniform anziehen müssen.
„Es ist unglaublich, wie viele ältere Leute es gibt, die mich gar zu gern haben möchten!“ sagte Ole Luk-Oie. „Es sind besonders die, welche etwas Böses verübt haben. „Guter, kleiner Ole“, sagen sie zu mir, „Wir können die Augen nicht schließen, und so liegen wir die ganze Nacht und sehen alle unsere bösen Taten, die wie hässliche kleine Kobolde auf der Bettkante sitzen und uns mit heißem Wasser bespritzen; möchtest du doch kommen und sie fortjagen, damit wir einen guten Schlaf bekämen“; und dann seufzen sie so tief; wir möchten es wahrlich gern bezahlen; gute Nacht, Ole! das Geld liegt im Fenster!“ – Aber ich tue es nicht für Geld“, sagte Ole Luk-Oie.
„Was wollen wir nun diese Nacht vornehmen?“ fragte Hjalmar. „Ja, ich weiß nicht, ob du diese Nacht wieder Lust hast, zur Hochzeit zu gehen; es ist eine von anderer Art als die gestrige. Deiner Schwester große Puppe, die, welche wie ein Mann aussieht und Hermann genannt wird, will sich mit der Puppe Bertha verheiraten. Es ist obendrein der Puppe Geburtstag, und deshalb werden sie sehr viele Geschenke bekommen!“
„Ja, das kenne ich schon!“ sagte Hjalmar. „Immer wenn die Puppen neue Kleider brauchen, dann lässt meine Schwester sie ihren Geburtstag feiern oder Hochzeit halten; das ist sicher schon hundertmal geschehen!“
„Ja, aber in dieser Nacht ist es die hundertunderste Hochzeit, und wenn hundertundeins aus ist, dann hört alles auf! Deshalb wird auch diese ganz beispiellos schön. Sieh nur einmal!“
Und Hjalmar sah auf den Tisch. Da stand das kleine Papphaus mit Licht in den Fenstern, und draußen vor demselben präsentierten alle Zinnsoldaten das Gewehr. Das Brautpaar saß ganz gedankenvoll, wozu es wohl Ursache hatte, auf dem Fußboden und lehnte sich gegen das Tischbein. Aber Ole Luk-Oie, in der Großmutter schwarzen Rock gekleidet, traute sie. Als die Trauung vorbei war, stimmten alle Möbel in der Stube folgenden schönen Gesang an, welcher von dem Bleistift geschrieben war; er ging nach der Melodie des Zapfenstreiches:

Das Lied ertöne wie der Wind;
Dem Brautpaar Hoch! das sich verbind’t;
Sie sprangen beide steif und blind,
Da sie von Handschuhleder sind!
Hurra, Hurra! ob taub und blind,
Wir singen es in Wetter und Wind!

Und nun bekamen sie Geschenke, aber sie hatten sich alle Speisewaren verbeten, denn sie hatten an ihrer Liebe genug.

„Wollen wir nun eine Sommerwohnung beziehen oder auf Reisen gehen?“ fragte der Bräutigam. Und da wurde die Schwalbe, die so viel gereist war, und die alte Hofhenne, welche fünfmal Küchlein ausgebrütet hatte, zu Rate gezogen. Und die Schwalbe erzählte von den herrlichen warmen Ländern, wo die Weintrauben so groß und schwer hingen, wo die Luft so mild sei und die Berge Farbe hätten, wie man sie hier gar nicht an denselben kenne!
„Sie haben aber nicht unseren Braunkohl!“ sagte die Henne. „Ich war einen Sommer lang mit allen meinen Küchlein auf dem Lande; da war eine Sandgrube, in der wir umhergehen und kratzen konnten; und dann hatten wir Zutritt zu einem Garten mit Braunkohl! O wie war der herrlich! Ich kann mir nichts Schöneres denken.“
„Aber der eine Kohlstrunk sieht gerade so aus wie der andere“, sagte die Schwalbe; „und dann ist hier so oft schlechtes Wetter!“ „Ja, daran ist man gewöhnt!“ sagte die Henne. „Aber hier ist es kalt, und es friert!“
„Das ist gut für den Kohl!“ sagte die Henne. „Übrigens können wir es auch warm haben! Hatten wir nicht vor vier Jahren einen Sommer, der fünf Wochen lang währte?“ Es war so heiß, man konnte nicht atmen! Und dann haben wir nicht alle die giftigen Tiere, die sie dort haben! Und wir sind von Räubern frei! Der ist ein Bösewicht, der nicht findet, dass unser Land das schönste ist! Er verdient wahrlich nicht, hier zu sein!“ Und dann weite die Henne und fuhr fort: „Ich bin auch gereist! Ich bin in einer Bütte über zwölf Meilen gefahren! Es ist durchaus kein Vergnügen beim Reisen!“
„Ja, die Henne ist eine vernünftige Frau!“ sagte die Puppe Bertha. „Ich halte auch nichts davon, Berge zu bereisen, denn das geht nur hinauf und dann wieder herunter! Nein, wir wollen hinaus vors Tor in die Sandgrube ziehen und im Kohlgarten umherspazieren!“ Und dabei blieb es.
„Bekomme ich nun Geschichten zu hören?“ fragte der kleine Hjalmar, sobald Ole Luk-Oie ihn in den Schlag gebracht hatte. „Diesen Abend haben wir keine Zeit dazu“, sagte Ole Luk-Oie und spannte seinen schönsten Regenschirm über ihm auf. „Betrachte nun diese Chinesen!“ Und der ganze Regenschirm sah aus wie eine große chinesische Schale mit blauen Bäumen und spitzen Brücken und mit kleinen Chinesen darauf, die dastanden und mit dem Kopf nickten. „Wir müssen die ganze Welt bis morgen schön aufgeputzt haben“, sagte Ole Luk-Oie; „es ist ja dann ein Feiertag, es ist Sonntag. Ich will zu den Kirchtürmen hin, um zu sehen, ob die kleinen Kirchenkobolde die Glocken polieren, damit sie hübsch klingen! Ich will hinaus auf das Feld und sehen, ob die Winde den Straub von Gras und Blättern blasen; und was die größte Arbeit ist, ich will alle Sterne herunterholen, um sie zu polieren. Ich nehme sie in meine Schürze; aber erst muss ein jeder nummeriert werden, damit sie wieder auf den rechten Fleck kommen können, sonst würden sie nicht festsitzen, und wir bekämen zu viele Sternschnuppen, indem der eine nach dem andern herunterpurzeln würde!“
„Hören Sie, wissen Sie was, Herr Luk-Oie!“ sagte ein altes Portrait, welches an der Wand hing, wo Hjalmar schlief; „ich bin Hjalmars Urgroßvater; ich danke Ihnen, dass Sie dem Knaben Geschichten erzählen, aber Sie müssen seine Begriffe nicht verwirren. Die Sterne können nicht herunterkommen und poliert werden: Die Sterne sind Weltkugeln, ebenso wie unsere Erde, und das ist gerade das Gute an Ihnen.“
„Ich danke dir, du alter Urgroßvater“, sagte Ole Luk-Oie; „ich danke dir! Du bist ja das Haupt der Familie; du bist das Urhaupt: aber ich bin doch älter als du! Ich bin ein alter Heide; Römer und Griechen nannten mich den Traumgott! Ich bin in die vornehmsten Häuser gekommen und komme noch dahin! Ich weiß sowohl mit Geringen wie mit Großen umzugehen! Nun kannst du erzählen!“ Und da ging Ole Luk-Oie und nahm seinen Regenschirm mit.
„Nun! Nun! Man darf wohl gar seine Meinung nicht mehr sagen!“ brummte das alte Portrait. Und da erwachte Hjalmar.
„Guten Abend!“ sagte Ole Luk-Oie, und Hjalmar nickte und sprang dann hin und kehrte das Portrait des Urgroßvaters gegen die Wand um, damit es nicht wie gestern mit hineinreden könne.
„Nun musst du mir Geschichten erzählen: von den fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten, und von dem Hahnenfuß, der dem Hühnerfuß den Hof machte, und von der Stopfnadel, die so vornehm tat, dass sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein!“
„Man kann auch des Guten zuviel bekommen!“ sagte Ole Luk-Oie. „Du weißt doch wohl, dass ich dir am liebsten etwas zeige! Ich will dir meinen Bruder zeigen. Er heißt auch Ole Luk-Oie; aber er kommt zu keinem öfter als einmal, und zu wem er kommt, den nimmt er mit auf seinem Pferd und erzählt ihm Geschichten. Er kennt nur zwei; die eine ist so außerordentlich schön, dass niemand in der Welt sie sich denken kann, und die andere ist so hässlich und grässlich, dass sie gar nicht zu beschreiben ist!“ Und dann hob Ole Luk-Oie den kleine Hjalmar zum Fenster hinaus und sagte: „Da wirst du meinen Bruder sehen, den anderen Ole Luk-Oie! Sie nennen ihn auch den Tod! Siehst du, er sieht gar nicht so schlimm aus wie in den Bilderbüchern, wo er nur ein Knochengerippe ist! Nein, das ist Silberstickerei, die er auf dem Kleide hat; das ist die schönste Husaren-Uniform; ein Mantel von schwarzem Samt fliegt hinter ihm über das Pferd! Sie, wie er im Galopp reitet.“
Und Hjalmar sah, wie dieser Ole Luk-Oie davon ritt und sowohl junge wie alte Leute auf sein Pferd nahm. Einige setzte er vorne, andere hinten auf, aber immer fragte er erst: „Wie steht es mit dem Zeugnisbuch?“ – „Gut!“ sagten sie allesamt. „Ja, lasst mich selbst sehen!“ sagte er; und dann mussten sie ihm das Buch zeigen, und alle, die „Sehr gut“ und „Ausgezeichnet gut“ hatten, kamen vorne auf das Pferd und bekamen die herrliche Geschichte, die aber, welche „Ziemlich gut“ und „Mittelmäßig“ hatten, mussten hintan auf und bekamen die grässliche Geschichte zu hören; sie zitterten und weinten sie wollten vom Pferde springen, konnten es aber nicht, denn sie waren sogleich daran festgewachsen.
„Aber der Tod ist ja der prächtigste Ole Luk-Oie!“ sagte Hjalmar. „Vor ihm ist mir nicht bange!“ „Das soll dir auch nicht sein!“ sagte Ole Luk-Oie. „Sieh nur zu, dass du ein gutes Zeugnisbuch hast!“ „Ja, das ist lehrreich!“ murmelte des Urgroßvaters Portrait. „Es hilft doch, wenn man seine Meinung sagt!“ Und nun gab er sich zufrieden.
Sieh, das ist die Geschichte von Ole Luk-Oie; nun mag er dir selber heute Abend mehr erzählen.

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1842 zum ersten mal in dem Buch namens ”Eventyr, fortalte for Børn. Ny Samling. Tredie Hefte. 1842” veröffentlicht.

Nach Jahrtausenden

Original-Übersetzung

 

Ja, nach Jahrtausenden kommen sie auf den Flügeln des Dampfes durch die Luft über das Weltmeer. Amerikas junge Einwohner besuchen das alte Europa. Sie kommen zu den Denkmälern hier und zu unserer versunkenen Pracht, so wie wir heute nach Südasien wandern, um dessen bröckelnde Herrlichkeiten zu sehen.
Nach Jahrtausenden kommen sie.
Themse, Donau und Rhein rollen noch; der Montblanc steht mit seinem Schneegipfel, die Nordlichter schimmern über den Ländern des Nordens, aber Geschlecht auf Geschlecht wird zu Staub, die Mächtigen des Augenblicks werden vergessen, wie es schon jetzt diejenigen sind, die unter dem Hügel dort schlummern auf dem der wohlhabende Mehlhändler, dem der Grund und Boden gehört, sich eine Bank hat zimmern lassen um dort sitzen und über die flachen, wogenden Kornfelder hinschauen zu können.
„Nach Europa“ heißt es bei Amerikas jungem Geschlecht, „nach der Väter Land, dem herrlichen Lande der Erinnerung und der Fantasie, Europa“
Das Luftschiff kommt; es ist überfüllt mit Reisenden, denn die Fahrt geht geschwinder als zur See. Der elektromagnetische Draht unter dem Weltmeer hat schon telegraphiert, wie groß die Luftkarawane ist. Schon kommt Europa in Sicht, es sind Irlands Küsten, die sich zeigen, aber die Passagiere schlafen noch; sie wollen erst geweckt werden, wenn sie über England sind. Dort betreten sie Europas Erde in Shakespeares Land, wie es die Söhne des Geistes heißen; das Land der Politik, das Land der Maschinen, wie es andere nennen.
Einen ganzen Tag wird hier Aufenthalt genommen, soviel Zeit widmet das eilfertige Geschlecht dem großen England und Schottland.
Dann geht die Fahrt durch den Kanaltunnel nach Frankreich, Karls des Großen und Napoleons Land. Moliere wird genannt, die Gelehrten sprechen von einer klassischen und romantischen Schule im fernen Altertum, und von Helden, Dichtern und Gelehrten, die unsere Zeit nicht kennt, die aber auf Europas Krater, Paris, geboren werden sollen.
Der Luftdampfer fliegt über das Land hin, von wo Kolumbus ausging, wo Cortez geboren wurde und wo Calderon Dramen in wiegenden Strophen sang. Herrliche schwarzäugige Frauen wohnen noch in den blühenden Tälern und in uralten Gesängen gedenkt man des Cid und der Alhambra.
Durch die Luft über das Meer nach Italien, wo das alte, ewige Rom lag; es ist ausgelöscht, die Campagne ist eine Wüste. Von der Peterskirche wird ein einsamer Mauerrest gezeigt, aber man zweifelt an seiner Echtheit.
Nach Griechenland, um eine Nacht in dem Luxushotel auf der Spitze des Olymps zu schlafen, dann ist man dort gewesen. Die Fahrt gebt auf den Bosporus zu, um dort einige Stunden zu ruhen und die Stätte zu sehen, wo Byzanz einst lag. Ärmliche Fischer spannen ihre Netze dort, wo die Sage von den Gärten des Harems in der Zeit der Türken erzählt.
Überreste von mächtigen Städten an der breit dahinfließenden Donau, die unsere Zeit nicht kennt, werden überquert, aber hier und da – über Stätten reicher Erinnerungen, den kommenden, die die Zeit noch gebiert – hier und da senkt sich die Luftkarawane und hebt sich wieder.
Dort unten liegt Deutschland – das einmal vom dichtesten Netz von Eisenbahnen und Kanälen überspannt war, das Land, wo Luther sprach, Goethe sang und Mozart in seiner Zeit der Töne Zepter trug. Große Namen leuchteten dort in Wissenschaft und Kunst, Namen, die wir noch nicht kennen. Eines Tages Aufenthalt für Deutschland und einen Tag für den Norden, für Oerstedts und Linnés Vaterland, und für Norwegen, der alten Helden und jungen Nordmänner Land. Island wird auf dem Heimwege mitgenommen; die Geiser kochen nicht mehr, der Hekla ist erloschen, aber die Felseninsel, der Saga ewige Steintafel, steht stark mitten im brausenden Meer.
„In Europa gibt es viel zu sehen“ sagt der junge Amerikaner. „Wir haben es in acht Tagen gesehen, und das lässt sich recht gut schaffen, wie der große Reisende“ – ein Name wird genannt, der der kommenden Zeit angehört – In seinem berühmten Werk, „Europa in acht Tagen“ bewiesen hat.“

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1852 veröffentlicht.

Moorkönigs Tochter

Original-Übersetzung

 

Die Störche erzählen ihren Jungen gar viele Märchen, und alle handeln von Sumpf und Moor; gewöhnlich sind sie dem Alter und Fassungsvermögen angepasst. Die kleinsten sind schon entzückt, wenn man „Kribble, krabble, plurremurre“ sagt, das finden sie sehr ergötzlich; aber die älteren wollen Geschichten mit tieferem Inhalt hören, am liebsten, wenn sie von der Familie handeln. Von den zwei ältesten und längsten Märchen, die sich bei den Störchen erhalten haben, kennen wir alle das eine, das von Moses, der von seiner Mutter in den Fluten des Nils ausgesetzt und von der Tochter des Königs gefunden wurde, eine gute Erziehung erhielt und ein großer Mann wurde, von dem man nicht einmal weiß, wo er begraben wurde. Aber das ist etwas ganz Alltägliches.
Das andere Märchen ist nicht so bekannt, vielleicht weil es mehr inländisch ist. Dies Märchen hat sich wohl tausend Jahre schon von Storchmutter zu Storchmutter übertragen, und jede hat es besser und besser erzählt, und wir erzählen es am allerbesten.
Das erste Storchpaar, das es erzählte und erlebt hatte, hatte seinen Sommersitz auf einem Wikingerblockhaus bei dem großen Wildmoor in Jütland. Noch immer ist dort ein ungeheuer großes Moor, wie man aus allen Landesbeschreibungen ersehen kann. Hier sei einst Meeresboden gewesen, der sich gehoben habe, steht darin. Es erstreckt sich meilenweit, und ist von allen Seiten von feuchten Wiesen und schwankendem Torfboden umgeben, auf dem nur unbrauchbare Beeren und kümmerliche Bäume gedeihen. Fast immer schwebt ein Nebel darüber, und vor siebzig Jahren fanden sich hier noch Wölfe. Es trägt seinen Namen „Wildmoor“ wirklich zu recht, und man kann sich wohl vorstellen, wie verwildert, voller Sümpfe und Seen, es hier vor tausend Jahren gewesen sein mag! Im einzelnen sah man damals hier, was man noch jetzt sieht. Die Rohrstangen hatten die gleiche Höhe, die gleiche Art langer Blätter und violettbraun gefiederte Blütenbüschel, wie sie sie jetzt noch tragen. Die Birke stand mit weißer Rinde und lose im Winde schaukelnden Blättern wie jetzt, und was die Lebewesen betrifft, die hierher kamen, ja, die Fliege trug ihr Florwämslein im selben Schnitt wie noch heute, die Leibfarbe der Störche war weiß und schwarz mit roten Strümpfen, die Menschen dagegen hatten einen anderen Kleiderschnitt als heutigentags, doch ein jeder, Sklave oder Jäger, wer sich auch hinaus auf den sumpfunterwühlten Boden wagte, dem erging es vor tausend Jahren wie jetzt, sie kamen her, brachen ein und sanken hinab zum Moorkönig, wie er genannt wurde, der drunten in dem großen Moorreiche regiert. Sehr wenig wusste man von seiner Regierung, doch das ist vielleicht ganz gut so.
Dicht beim Moor, nahe am Limfjord, lag das Blockhaus mit steinuntermauertem Keller, einem Turm und drei Stockwerken. Oben auf dem Dache hatte der Storch sein Nest gebaut, die Storchmutter lag auf ihren Eiern und wiegte sich in Sicherheit, dass ihr Vorhaben glücken werde.
Eines Abends blieb Storchvater etwas lange aus, und als er dann heimkam, sah er ganz verstört und abgehetzt aus.
„Ich muss Dir etwas ganz Furchtbares erzählen!“ sagte er zur Storchmutter.
„Lass es lieber sein“ sagte sie „denke daran, dass ich auf den Eiern liege, ich könnte durch den Schreck Schaden nehmen, und das wirkt auf die Eier.“
„Du musst es wissen!“ sagte er. „Sie ist hergekommen, die Tochter unseres Wirtes in Ägypten. Sie hat die Reise hier herauf gewagt, und weg ist sie.“
„Ist es die, die aus dem Geschlecht der Feen ist? Erzähle doch nur, Du weißt, dass ich es gar nicht vertragen kann, in der Brutzeit zu warten!“
„Siehst Du, Mutter, sie hat doch dem Doktor geglaubt, dass die Moorblume von hier oben ihrem kranken Vater helfen könne. Da ist sie in ihrem Federkleide hergeflogen, zusammen mit den beiden anderen Federkleidprinzessinnen, die jedes Jahr hierher nach dem Norden sollen, um sich durch Baden zu verjüngen. Sie ist gekommen. und sie ist weg.“
„Du erzählst immer so weitläufig!“ sagte die Storchmutter, „die Eier können sich unterdessen erkälten! Ich kann soviel Spannung nicht vertragen!“
„Ich habe genau aufgepasst“ sagte der Storchvater, „und heute Abend, als ich ins Schilf ging, wo der Moorboden mich tragen kann, kamen drei Schwäne. Es war etwas im Flügelschlage, das mir sagte: Nimm Dich in acht, das sind keine richtigen Schwäne, das sind nur Schwanenhäute, Du weißt ja, Mutter, wie man so etwas im Gefühl haben kann, Du fühlst auch, was das Richtige ist.“
„Ja gewiss“ sagte sie, „aber erzähle nun von der Prinzessin, ich habe es über, von Schwanenhäuten zu hören.“
„Hier, mitten im Moor, ist, wie Du weißt, eine Art See,“ sagte der Storchvater. „Du kannst ein Stückchen davon sehen, wenn Du Dich aufrichtest; dort zwischen dem Schilf und dem grünen Moorboden lag ein großer Erlenstamm. Auf diesem ließen sich die drei Schwäne nieder und blickten sich um; die eine von ihnen warf ihre Schwanenhaut ab, und ich erkannte in ihr die Prinzessin unseres Hauses in Ägypten. Sie saß da und hatte keinen anderen Mantel um sich, als ihr langes, schwarzes Haar. Ich hörte, wie sie die beiden anderen bat, wohl auf ihre Schwanenhaut achtzugeben, wenn sie unter das Wasser tauchen würde, um die Blume zu pflücken, die sie zu sehen glaubte. Sie nickten und richteten sich empor; dabei hoben sie das lose Federkleid auf. Sieh nur, was wollen sie wohl damit tun? dachte ich, und sie fragte sicherlich ebenfalls danach. Die Antwort bekam sie durch den Anblick der Tat – sie flogen mit ihrem Federkleide in die Höhe und riefen: „Tauch nur unter. Niemals mehr sollst Du im Schwanenkleide fliegen, nie das Land Ägypten wiedersehen. Bleib Du im Wildmoore sitzen!“ Und dann rissen sie ihr Federkleid in hundert Fetzen, dass die Federn rings umher flogen, als seien es Schneeflocken, und fort flogen sie, die beiden bösen Prinzessinnen.
„Das ist schrecklich!“ sagte die Storchmutter, „ich kann das gar nicht mit anhören! – Sag mir schnell, was dann weiter geschah!“
„Die Prinzessin jammerte und weinte, Ihre Tränen rollten auf den Erlenstamm nieder. Da bewegte er sich, denn es war der Moorkönig selbst, der dort im Moore wohnt. Ich sah, wie der Stamm sich umdrehte, und da war er kein Stamm mehr; lange schlammbedeckte Zweige reckten sich empor wie Arme. Das arme Kind erschrak und sprang davon auf dem schwankenden Moorboden. Aber der kann an dieser Stelle mich nicht einmal tragen, geschweige denn sie. Sie versank sogleich, und der Erlenstamm tauchte auch unter, er war es, der sie hinabzog. Es stiegen noch ein paar große, schwarze Blasen auf, und dann war nichts mehr zu sehen. Nun liegt sie im Wildmoor begraben, niemals kommt sie mit der Blume nach Ägypten. Du hättest es nicht mit ansehen können, Mutter!“
„So etwas hättest Du mir in dieser Zeit überhaupt nicht erzählen dürfen! Das kann den Eiern schaden! – Die Prinzessin wird sich schon zu helfen wissen! Sie findet schon jemanden, der ihr beisteht! Wärest Du es gewesen oder ich, einer von den unsrigen, so wäre es vorbei mit uns!“
„Ich will doch jeden Tag nach ihr sehen!“ sagte der Storchvater, und das tat er auch.
Nun verging eine lange Zeit darüber. Eines Tages jedoch sah er, dass tief aus dem Grunde des Moors ein grüner Stängel emporschoss. Und als er den Wasserspiegel erreicht hatte, trieb ein Blatt daraus hervor; breiter wurde es und immer breiter. Dicht neben ihm sprosste auch eine Knospe empor, und als der Storch eines Morgens über ihr dahinflog, öffnete sich die Blumenknospe in den heißen Sonnenstrahlen, und mitten darin lag ein wunderhübsches Kind, ein kleines Mädchen, frisch, als sei es gerade aus dem Bade genommen worden. Sie glich der Prinzessin aus Ägypten in solchem Maße, dass der Storch zuerst glaubte, sie sei es selbst, nur kleiner geworden. Doch als er darüber nachdachte, fand er es wahrscheinlicher, dass es ihr und des Moorkönigs Kind sei. Deshalb lag es wohl auch in einer Wasserrose.
„Da kann sie doch nicht liegen bleiben!“ dachte der Storch. In meinem Nest sind wir schon so viele, doch halt, da fällt mir etwas ein! Die Wikingerfrau hat keine Kinder, und sie hat sich schon oft so ein Kleines gewünscht. Ich werde ja immer beschuldigt, die kleinen Kinder zu bringen, nun will ich einmal ernst damit machen! Ich fliege mit dem Kind zur Wikingerfrau; das wird eine Freude werden!“
Der Storch nahm das kleine Mädchen, flog zum Blockhause, schlug mit dem Schnabel ein Loch in die Fensterscheibe aus Blasenhaut und legte das Kind an die Brust der Wikingerfrau. Dann flog er zur Storchmutter und erzählte ihr alles, und die Jungen durften zuhören, sie waren nun schon groß genug dazu.
„Siehst Du, die Prinzessin ist nicht tot! Sie hat das Kleine heraufgeschickt, und nun ist es untergebracht!“
„Das habe ich ja von vornherein gesagt!“ meinte die Storchmutter. „Denk aber jetzt etwas an Deine eigenen Kinder. Jetzt kommt bald die Reisezeit; es kribbelt mir schon ab und zu unter den Flügeln. Der Kuckuck und die Nachtigall sind schon fort, und die Wachteln hörte ich eben davon sprechen, dass wir guten Wind bekommen werden. Unsere Jungen werden beim Manöver schon ihren Mann stehen, wie ich sie kenne!“
Nein, wie freute sich die Wikingerfrau, als sie am Morgen erwachte und das hübsche kleine Kind an ihrer Brust fand; sie küsste und streichelte es, doch es schrie ganz schrecklich und strampelte mit Armen und Beinen; gute Laune schien es nicht zu haben. Zuletzt weinte es sich in Schlaf, und wie es da lag, war es wirklich das Hübscheste, was man sehen konnte. Der Wikingerfrau war so leicht, so froh, so wohl zumute, sie nahm es als geheimes Zeichen, dass ihr Gemahl mit allen seinen Mannen ebenso unerwartet hereinschneien würde, wie die Kleine; da gab es denn bei ihr und im ganzen Hause ein emsiges Rühren, damit alles instand käme. Die langen farbigen Wandbehänge mit den hineingewirkten Bildern ihrer Götter Odin, Thor und Freia, die sie mit ihren Mägden selbst gewebt hatte, wurden aufgehängt, die Sklaven mussten die alten Schilder, die als Schmuck an den Wänden hingen, putzen, Polster wurden auf die Bänke gelegt, und auf der Feuerstätte mitten in der Halle wurde trockenes Holz aufgeschichtet, damit das Feuer sogleich entzündet werden könne. Die Wikingerfrau griff selbst tüchtig mit zu, so dass sie am Abend herzlich müde war und gut schlief.
Als sie gegen Morgen erwachte, erschrak sie zutiefst, denn das kleine Kind war spurlos verschwunden. Sie sprang auf, zündete einen Kiefernspan an und sah sich um, da lag am Fußende ihres Bettes nicht mehr das kleine Kind, sondern eine große, hässliche Kröte. Ihr wurde ganz übel zumute bei dem Anblick, und sie nahm einen großen Stock ,um das Tier totzuschlagen. Doch es blickte sie mit so wunderlich betrübten Augen an, dass sie nicht zuschlagen konnte. Noch einmal sah sie sich nach allen Seiten um, der Frosch gab ein leises, so klägliches Quaken von sich, dass sie zusammenfuhr und ans Fenster sprang. Sie riss es auf und im gleichen Augenblick ging die Sonne auf; sie warf ihre Strahlen gerade auf das Bett und die große Kröte, und mit einem Male war es, als ob sich des Untiers breites Maul zusammenzöge und klein und rot würde, die Glieder streckten sich und wandelten sich zu der niedlichsten Gestalt, und da lag wieder ihr eigenes kleines hübsches Kind im Bette und kein hässlicher Frosch.
„Was ist das nur“ sagte sie. „Habe ich einen bösen Traum geträumt! Das ist ja mein herziges kleines Elfenkind, das da vor mir liegt.“ Und sie küsste es und drückte es an ihr Herz, aber es kratzte und biss um sich wie eine kleine Wildkatze.
Nicht an diesem Tag, auch nicht am nächsten kam der Wikinger, obgleich er auf dem Heimwege war; denn er hatte den Wind gegen sich, der nach Süden blies wegen der Störche. Des einen Freude ist des andern Leid.
Nach ein paar Tagen und Nächten wurde es der Wikingerfrau klar, wie es mit ihrem kleinen Kinde stand. Ein scheußlicher Zauber ruhte auf ihm. Am Tage war es schön wie ein Lichtelf, hatte aber eine böse, wilde Natur, das Nachts dagegen war es eine hässliche Kröte, still und kläglich mit traurigen Augen. Hier waren zwei Naturen, die einander abwechselten, sowohl äußerlich wie innerlich; das kam daher, dass das kleine Mädchen, dass der Storch hierher gebracht hatte, am Tage das Äußere seiner Mutter, aber gleichzeitig die Sinnesart seines Vaters besaß, bei Nacht dagegen trat die körperliche Verwandtschaft mit ihm in der Gestalt zutage, während der Mutter Gemüt und Herz aus seinen Augen strahlte. Wer konnte diesen Zauber lösen? Die Wikingerfrau war in Angst und Betrübnis, und doch hing ihr Herz an diesem armen Geschöpfe, dessen Zustand sie ihrem Gemahl nicht zu offenbaren wagte, wenn er jetzt heimkehrte, dann würde er gewiss nach Schick und Brauch das arme Kind an der Fahrstraße aussetzen, damit es nähme, wer wollte. Das brachte die gute Wikingerfrau nicht übers Herz. Nur beim hellen Tageslichte sollte er das Kind zu sehen bekommen.
Eines Morgens sauste es von Storchschwingen über dem Dache. Da hatten über Nacht wohl hundert Storchpaare sich für das große Manöver ausgeruht, sie flogen jetzt auf, um nach Süden zu ziehen.
„Alle Mann fertig!“ hieß es, „Frau und Kinder auch!“
„Uns ist so leicht!“. sagten die jungen Störche, „es kribbelt und krabbelt uns in den Beinen, gerade als ob wir voll lebendiger Frösche steckten! Wie herrlich ist es, nach dem Ausland zu reisen!“
„Haltet Euch im Schwarm!“ sagten Vater und Mutter, „und klappert nicht so viel mit dem Schnabel, das legt sich auf die Brust!“
Und sie flogen.
Zur gleichen Stunde erklangen die Luren über die Heide hin; der Wikinger mit all seinen Mannen war gelandet. Sie kehrten mit reicher Beute von der gallischen Küste heim, wo die Leute, wie in Britland, voll Schrecken sangen:
„Von den wilden Normannen befreie uns, Herr.“
Welch Leben und welche Lust begann nun im Wikingerhause beim Wildmoor! Die Metkannen wurden in die Halle gebracht, das Feuer wurde entzündet, und Pferde wurden geschlachtet. Hier sollte ordentlich aufgetafelt werden! Der Opferpriester sprengte das warme Pferdeblut zur Weihe über die Sklaven, das Feuer knisterte, und der Rauch zog unter der Decke hin, dass der Ruß von den Balken tropfte, aber das war man gewöhnt. Es waren Gäste geladen, und sie wurden wohl aufgenommen; vergessen waren Feindschaft und Ränke. Es wurde gezecht, und dann warf man einander die abgenagten Knochen ins Gesicht, das war ein Zeichen guter Laune. Der Skalde – das war so eine Art Spielmann, der aber auch zu den Kriegern gehörte, die den Zug mitgemacht hatten, und die Taten mitangesehen hatte, die er besang – gab ein Lied zum besten, in dem er ihre Kriegs- und Heldentaten verkündete. Jeder Vers schloss mit dem Kehrreim: „Habe vergeht, Geschlechter vergehen, selbst gehst Du dahin, doch nie vergeht ein ruhmreicher Name.“ Dabei schlugen alle an ihre Schilde und hämmerten mit den Messern oder einem Knochen auf die Tischplatte, dass es weithin zu hören war.
Die Wikingerfrau saß auf der Querbank in der offenen Festhalle. Sie trug das Staatskleid und war mit goldenen Armringen und großen Bernsteinperlen geschmückt; der Skalde erwähnte auch ihrer in seinem Sange, sprach von dem goldenen Schatz, den sie ihrem reichen Gemahl zugebracht hätte, und dieser war von Herzen fröhlich über das schöne Kind, das er nur bei Tage in all seiner Wohlgestalt gesehen hatte. Die Wildheit, die sich bei ihm zeigte, gefiel ihm gerade. Sie könne, so meinte er, eine gewaltige Schildjungfrau werden, die einen Kampf wohl bestünde. Sie würde nicht mit der Wimper zucken, wenn eine geübte Hand ihr im Scherze mit scharfem Schwerte die Augenbrauen abtrennte.
Die Metkanne wurde geleert und neue aufgefahren. Es wurde gewaltig gezecht zu damaliger Zeit, es waren Leute, die wohl einen Tropfen vertragen konnten. Das Sprichwort lautete damals: „Das Vieh weiß, wenn es von der Weide gehen muss, doch ein unkluger Mann kennt nicht das Maß seines Magens.“ Ja, das wusste man, aber Wissen und Handeln, jedes Ding zu seiner Zeit. Man wusste auch, dass man „des Freundes satt wird, ist man zu lange in seinem Haus.“ Aber man blieb doch hier, Fleisch und Met sind gut Ding. Es ging lustig her, und des Nachts schliefen die Sklaven in der warmen Asche, tauchten die Finger in den fetten Ruß und leckten sie ab. Das waren gute Zeiten.
Noch einmal in diesem Jahre zog der Wiking aus, ungeachtet der nahen Herbststürme. Er ging mit seinen Mannen zu Britlands Küsten, „das sei ja nur übers Wasser,“ sagte er. Sein Weib blieb mit ihrem kleinen Mädchen zurück, und es war gewiss, dass die Pflegemutter bald die arme Kröte mit den frommen Augen und den tiefen Seufzern fast mehr liebte als die Schönheit, die kratzte und um sich biss.
Die rauen, nassen Herbstnebel, die „Vögel-Mundlos“, die die Blätter abnagen, legten sich über Wald und Heide, und der „Vogel Federlos“, der Schnee, kam gleich hinterher geflogen; der Winter war auf dem Wege. Die Spatzen belegten das Storchnest mit Beschlag und nörgelten auf ihre Art an der abwesenden Herrschaft herum.
Wo war das Storchpaar mit all seinen Jungen?
Die Störche waren nun im Lande Ägypten, wo die Sonne so warm scheint, wie bei uns an warmen Sommertagen. Tamarinden und Akazien blühten ringsum, und Mohameds Mond strahlte blank von den Kuppeln der Moscheen. Auf den schlanken Türmen saß manch Storchpaar und ruhte nach der langen Reise. Ganze Scharen hatten auf den mächtigen Säulen und zerbrochenen Tempelbogen vergessener Stätten genistet; Dattelpalmen erhoben ihre dachartigen Wipfel wie Sonnenschirme, und die weißgrauen Pyramiden standen wie Schattenrisse in der klaren Luft vor der Wüste, wo der Strauß zeigte, dass er seine Beine zu gebrauchen verstand, und der Löwe saß und mit großen klugen Augen die Marmorsphinx betrachtete, die halb vom Sande begraben liegt. Das Wasser des Nils war zurückgetreten. Das ganze Flussbett wimmelte von Fröschen, und für die Storchfamilie war dies der schönste Anblick in diesem Lande. Die Jungen glaubten, es sei eine Augentäuschung, so ohnegleichen fanden sie das Ganze.
„So ist es hier immer in unserem warmen Lande“ sagte die Storchmutter, und es kribbelte den Kleinen im Magen.
„Bekommen wir noch mehr zu sehen?“ sagten sie, „sollen wir noch viel, viel weiter ins Land hinein?“
„Da gibt’s nichts weiter zu sehen!“ sagte die Storchmutter; „hinter dem fruchtbaren Uferstrich liegt nur undurchdringlicher Wald, wo die Bäume ineinander wachsen und von stachligen Schlinggewächsen verfilzt sind, nur der Elefant mit seinen plumpen Füßen kann sich dort einen Weg bahnen. Die Schlangen dort sind uns zu groß und die Eidechsen zu flink. Wollt Ihr aber in die Wüste, so bekommt ihr Sand in die Augen, das heißt, wenn es fein zugeht. Geht es aber grob zu, so kommt ihr in eine Sandhose. Nein, hier ist es am besten. Hier sind Frösche und Heuschrecken. Hier bleibe ich und Ihr mit.“
Und sie blieben; die Alten saßen in ihrem Neste auf dem schlanken Minarett, pflegten der Ruhe und hatten genug damit zu tun, ihre Federn zu glätten und mit dem Schnabel die roten Strümpfe zurechtzuzupfen. Ab und an reckten sie die Hälse, grüßten gravitätisch und hoben die Köpfe mit der hohen Stirn und den feinen, glatten Federn, und ihre braunen Augen leuchteten klug. Die Storchfräulein gingen gravitätisch im saftigen Schilfe umher, lugten heimlich zu den jungen Störchen hinüber, machten Bekanntschaften und verschluckten bei jedem dritten Schritt einen Frosch oder schwenkten eine kleine Schlange hin und her; das nähme sich gut aus, fanden sie, und schmecken tat es auch. Die jungen Männer fingen Händel an, pufften einander mit den Flügeln, schlugen mit den Schnäbeln um sich, ja stachen sich wohl sogar blutig, und dann verlobte sich hier einer und da eine, das war ja schließlich auch der Sinn des Lebens. Und sie bauten Nester und gerieten sich dabei aufs neue in die Haare, denn in den heißen Ländern ist man gar hitzig, aber vergnügt ging es doch zu, besonders den Alten machte es Spaß. Die eigenen Kinder kleidet eben alles. Jeden Tag schien hier die Sonne, jeden Tag gab es vollauf zu essen, man konnte nur an Lust und Freude denken. – Aber in dem reichen Schloss des ägyptischen Hauswirts, wie sie ihn nannten, hatte die Freude keine Stätte.
Der reiche, mächtige Herr lag auf dem Ruhebett, steif in allen Gliedern und ausgestreckt wie eine Mumie, mitten in dem große Saal mit den prächtig bemalten, farbigen Wänden. Verwandte und Diener standen um ihn her, tot war er nicht; dass er lebte, konnte man auch füglich nicht sagen. Die rettende Moorblume aus den nördlichen Ländern, die gesucht und gepflückt werden musste von der, die ihn am herzlichsten liebte, ward ihm nicht gebracht. Seine junge schöne Tochter, die im Schwanenkleide über Meer und Land weit zum hohen Norden hinauf geflogen war, sollte niemals mehr zurückkehren. „Sie ist tot und fort!“ hatten die beiden heimgekehrten Schwanenjungfrauen gemeldet sie hatten sich eine ganze Geschichte ausgedacht, die sie nun erzählten:
„Wir flogen alle drei hoch oben in der Luft, als uns ein Jäger sah und seinen Pfeil abschoss. Er traf unsere junge Freundin, und langsam ihr Fahrwohl singend glitt sie wir ein schwebender Schwan mitten in einen Waldsee hinab. Dort am Ufer unter einer duftenden Hängebirke begruben wir sie. Doch sie ist gerächt. Feuer banden wir unter die Flügel der Schwalbe, die unter dem Schilfdach des Jägers nistet, es zündete, das Haus loderte in Flammen auf, und er verbrannte darin. Weit hinaus über den See bis zu der hängenden Birke leuchtete es, wo sie als Erde in der Erde ruht. Niemals mehr kehrt sie zurück nach Ägypten.“
Dann weinten die beiden, und der Storchvater, der die Geschichte mit anhören musste, klapperte mit dem Schnabel, dass es schallte.
„Lüge und Erfindung“ sagte er. „Ich hätte die größte Lust, ihnen meinen Schnabel in die Brust zu jagen.“
„Und ihn dabei abzubrechen!“ sagte die Storchmutter. „Dann wirst Du ja recht hübsch aussehen! Erst denk an Dich selbst und dann an Deine Familie; alles andere kommt erst in zweiter Reihe.“
„Ich will mich doch morgen an den Rand der offenen Kuppel setzen, wenn sich alle die Gelehrten und Weisen versammeln, um über den Kranken zu beraten, vielleicht kommen sie dann der Wahrheit etwas näher.“
Und die Gelehrten und Weisen kamen zusammen und sprachen viel, sprachen lang und breit, und der Storch konnte nicht daraus klug werden. – Für den Kranken kam auch nichts dabei heraus, auch nicht für die Tochter im Wildmoor, aber trotzdem können wir ja ein wenig zuhören, man muss sich ja sonst auch so vielerlei mit anhören.
Das Richtigste wird jetzt sein, auch zu hören und zu wissen, was dem vorausgegangen war, dann sind wir besser im Bilde, wenigstens ebenso gut wie der Storchvater.
„Liebe gebiert das Leben. Die höchste Liebe gebiert das höchste Leben. Nur durch Liebe ist Rettung für sein Leben zu gewinnen!“ war gesagt worden, und das wäre außerordentlich klug und gut gesagt, versicherten die Gelehrten.
„Das ist ein schöner Gedanke“ sagte auch der Storchvater sofort.
„Ich verstehe ihn nicht richtig!“ sagte die Storchmutter, „und das ist nicht mein Fehler, sondern der des Gedankens, doch das kann mir auch gleichgültig bleiben, ich habe an mehr zu denken!“
Darauf hatte sich zwischen den Gelehrten eine lange und tiefsinnige Diskussion über die Liebe entsponnen, welche Unterschiede es darin gab, Liebe, die Verliebte fühlen, Liebe zwischen Eltern und Kindern, zwischen Licht und Pflanzen – es war so weitläufig und gelehrt auseinandergesetzt, dass es dem Storchvater unmöglich wurde, weiter zu folgen, geschweige denn, es zu wiederholen. Er wurde ganz gedankenvoll, schloss die Augen halb zu und stand noch einen ganzen Tag danach auf einem Bein, er hatte zu schwer an seiner Gelehrsamkeit zu balzen.
Doch eins verstand der Storchvater, denn er hatte die geringen wie die vornehmsten Leute aus Herzensgrund seufzen hören, dass es ein großes Unglück für viele Tausende und gleichzeitig für das Land sei, dass dieser Mann krank danieder läge und nicht wieder genesen könne: Wohltat und Segen würde es bedeuten, wenn er seine Gesundheit zurückerhielte. „Aber wo wächst die Blume, die ihm die Gesundheit wiedergeben kann?“ Danach hatten alle gefragt, in gelehrten Schriften, blinkenden Sternbildern, in Wetter und Wind hatten sie es zu erforschen gesucht, alle Umwege waren sie gegangen, um es herauszufinden, und zuletzt hatten die Gelehrten und Weisen, wie gesagt, dies eine herausbekommen: „Die Liebe gebiert Leben, Leben für den Vater“, und damit hatten sie mehr gesagt, als sie selbst verstanden. Sie wiederholten und schrieben es als Rezept auf: „Liebe gebiert Leben.“ Aber wie dies Ding zubereitet werden müsse, ja, da hatte die Sache ihren Haken. Zuletzt wurden sie darüber einig, dass die Hülfe von der Prinzessin kommen müsse, von ihr, die mit ganzer Seele und von ganzem Herzen ihren Vater liebte. Man fand endlich auch heraus, wie es zustande gebracht werden müsse, aber darüber waren Jahr und Tag vergangen. Sie solle in der Nacht nachdem der Neumond zum ersten Male untergegangen wäre, sich hinaus zu der Marmorsphinx in der Wüste begeben, den Sand von einer Tür am Fußende fortscharren, und dort durch den langen Gang gehen, der ins Innere einer der großen Pyramiden führt, wo ein mächtiger König aus alter Zeit, von Pracht und Herrlichkeit umgeben, in seiner Mumienhülle läge. Hier sollte sie ihr Haupt zu dem Toten hinabbeugen, dann würde ihr offenbart werden, wie Leben und Rettung für ihren Vater zu gewinnen wären.
Alles dies hatte sie ausgeführt und im Traume erfahren, dass sie aus dem tiefen Moor droben im dänischen Lande, die Stelle war ganz genau bezeichnet, die Lotosblume heimbringen müsse, die in der Tiefe des Wassers ihre Brust berühre. Dann könne er gerettet werden.
Und deshalb flog sie im Schwanenkleid vom Lande Ägypten zum Wildmoor hinauf. Seht, alles dies wussten Storchvater und Storchmutter und wir wissen es nun genauer, als wir es vorher wussten. Wir wissen, dass der Moorkönig sie zu sich herabzog, wissen, dass sie für die Ihren daheim tot und verschollen war; nur der Weiseste und die Storchmutter sagten noch immer: „Sie wird sich schon retten!“ Und darauf wollte man warten, denn etwas Besseres wusste man nicht.
„Ich glaube, ich mause den beiden bösen Prinzessinnen die Schwanenkleider“ sagte der Storchvater. „Dann können sie doch nicht zum Wildmoor und noch mehr Übel anrichten; die Schwanenkleider selbst verstecke ich dort oben, bis man einmal Verwendung für sie findet.“
„Wo oben willst Du sie denn verstecken?“ fragte die Storchmutter.
„In unserem Nest beim Wildmoor“ sagte er. „Ich und unsere jüngsten Kinder könnten uns gegenseitig helfen, sie mitzunehmen. Und werden sie uns zu beschwerlich, so gibt es genug Orte unterwegs, wo sie bis zum nächsten Zuge versteckt bleiben können. Ein Schwanenkleid wäre wohl genug für sie, aber zwei sind besser; es ist immer gut, auf Reisen in den nordischen Ländern gut versehen zu sein.“
„Du wirst keinen Dank ernten!“ sagte die Storchmutter. „Aber Du bist ja der Herr. Außer der Brutzeit habe ich ja nichts zu sagen.“
In der Wikingerburg am Wildmoor, wohin die Störche im Frühjahr zogen, hatte man dem kleinen Mädchen inzwischen einen Namen gegeben; Helga war sie genannt worden, doch der Name war allzu zart für einen Sinn, wie er dieses schöne Mädchen hier erfüllte. Monat für Monat wuchs sie kräftiger heran. Nach einigen Jahren, während die Störche stets die gleiche Reise im Herbst nach dem Nil im Frühjahr nach dem Wildmoor machten, wurde aus dem kleinen Kinde ein großes Mädchen, und ehe man sich dessen versah, war es zu der schönsten Jungfrau von sechzehn Jahren erblüht. Doch in der schönen Schale steckte ein harter, bitterer Kern; sie war weit wilderen Sinnes als die anderen Menschen dieser harten, finsteren Zeit.
Es war ihr eine Lust, ihre weißen Hände in das dampfende Blut der zum Opfer geschlachteten Pferde zu tauchen; sie zerbiss in ihrer Wildheit den Hals des schwarzen Hahns, den der Opferpriester schlachten sollte, und zu ihrem Pflegevater sagte sie in vollem Ernste:
„Käme Dein Feind, schlänge ein Seil um die Balken unseres Daches und höbe es von der Kammer, in der Du schliefest, ich würde Dich nicht wecken, ob ich es auch könnte. Ich würde es nicht hören, so saust mir noch immer das Blut im Ohr, auf das Du mir vor Jahren eine Ohrfeige gabst, Du! Ich vergesse nicht.“
Aber der Wiking achtete ihrer Worte nicht, er war, ebenso wie alle anderen, von ihrer Schönheit betört, wusste auch nichts davon, wie Klein-Helga Gestalt und Sinn bei Tag und Nacht wechselte. Ohne Sattel saß sie wie festgewachsen auf dem Pferde, das in wildem Lauf daherjagte, sprang auch nicht ab, wenn es sich mit den anderen bösartigen Pferden herumbiss. Oft warf sie sich mit allen Kleidern vom Abhange herab in des Fjorde starken Strom und schwamm dem Wiking entgegen, wenn sein Boot dem Lande zusteuerte. Von ihrem herrlichen langen Haar schnitt sie die längste Locke ab und flocht daraus eine Sehne für ihren Bogen: „Selbst getan, wohl getan!“ sagte sie.
Die Wikingerfrau hatte wohl für die damalige Zeit und Gewohnheit einen festen Willen und ein starkes Gemüt, aber gegen die Tochter gesehen, war sie ein sanftes, ängstliches Weib: sie wusste ja auch, dass ein Zauber über dem entsetzlichen Kinde ruhte.
Nur allzu oft kam es Helga in den Sinn, sich voll böser Gelüste, gerade wenn die Mutter auf dem Söller stand oder in den Hof hinaustrat, auf den Brunnenrand zu setzen, mit Armen und Beinen um sich zu schlagen und sich darauf in das enge, dunkle Brunnenloch fallen zu lassen, wo sie nach Froschart untertauchte und wie der an die Oberfläche kam, um dann katzengleich wieder empor zu klettern wassertriefend durch den Festsaal zu laufen, so dass die grünen Blätter, mit denen der Fußboden bestreut war, in dem rinnenden Wasser schwammen.
Doch ein Band gab es, das Klein-Helga hielt, das war die Abenddämmerung. Da wurde sie still und gleichsam nachdenklich, ließ sich gebieten und leiten. Es war, als ob ein inneres Gefühl sie zur Mutter zöge, und wenn die Sonne sank und die innere und äußere Verwandlung vor sich ging, saß sie still und traurig, zur Froschgestalt zusammengeschrumpft da. Der Körper war nun weit größer als der dieses Tiers, aber gerade dadurch noch abschreckender. Sie sah wie ein abscheulicher Zwerg aus mit einem Froschkopf und Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Es lag etwas so Betrübtes in den Augen, mit denen sie umherblickte; eine Stimme hatte sie nicht, nur ein hohles Quaken gab sie mitunter von sich, ganz wie ein Kind, das im Schlafe schluchzt. Da konnte die Wikingerfrau sie wohl auf ihren Schoß nehmen, die hässliche Gestalt vergessen und nur die traurigen Augen sehen; mehr als einmal sagte sie dann: „Fast möchte ich wünschen, dass Du immer mein stummes Froschkind wärest; für mich bist Du hässlicher anzusehen, wenn Du nach außen hin schön bist.“
Und sie schrieb Runen gegen Zauber und Krankheit und warf sie über das schlimme Geschöpf, aber die Besserung trat nicht ein.
„Man sollte nicht glauben, dass sie so klein gewesen ist und in einer Seerose hat liegen können!“ sagte der Storchvater. „Nun ist sie ein ganzer Mensch und ihrer ägyptischen Mutter leibhaftiges Ebenbild. Nie haben wir die Mutter seitdem gesehen! Sie konnte sich nicht retten, wie Du und der Gelehrteste da drüben glaubtet. Ich bin nun Jahr aus Jahr ein kreuz und quer über das Wildmoor hingeflogen, aber sie gab nie ein Lebenszeichen von sich. Ja, ich kann es Dir ja gestehen, ich bin in den Jahren, wo ich hier einige Tage vor Dir ankam, um das Nest auszubessern und ein und das andere in Stand zu setzen, jedes Mal eine ganze Nacht lang wie eine Eule oder Fledermaus unaufhörlich über das offene Wasser hingeflogen, aber ohne jeden Gewinn. Die Schwanenkleider, die ich und die Jungen vom Nil hier herauf geschleppt haben – beschwerlich genug war es, in drei Reisen haben wir es einteilen müssen – liegen auch noch unbenützt da. Schon so lange Jahre haben sie nun auf dem Boden des Nestes herumgelegen, und geschieht hier einmal ein Feuerunglück, und das Blockhaus brennt ab, so sind sie doch weg.“
„Und unser gutes Nest ist weg!“ sagte die Storchmutter, „daran denkst Du weniger als an das Federzeug und die Moorprinzessin! Du kannst ja zu ihr hinabtauchen und gleich unten im Sumpfe bleiben! Du bist gegenüber Deiner eigenen Familie ein schlechter Vater, das habe ich gesagt, seit ich das erste Mal auf Eiern lag. Wenn nur nicht wir oder unsere Jungen von der tollen Wikingerdirne einmal einen Pfeil in die Flügel gejagt bekommen! Sie weiß ja nicht, was sie tut! Wir sind doch länger hier zuhause als sie, das sollte sie bedenken; wir vergessen nie unsere Pflichten, wir geben jedes Jahr unsere Abgaben: eine Feder, ein Ei und ein Junges, wie es billig ist. Glaubst Du, wenn sie draußen ist, dass ich hinuntergehen mag wie in alten Tagen, und wie ich es in Ägypten tat, wo ich mit den Leuten halb kameradschaftlich umgehe, und, ohne mir doch etwas zu vergeben, in Schüsseln und Töpfe hineingucke? Nein, ich bleibe hier oben sitzen und ärgere mich über sie – so ein Balg! Und über Dich ärgere ich mich auch! Du hättest sie in der Wasserrose liegen lassen sollen, dann wäre sie fort gewesen!“
„Du bist viel achtenswerter als Deine Rede“ sagte der Storchvater – „ich kenne Dich besser, als Du Dich selbst kennst!“
Und dann machte er einen Sprung, zwei schwere Flügelschläge, streckte die Beine nach hinten und flog. oder besser, segelte davon, ohne die Schwingen zu bewegen. Als er ein gutes Stück fort war, machte er noch einen kräftigen Schlag, die Sonne schimmerte auf den weißen Federn, Hals und Kopf streckten sich voran. Kraft und Schwung kamen beim Fluge zum Ausdruck.
„Er ist noch immer der Herrlichste von allem“ sagte Storchmutter, „aber ich sage es ihm nicht.“
Schon zeitig während der Herbsternte kam der Wiking mit Beute und Gefangenen heim. Unter diesen war ein junger christlicher Priester, einer der Männer, die die alten nordischen Götter verfolgten. Oft in letzter Zeit war in der Halle und dem Frauengemach über den neuen Glauben gesprochen worden, der sich weit in allen südlichen Ländern verbreitet hatte, ja sogar durch den heiligen Ansgarius schon bis in den Norden vorgedrungen war. Selbst die kleine Helga hatte von dem Glauben an den weißen Christus gehört, der aus Liebe zu den Menschen sich selbst geopfert hatte, um sie zu erlösen; das war ihr, wie man zu sagen pflegt, zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus gegangen. Für das Wort Liebe schien sie nur Empfindung zu haben, wenn sie in elender Froschgestalt zusammengeschrumpft in der verschlossenen Kammer saß. Aber die Wikingerfrau hatte aufmerksam gelauscht und sich seltsam ergriffen bei den Geschichten und Sagen, die über den Sohn des einzigen wahren Gottes umliefen, gefühlt.
Die vom Zuge heimgekehrten Männer hatten von den prächtigen Tempeln aus köstlich behauenen Steinen erzählt, die für ihn errichtet worden waren, dessen Gebot die Liebe war. Ein paar schwere, goldene Gefäße, kunstvoll geformt und ganz und gar ans reinem Golde, denen würzige Gerüche entströmten, waren unter der heimgebrachten Beute. Es waren Räucherfässer, die die christlichen Priester vor dem Altar schwangen, auf dem niemals Blut floss sondern Wein, und dieser und das geweihte Brot verwandelten sich in seinen Leib und sein Blut, die hingegeben waren für noch ungeborene Geschlechter.
In des Blockhauses tiefem steinernen Keller war der junge Gefangene, der christliche Priester, untergebracht und mit Bastschnüren an Händen und Füßen gefesselt worden. „Herrlich wie Baldur anzusehen“ war er, wie die Wikingerfrau sagte, und sie wurde von seiner Not gerührt; aber Jung-Helga verlangte, dass man eine Schnur durch seine Kniesehnen zöge und ihn an den Schwänzen der wilden Stiere festbände.
„Dann würde ich die Hunde loslassen! Hui, davon über Sumpf und Moor nach der Heide! Das wäre ein lustiger Anblick, aber noch lustiger, ihm bei dieser Fahrt folgen zu können!“
Doch der Wiking wollte nicht, dass er diesen Tod erleide, doch sollte er als Verleugner und Verfolger der hohen Götter morgigen Tages auf dem Blutsteine im Hain geopfert werden. Es war das erste Mal, dass hier ein Mensch geopfert wurde.
Jung-Helga bat, ob sie die Götterbilder und das Volk mit seinem Blute besprengen dürfe; sie wetzte ihr blankes Messer, und da gerade einer der großen bissigen Hunde, deren es genug auf dem Hofe gab, an ihr vorbei lief, stach sie ihm das Messer in die Seite: „Das geschieht, um seine Schärfe zu erproben“ sagte sie, und die Wikingerfrau sah betrübt auf das wilde, bösartige Mädchen. Und als die Nacht kam und die Tochter sich an Leib und Seele verwandelte, sprach sie zu ihr mit des Kummers warmen Worten, die tief aus ihrer Seele drangen.
Die hässliche Kröte mit dem verzauberten Leib stand vor ihr und heftete die braunen, traurigen Augen auf sie, hörte zu und schien mit menschlicher Vernunft zu verstehen.
„Niemals, selbst nicht zu meinem Gemahl, ist mir über die Zunge gekommen, um dessen willen ich zwiefach durch Dich leide!“ sagte die Wikingerfrau. „Es ist mehr Kummer über Dich in meinem Herzen, als ich selbst je geglaubt hätte. Groß ist die Liebe einer Mutter, doch in Deiner Seele wohnt keine Liebe. Dein Herz ist ein kalter Schlammklumpen! Woher kommst Du doch in mein Haus!“
Da erzitterte das hässliche Geschöpf ganz seltsam, es war, als berührten diese Worte ein unsichtbares Band zwischen Körper und Seele, und es erschienen große Tränen in seinen Augen.
„Deine harte Zeit wird noch einmal kommen!“ sagte die Wikingerfrau. „Furchtbar wird sie werden, auch für mich! Besser wärest Du als Kind auf der Landstraße ausgesetzt worden, und die Nachtkälte hätte Dich in den Tod gelullt!“ Und die Wikingerfrau vergoss bittere Tränen und ging zornig und betrübt hinter den Fellvorhang, der von einem Balken lose herabhing und die Stube teilte.
Einsam saß die zusammengeschrumpfte Kröte im Winkel. Lautlose Stille war in der Stube, aber nach kurzer Zeit entrang sich ihr ein halberstickter Seufzer; es war, als ob unter Schmerzen neues Leben in ihrem Herzen geboren werde. Sie tat einen Schritt vorwärts, lauschte, tat wieder einen Schritt und ergriff nun mit unbehilflichen Händen die schwere Stange, die vor die Tür geschoben war. Leise schob sie sie zur Seite, still nahm sie das Holzstück fort, das unter der Klinke steckte und ergriff die brennende Lampe, die in der Vorkammer stand. Es war, als gäbe ihr ein starker Wille ungeahnte Kräfte. Sie zog den eisernen Bolzen aus der vergitterten Tür und schlich sich zu dem Gefangenen hinab. Er schlief. Sie berührte ihn mit ihrer kalten, klammen Hand, und er erwachte. Als er die hässliche Gestalt erblickte, schauderte er wie vor einer bösen Erscheinung zurück. Sie zog ihr Messer, durchschnitt seine Fesseln und winkte ihm, ihr zu folgen.
Er rief heilige Namen, schlug das Kreuzeszeichen, und als die Gestalt unverändert vor ihm stand, sagte er: „Selig ist, wer gegen die Geringen verständig handelt, der Herr wird ihn erretten am Tage der Trübsal. – Wer bist Du? Woher dies Äußere eines Tieres und doch von barmherzigem Tun?“
Die Krötengestalt winkte, führte ihn hinter schützenden Decken durch einen einsamen Gang zum Stalle hinaus und zeigte auf ein Pferd; er schwang sich hinauf, doch auch sie hüpfte vor ihm aufs Pferd und hielt sich an seiner Mähne fest. Der Gefangene verstand sie, in hurtigem Trab ritten sie einen Weg entlang, den er nie allein gefunden haben würde, und kamen in die offene Heide hinaus.
Er vergaß ihre hässliche Gestalt und fühlte nur die durch dies Ungetüm bewiesene Gnade des Herrn. Fromme Gebete sprach er und stimmte heilige Lieder an. Da zitterte sie; war es des Gebetes und des Gesanges Macht, die auf sie einwirkten, oder waren es die Kälteschauer des beginnenden Morgens? Was mochte sie wohl empfinden. Sie hob sich hoch empor, wollte das Pferd anhalten und abspringen. Doch der christliche Priester hielt sie mit aller Kraft fest, sang laut einen Psalm, als könne er den Zauber lösen, der sie in die hässliche Froschgestalt gebannt hielt, und das Pferd jagte wilder davon. Der Himmel wurde rot, der erste Sonnenstrahl drang durch die Wolken, und durch den klaren Lichtstrahl geschah die Verwandlung, sie wurde wieder die junge Schönheit mit dem dämonisch bösen Sinn; er hielt das schönste junge Weib in seinen Armen. Darüber entsetzte er sich, sprang vom Pferde und hielt es an, indem er glaubte, einem neuen vernichtenden Blendwerk zum Opfer zu fallen. Aber Jung-Helga war ebenfalls mit einem Sprunge auf dem Erdboden. Das kurze Kinderröckchen reichte ihr kaum bis ans Knie. Sie riss das scharfe Messer aus ihrem Gürtel und stürzte sich auf den Überraschten.
„Wenn ich Dich fasse“ rief sie, „wenn ich Dich fasse, renne ich Dir das Messer in den Leib, Du bist ja bleich wie Stroh, Bartloser Sklave.“
Sie drang auf ihn ein; sie kämpften einen schweren Kampf, aber es war, als ob eine unsichtbare Kraft dem christlichen Manne Stärke gäbe. Er hielt sie fest, und der alte Eichbaum neben ihm kam ihm zu Hülfe und band gleichsam mit seinen halb aus dem Erdreich gelösten Wurzeln ihre Füße, die sich darin verwickelt hatten. Dicht dabei sprudelte eine Quelle. Er sprengte ihr das frische Wasser über Brust und Antlitz, gebot dem unreinen Geiste, von ihr zu weichen und segnete sie nach christlichem Brauche, aber das Wasser der Taufe hat keine Kraft, wo nicht des Glaubens Quelle auch von innen her strömt.
Und doch blieb er auch hier der Überlegene; ja mehr als Mannesstärke gegen die feindliche böse Macht lag in seiner Tat, die das Mädchen gleichsam benahm. Sie ließ die Arme sinken, sah mit verwunderten Augen und erbleichenden Wangen auf diesen Mann, der ihr wie ein mächtiger Zauberer erschien, stark an Mächten und geheimer Kunst. Finstere Runen warf er über sie, schwarze Zeichen waren es, die er in die Luft schrieb! Nicht vor der blinkenden Axt oder dem scharfen Messer, hätte er es vor ihren Augen gezückt, würde sie mit der Wimper gezuckt haben, aber sie tat es, als er des Kreuzes Zeichen auf ihre Brust und Stirne schrieb. Wie ein zahmer Vogel saß sie, das Haupt auf die Brust gebeugt.
Sanft sprach er nun zu ihr von dem Liebeswerke, das sie gegen ihn in dieser Nacht geübt, als sie in der garstigen Krötenhaut zu ihm hinabgekommen war, seine Banden gelöst und ihn dem Licht und Leben wiedergegeben hatte. Sie wäre auch gebunden, mit stärkeren Banden gebunden, als er es gewesen, doch auch sie solle, und zwar durch ihn, dem Licht und Leben wieder zugeführt werden. Zu dem heiligen Ansgarius wolle er sie bringen, dort, in seiner christlichen Stadt, würde der Zauber von ihr genommen werden. Doch nicht vor sich auf dem Pferde, ob sie auch gutwillig folgen würde, wagte er sie dorthin zu führen.
„Hinter mir musst Du auf dem Pferde sitzen, nicht vor mir. Deiner zauberischen Schönheit eignet die Macht, die das Böse ausstrahlt; ich fürchte sie – und doch werde ich darüber siegen in Christo.“
Er beugte seine Knie und betete fromm und innig, da war es, als würde die stille Waldnatur zu einer heiligen Kirche geweiht. Die Vögel begannen zu singen, als gehörten sie mit zu der neuen Gemeinde, die wilden Krauseminzen dufteten, als wollten sie Ambra und Räucherwerk ersetzen, und laut verkündete er die Worte der Schrift: „Das Licht von oben hat uns heimgesucht, um zu leuchten denen, die in der Finsternis wandeln, und ihre Füße zu leiten auf dem Wege des Friedens.“
Und er sprach von der Sehnsucht der Geschöpfe, und während er sprach, stand das Pferd, das sie in wildem Lauf getragen hatte, still und scharrte zwischen den langen Brombeerranken, so dass die reifen, saftigen Beeren in Klein-Helgas Schoß fielen, sich selbst zur Erquickung anbietend.
Geduldig ließ sie sich auf den Rücken des Pferdes heben und saß dort wie eine Schlafwandlerin, die nicht wacht, aber auch nicht wandelt. Der christliche Mann band zwei Zweige mit Bastfäden so zusammen, dass sie ein Kreuz bildeten, das hielt er hoch in der Hand, während sie durch den Wald ritten. Der wurde dichter und dichter, der Weg schmaler, die Schlehenbüsche standen vor ihnen wie Schlagbäume, so dass sie um sie herum reiten mussten. Die Quelle wurde nicht zum rinnenden Bache, sondern zu einem stehenden Sumpf, auch um ihn musste man herumreiten. Aber Stärke und Erquickung lagen in der frischen Waldluft, und eine nicht geringere Kraft war in den Worten der Milde, die voller Glauben und christlicher Liebe erklangen, von dem innigen Wunsche beseelt, die schon Überwundene zu Licht und himmlischem Leben empor zu fahren.
Der Tropfen, heißt es ja, höhlt den harten Stein. Die Meereswogen schleifen mit der Zeit die kantigen Felsblöcke rund, der Tau der Gnade, der zum ersten Male auf Klein-Helga nieder rann, höhlte das Harte, rundete das Scharfe; wohl war es noch nicht zu erkennen, sie selbst wusste es nicht; was weiß der Keim in der Erde bei der erquickenden Feuchtigkeit und dem warmen Sonnenstrahl davon, dass er Pflanze und Blüte in sich trägt.
Wie der Gesang der Mutter unmerklich in der Seele des Kindes haftet, und es die einzelnen Worte nachlallt, ohne sie zu verstehen, bis sich diese später in den Gedanken sammeln und sichten, so wirkte auch hier das schöpferische Wort der Allmacht.
Sie ritten aus dem Walde hinaus, hin über die Heide, wieder durch pfadlose Wälder; da trafen sie gegen Abend auf Räuber.
„Wo hast Du das schöne Püppchen gestohlen?“ riefen sie, hielten das Pferd an und rissen die beiden Reiter herunter, denn sie waren in großer Überzahl. Der Priester hatte keine andere Waffe als das Messer, das er Klein-Helga entwunden hatte, damit stieß er um sich. Einer der Räuber schwang seine Axt, doch der junge Christ sprang glücklich zur Seite, sonst wäre er erschlagen worden; nun fuhr die Schneide der Axt tief in den Hals des Pferdes, dass das Blut herausströmte und das Tier zu Boden stürzte. Da fuhr Klein-Helga, wie aus tiefen Gedanken geweckt, empor und warf sich über das stöhnende Tier. Der christliche Priester stellte sich als Schutz und Schirm vor sie, aber einer der Räuber schwang seinen schweren Eisenhammer gegen seine Stirn, so dass sie zerschmettert wurde und Blut und Hirn rings umher spritzten. Tot fiel er zur Erde nieder.
Die Räuber ergriffen Klein-Helga an ihrem weißen Arm; da, im gleichen Augenblick, ging die Sonne unter, und als der letzte Sonnenstrahl erlosch, verwandelte sie sich in eine hässliche Kröte. Das weißlich-grüne Maul klaffte über das halbe Gesicht, die Arme wurden dünn und schleimig, eine breite Hand mit Schwimmhäuten öffnete sich fächerförmig; – da ließen sie die Räuber entsetzt fahren. Sie stand als hässliches Untier mitten unter ihnen, und nach Froschart hüpfte sie empor, höher als sie selbst war, und verschwand im Dickicht. Da merkten die Räuber, dass sie es mit Lokes böser List oder geheimen Zauberkünsten zu tun hatten, und voller Entsetzen eilten sie davon.
Der Vollmond war schon aufgegangen und spendete Glanz und Licht, da kroch aus dem Gebüsch, in des Frosches hässlicher Haut, Klein-Helga hervor. Sie blieb bei dem Leichnam des christlichen Priesters und ihrem getöteten Renner stehen und sah sie mit Augen an, die zu weinen schienen. Der Froschkopf gab einen Laut von sich, der wie das Quäken eines Kindes, das in Weinen ausbricht, klang. Bald warf sie sich über den einen, bald über das andere, schöpfte Wasser mit ihren Händen, die durch die Schwimmhäute größer und hohler wurden, und goss es über sie aus. Aber tot waren sie und tot sollten sie bleiben. Das begriff sie. Bald konnten wilde Tiere kommen und ihre Leiber fressen; nein, das durfte nicht geschehen! Deshalb grub sie die Erde auf, so tief sie es vermochte. Ein Grab wollte sie für sie bereiten, doch sie hatte zum Graben nur einen harten Zweig und ihre beiden Hände. Aber an ihnen spannten sich zwischen den Fingern die Schwimmhäute. Sie rissen und das Blut floss. Sie sah, dass ihr die Arbeit nicht gelingen werde. Da nahm sie Wasser und wusch damit des Toten Antlitz, bedeckte es mit frischen, grünen Blättern, trug große Zweige zusammen und legte sie über ihn, dann schüttete sie Laub dazwischen, nahm die schwersten Steine, die sie aufheben konnte, legte sie über die toten Körper und verstopfte die Öffnungen mit Moos. Nun glaubte sie, dass der Grabhügel stark und sicher genug sei; aber während der schweren Arbeit war die Nacht vergangen, die Sonne brach hervor – und Klein-Helga stand da in all ihrer Schönheit, mit blutenden Händen und zum ersten Male mit Tränen auf den errötenden jungfräulichen Wangen.
Da war es ihr während der Verwandlung, als bekämpften sich in ihr zwei Naturen. Sie zitterte, schaute sich um, als erwache sie aus einem beängstigenden Traum, schoss dann auf eine schlanke Buche zu, hielt sich fest daran gepresst, um doch eine Stütze zu haben, und dann kletterte sie schnell, in einem Nu, wie eine Katze in die Spitze des Baumes hinauf und klammerte sich dort fest. Da saß sie nun wie ein verängstigtes Eichhörnchen, saß den ganzen Tag in der tiefen Waldeinsamkeit, wo alles stille und tot war. Tot? Nein, da flogen ja ein paar Schmetterlinge umeinander im Spiel oder Streit. Dicht dabei waren auch ein paar Ameisenhaufen, jeder beherbergte mehrere Hundert emsiger Geschöpfchen, die hin und her wimmelten. In der Luft tanzten unzählige Mücken, Schwarm an Schwarm. Scharen von summenden Fliegen, Libellen und andere geflügelte Tierchen jagten vorbei, der Regenwurm kroch aus dem feuchten Boden hervor, Maulwürfe stießen herauf – sonst war es still und tot ringsum, tot, wie man sagt und es versteht. Niemand außer den Hähern beachtete Klein-Helga, sie flogen schreiend um die Spitze des Baumes, auf dem sie saß. In dreister Neugierde hüpften sie auf den Zweigen näher zu ihr heran. Ein Blick ihrer Augen Jagte sie wieder fort – aber klüger wurden sie deshalb doch nicht aus ihr, und sie auch nicht klüger aus sich selbst.
Als der Abend sich näherte und die Sonne zu sinken begann, rief die Verwandlung sie zu neuer Bewegung. Sie ließ sich am Stamme hinabgleiten, und während der letzte Sonnenstrahl erlosch, stand sie wieder da in eines Frosches zusammengeschrumpfter Gestalt mit den zerrissenen Schwimmhäuten an den Händen, doch die Augen erstrahlten nun in einem Schönheitsglanze, wie er kaum früher der schönen Gestalt eigen war. Es waren die sanftesten frommen Mädchenaugen, die hinter der Froschlarve hervorleuchteten, sie zeugten von einer tiefen Seele, einem menschlichen Herzen. Und die schönen Augen weinten viele Tränen, weinten schwere Tränen eines erleichterten Herzens.
Noch immer lag bei dem Grabbügel das aus Zweigen zusammengebundene Kreuz, die letzte Arbeit dessen, der nun tot, dahingegangen war. – Klein-Helga nahm es auf und pflanzte es, der Gedanke kam ihr ganz ohne ihr Zutun, zwischen die Steine über ihm und dem erschlagenen Pferde. In wehmütiger Erinnerung brachen ihre Tränen aufs neue hervor, und in dieser Herzensstimmung ritzte sie das gleiche Zeichen in die Erde rings um das Grab, wahrlich die schönste Einfassung. Während sie mit beiden Händen das Zeichen des Kreuzes machte, fielen die Schwimmhäute wie zerrissene Handschuhe ab, und als sie sich im Quellwasser wusch und verwundert auf ihre feinen, weißen Hände herabsah, machte sie wieder das Zeichen des Kreuzes zwischen sich und den Toten in die Luft. Da erbebten ihre Lippen, da bewegte sich ihre Zunge, und der Name, den sie so oft während des Rittes durch den Wald gesungen und gesprochen vernommen hatte, wurde aus ihrem Munde hörbar. Sie sagte: „Jesus Christus.“
Da fiel die Krötenhaut, und die junge Schönheit stand da; – doch das Haupt neigte sich müde, die Glieder bedurften der Ruhe – sie schlief.
Aber der Schlaf war nur kurz. Um Mitternacht wurde sie geweckt; vor ihr stand das tote Pferd voll strahlenden Lebens, aus seinen Augen und dem verwundeten Halse leuchtete ein Schwacher Schein, und neben ihm zeigte sich der erschlagene christliche Priester. „Schöner als Baldur“ würde die Wikingerfrau gesagt haben, und doch kam er wie in feurigen Flammen.
Es lag ein Ernst in den großen, milden Augen, ein so gerechtes Urteil, ein so durchdringender Blick, dass es gleichsam bis in den tiefsten Herzenswinkel der nun Erprobten drang. Klein-Helga zitterte, und ihre Erinnerung erwachte mit einer Kraft wie am Tage des Jüngsten Gerichts. Alles, was ihr Gutes erwiesen, jedes liebevolle Wort, das ihr gesagt worden war, wurde gleichsam lebendig. Sie erkannte, dass es die Liebe gewesen, die sie hier in den Tagen der Prüfung aufrecht erhalten hatte. Sie sah klar, dass sie nur den Trieben ihrer Stimmungen gefolgt war, selbst aber nichts dazu getan hatte. Alles war ihr gegeben, und alles zu ihrem Besten gefügt worden. Sie beugte sich nieder, demütig und voller Scham vor dem, der in jeder Falte ihres Herzens lesen konnte, und im gleichen Augenblick fühlte sie sich wie von einem Blitzstrahl der Läuterung, dem flammenden Funken des heiligen Geistes durchdrungen.
„Du Tochter des Sumpfes“ sagte der christliche Priester, „aus dem Sumpfe, aus der Erde bist Du gekommen – aus der Erde sollst Du einst auferstehen! Der Sonnenstrahl in Dir gebt, seines Körpers bewusst, zu seiner Quelle zurück, der Strahl, nicht von der Sonne, sondern der Strahl von Gott. Keine Seele soll verloren gehen. Doch lang ist das Zeitliche, die Flucht des Lebens in das Ewige. – Ich komme aus dem Lande des Todes; auch Du musst einmal durch die tiefen Täler in das leuchtende Bergland, wo Gnade und Vollendung wohnen. Ich führe Dich nicht zur christlichen Taufe, erst musst Du den Wasserschild über dem tiefen Grunde des Moors sprengen, die lebendige Wurzel Deines Lebens und Deiner Wiege heraufziehen, erst die Dir zugedachten Taten verrichten, ehe die Weihe kommen darf.“
Und er hob sie auf das Pferd und reichte ihr ein goldenes Räuchergefäß wie das, was sie zuvor in der Wikingerburg gesehen hatte. Ein Duft, gar süß und kräftig, drang daraus hervor. Die offene Wunde auf der Stirn des Erschlagenen leuchtete wie ein strahlendes Diadem. Er nahm das Kreuz vom Grabe, hob es hoch empor, und nun Jagten sie von dannen durch die Lüfte, hin über den rauschenden Wald, über die Hügel hin, in denen einst die Hünen, auf ihren toten Pferden sitzend, begraben worden waren. Und die mächtigen Gestalten erhoben sich, ritten heraus und hielten auf den Spitzen der Hügel. Im Mondschein erstrahlte um ihre Stirnen der breite Goldring mit dem Goldknoten, ihre Mäntel flatterten im Winde. Der Lindwurm, der die Schätze bewachte, erhob sein Haupt und blickte ihnen nach. Das Zwergenvolk guckte aus Hügeln und Ackerfurchen, überall schimmerten ihre roten, blauen und grünen Lichtlein auf, es war ein Gewimmel wie bei den tanzenden Fünkchen in der Asche des verbrannten Papiers.
Hin über Wald und Heide, Bäche und Sümpfe flogen sie bis zum Wildmoor hinauf, das sie in großen Kreisen umschwebten. Der christliche Priester erhob das Kreuz, es leuchtete wie Gold, und von seinen Lippen ertönte der Messgesang. Klein-Helga sang ihn mit, wie das Kind in den Gesang der Mutter einstimmt. Sie schwang das Räucherfass, und ein Altarduft drang daraus hervor, so stark, so wundertätig, dass Schilf und Rohr im Sumpfe erblühten. Alle Keime schossen aus dem tiefen Grunde empor, alles, was Leben hatte, erhob sich, und ein Flor von Wasserrosen breitete sich über das Wasser wie ein gewirkter Blumenteppich. Darauf ruhte ein schlafende“ Weib, jung und schön, Klein-Helga glaubte sich selbst zu sehen, ihr Spiegelbild in dem stillen Gewässer. Es war ihre Mutter, die sie sah, des Moorkönigs Weib, die Prinzessin von den Wassern den Nils.
Der tote christliche Priester gebot, die Schlafende auf das Pferd zu heben, doch es sank unter der Bürde zusammen, als sei sein Leib nur ein Totenlaken, das im Winde flattert. Aber das Zeichen des Kreuzes machte das Luftphantom stark, und alle drei ritten, bis sie festen Boden unter den Füßen fohlten.
Da krähte der Hahn in der Burg des Wiking, und die Geister lösten sich in Nebel auf, die vor dem Winde trieben; aber einander gegenüber standen sich Mutter und Tochter.
„Bin ich es selbst, die ich im tiefen Wasser sehe?“ sagte die Mutter.
„Bin ich es selbst, die ich im blanken Schilde schaue? rief die Tochter aus, und sie näherten sich einander, Brust an Brust, Arm in Arm. Am stärksten schlug das Herz der Mutter, und sie verstand es.
„Mein Kind! Meines eigenen Herzens Blüte! Mein Lotus aus den tiefen Gewässern.“
Und sie umarmte ihr Kind und weinte; diese Tränen waren Klein-Helgas Taufe durch die Liebe.
„Im Schwanenkleid kam ich hierher und warf es ab“ sagte die Mutter. „Ich versank durch den schwankenden Moorboden tief hinein in den schlammigen Sumpf, der sich wie eine Mauer um mich schloss. Doch bald fühlte ich eine frischere Strömung; eine Kraft zog mich tiefer und immer tiefer hinab, ich fühlte die Hand des Schlafes auf meinen Lidern, ich schlief ein, ich träumte – mir war es, als läge ich wieder in Ägypten in der Pyramide, aber vor mir stand noch immer der schwankende Erlenstamm, der mich schon auf der Oberfläche des Moore erschreckt hatte. Ich betrachtete die Risse in der Borke, sie leuchteten farbig und verwandelten sich in Hieroglyphen; es war die Mumienhülle, die ich betrachtete. Da barst sie, und daraus hervor trat der tausendjährige Herrscher in Mumiengestalt, schwarz wie Pech und glänzend wie die Waldschnecke oder der fette schwarze Morast; war es der Moorkönig oder die Mumie der Pyramide, ich wusste es nicht. Er schlang seine Arme um mich, und mir war es, als müsse ich sterben. Dass ich lebte, spürte ich erst wieder, als ich etwas Warmes an meiner Brust fühlte; dort saß ein kleiner Vogel, schlug mit den Flügeln und zwitscherte und sang. Vor meiner Brust flog er aufwärts zu der dunklen, schweren Decke, doch ein langes grünes Band hielt ihn noch bei mir fest. Ich hörte und verstand die Töne seiner Sehnsucht: Freiheit! Sonnenschein. Zum Vater! – Da gedachte ich meines Vaters im sonnigen Lande der Heimat, meines Lebens, meiner Liebe. Und ich löste das Band und ließ ihn fortflattern – zum Vater heim. Seit jener Stunde habe ich nicht mehr geträumt, ich schlief einen Schlaf gar schwer und lang, bis in dieser Stunde Töne und Duft mich aufhoben und erlösten!“
Das grüne Band, das des Vogels Schwinge an das Herz der Mutter knüpfte, wo flatterte es jetzt? Wo hatte man es hingeworfen? Nur der Storch hatte es gesehen; das Band war der grüne Stängel, und die Schleife die leuchtende Blüte, die Wiege des Kindes, das so lieblich herangewachsen war und nun wieder am Herzen der Mutter ruhte.
Und während sie dort Arm in Arm standen, flog der Storchvater in großen Kreisen um sie herum, schlug dann die Richtung nach seinem Neste ein, holte von dort die jahrelang verwahrten Schwanenkleider und warf eines für jede herab. Die Schwanenhaut schmiegte sich um sie, und sie erhoben sich von der Erde als zwei weiße Schwäne.
„Nun können wir miteinander sprechen!“ sagte der Storchvater, „jetzt sprechen wir eine Sprache, mögen auch unsere Schnäbel verschieden zugeschnitten sein! Es trifft sich so glücklich wie nur irgend möglich, dass Ihr heute noch kommt, denn morgen wären wir fortgewesen, Mutter, ich und die Jungen. Wir fliegen nach Süden. Ja, schaut mich nur an, ich bin ja ein alter Freund aus dem Nillande, und Mutter auch, es steckt ein goldenes Herz hinter ihrem rauen Schnabel. Sie hat immer geglaubt, dass die Prinzessin sich schon retten würde. Ich und die Jungen haben die Schwanenhäute mit heraufgenommen! Nein, wie froh bin ich! Und was für ein Glück, dass ich noch hier bin! Wenn der Tag graut, ziehen wir von dannen mit der ganzen großen Storchgesellschaft. Wir fliegen voran, fliegt nur hinterher, dann könnt Ihr den Weg nicht verfehlen. Ich und die Jungen werden Euch schon im Auge behalten!“
„Und die Lotosblume, die ich mitbringen sollte,“ sagte die ägyptische Prinzessin, „fliegt im Schwanenkleide an meiner Seite! Meines Herzens Blume bringe ich mit, das war die Lösung. Heimwärts, Heimwärts!“
Doch Helga sagte, dass sie das dänische Land nicht verlassen könne, ehe sie noch einmal ihre Pflegemutter, die liebreiche Wikingerfrau, gesehen habe. Vor Helgas Gedanken erstand jede schöne Erinnerung, jedes liebevolle Wort, jede Träne, die ihre Pflegemutter um sie geweint hatte, und fast war es ihr in diesem Augenblick, als liebte sie diese Mutter am meisten.
„Ja, wir müssen zum Wikingerhofe!“ sagte der Storchvater, „dort warten ja Mutter und die Jungen! Wie sie die Augen aufreißen und die Klapper in Gang bringen werden! Mutter sagt ja nicht viel; sie ist kurz und bündig, meint es aber um so besser! Ich will gleich einmal klappern, damit sie hören können, dass wir kommen.“
Und dann klapperte der Storchvater mit dem Schnabel, und er und die Schwäne flogen zur Wikingerburg.
Drinnen lagen noch alle in tiefem Schlafe. Erst spät in der Nacht war die Wikingerfrau zur Ruhe gekommen. Sie litt Angst um Klein-Helga, die nun seit drei vollen Tagen mit dem christlichen Priester verschwunden war. Sie musste ihm fortgeholfen haben, denn ihr Pferd war es, das im Stalle fehlte. Welche Macht mochte dies alles bewirkt haben? Die Wikingerfrau dachte an die Wundertaten, die durch den weißen Christus und seine Anhänger und Jünger geschehen sein sollten. Die wechselnden Gedanken nahmen im Traume Gestalt an, es war ihr, als ob sie noch wach und nachdenklich auf ihrem Bette säße. Draußen brütete die Finsternis, der Sturm kam, sie hörte das Rollen des Meeres im Westen und Osten, von der Nordsee und vom Kattegatt her. Die ungeheure Schlange, die in der Meerestiefe die Erde umspannte, erzitterte in Krämpfen und Zuckungen. Die Nacht der Götter, Ragnarok, wie die Heiden den Jüngsten Tag nannten, da alles vergehen sollte, selbst die hohen Götter, nahte. Die Hörner ertönten, und über den Regenbogen hin ritten die Götter, in Stahl gekleidet, um den letzten Kampf zu kämpfen. Ihnen voran flogen mit breiten Schwingen die Schildjungfrauen, die Reihe schloss mit den Gestalten der toten Hünen. Die ganze Luft leuchtete um sie mit Nordlichtglanz, aber die Finsternis behielt den Sieg. Es war eine entsetzliche Stunde.
Und dicht neben der geängstigten Wikingerfrau saß Klein-Helga in der hässlichen Froschgestalt, auch sie zitterte und schmiegte sich an die Pflegemutter, die sie auf ihren Schoß nahm und sie liebevoll im Arme hielt, wie hässlich ihr auch die Froschhülle erschien. Die Luft hallte wider von Schwerterklirren und Keulenschlägen, und von sausenden Pfeilen, die wie Hagelschauer über sie hinstürmten. Die Stunde war gekommen, da Himmel und Erde sich auftun, die Sterne herabfallen, und alles im Feuer Suturs vergehen sollte. Doch sie wusste, dass ein neuer Himmel, eine neue Erde kommen und Korn wegen würde, wo jetzt das Meer über den gelben Sandboden hinrollte, dass der unnennbare Gott über die Erde gebieten und Baldur, der milde, liebreiche, erlöst aus den Reichen des Todes, zu ihm aufsteigen würde. Er kam, die Wikingerfrau sah ihn, sie erkannte sein Antlitz – es war der christliche Priester.
„Weißer Christus“ rief sie laut, und bei Nennung des Namens drückte sie einen Kuss auf die Stirn ihres hässlichen Froschkindes. Da fiel die Froschhaut, und Klein-Helga stand da in all ihrer Schönheit, sanft wie nie zuvor und mit strahlenden Augen. Sie küsste die Hände der Pflegemutter, segnete sie für all ihre Sorgfalt und Liebe, die sie ihr in den Tagen der Not und Prüfung erwiesen hatte und dankte ihr für die guten Gedanken, die sie in ihr gesät und erweckt hatte. Sie dankte ihr für die Nennung des heiligen Namens, und wiederholte ihn: Weißer Christus. Dann erhob sich Klein-Helga als ein mächtiger Schwan, die Schwingen breiteten sich groß und herrlich, und mit einem Flügelschlage, rauschend, wie wenn die Scharen der Zugvögel fortfliegen, schwebte sie davon.
Dabei erwachte die Wikingerfrau, und draußen war noch immer der starke Flügelschlag zu hören. Es war, wie sie wusste, die Zeit, wo die Störche von hier fortzogen; sie waren es wohl, die sie hörte. Noch einmal wollte sie sie vor ihrer Abreise sehen und ihnen Lebewohl sagen. Sie stand auf und trat auf die Schwelle hinaus. Da sah sie auf dem Dachfirst des Nebenhauses Storch an Storch, und rings um das Gehöft, über den hohen Bäumen, flogen ganze Scharen in großen Schwenkungen. Aber gerade vor ihr auf dem Brunnenrande, wo Klein-Helga so oft gesessen und sie mit ihrer Wildheit erschreckt hatte, saßen nun zwei Schwäne und blickten sie mit klugen Augen an. Da dachte sie an ihren Traum, der sie noch lebendig wie Wirklichkeit erfüllte, und sie dachte an Klein-Helga in der Schwanengestalt und an den christlichen Priester, und es war ihr plötzlich wunderlich froh ums Herz.
Die Schwäne schlugen mit den Schwingen, neigten ihre Hälse, als wollten sie ihr ihren Gruß darbieten; die Wikingerfrau breitete die Arme nach ihnen aus, als ob sie sie verstände, und lächelte unter Tränen und vielerlei Gedanken.
Da erhoben sich mit Flügelschlag und Klappern alle Störche zur Reise nach dem Süden.
„Wir warten nicht auf die Schwäne“ sagte die Storchmutter, „wollen sie mit, dann müssen sie kommen. Wir können nicht hier bleiben, bis die Brachvögel reisen. Es ist doch etwas Schönes, so in Familie zu reisen, und nicht wie die Buchfinken und die Streithähne, wo die Hähne für sich fliegen und die Hennen für sich. Im Grunde genommen finde ich das nicht anständig! Und was ist das für ein Flügelschlag, den die Schwäne an sich haben.“
„Jeder fliegt nach seiner Art“ sagte der Storchvater, „die Schwäne fliegen schräg, die Kraniche im Dreieck und die Brackvögel in Schlangenlinie.“
„Sprich nicht von Schlangen, solange wir hier oben fliegen!“ sagte die Storchmutter, „das macht den Jungen nur Gelüste, die sich nicht befriedigen lassen.“
„Sind das die hohen Berge dort unten, von denen ich hörte?“ fragte Helga im Schwanenkleid.
„Das sind Gewitterwolken, die unter uns ziehen!“ sagte die Mutter.
„Was sind das für weiße Wolken, die sich so hoch erheben?“ fragte Helga.
„Was Du dort siehst, sind die mit ewigem Schnee bedeckten Berge!“ sagte die Mutter. Und sie flogen über die Alpen zu dem tiefblauen Mittelmeer hinab.
„Afrika! Ägyptens Strand“ jubelte die Tochter des Nils im Schwanengewand, als sie hoch aus der Luft wie einen weißlich-gelben, wellenförmigen Streifen die Heimat sichtete.
Auch die Vögel sahen den Streifen und beschleunigten ihren Flug.
„Ich rieche Nilschlamm und nasse Frösche“ sagte die Storchmutter, „es juckt mich schon im Schnabel danach. Ja, nun werdet Ihr schlemmen! Und Ihr werdet auch den Marabu, den Ibis und die Kraniche zu sehen bekommen! Sie gehören alle zur Familie, sind aber nicht halb so schön wie wir. Sie stellen sich vornehm, besonders der Ibis. Er ist eben von den Ägyptern verwöhnt worden, sie stopfen ihn mit Kräutern aus wie die Mumien. Ich will mich lieber mit lebenden Fröschen ausstopfen lassen. Das wollt Ihr wohl auch lieber, und das sollt Ihr auch haben! Besser, etwas im Bauche, während man lebt, als zu Staat und Schmuck sein, wenn man tot ist! Das ist meine Meinung, und die ist immer die richtige.“
„Nun sind die Störche gekommen!“ sagte man in dem reichen Hause am Ufer des Nils, wo in der offenen Halle auf weichen, mit Leopardenfell bedeckten Polstern der königliche Herr aufgestreckt lag, nicht tot und auch nicht lebend, hoffend auf die Lotosblume aus den tiefen Mooren des Nordens. Angehörige und Diener standen um sein Lager, Und hinein in die Halle flogen zwei mächtige weiße Schwäne; sie waren mit den Störchen gekommen. Sie warfen das blendendweiße Federgewand ab, und zwei herrliche Frauen, einander so ähnlich wie zwei Tautropfen, standen da. Sie beugten sich zu dem bleichen, hinsiechenden alten Mann nieder, warfen ihre langen Haare zurück, und als Klein-Helga sich über den Großvater beugte, röteten sich seine Wangen, seine Augen bekamen Glanz, und Leben strömte wieder durch die gelähmten Glieder. Der Alte erhob sich gesundet und verjüngt, und Tochter und Enkeltochter hielten ihn in ihren Armen wie zum freudigen Morgengruße nach einem langen, schweren Traum.
Und Freude herrschte im ganzen Hause, und im Storchenneste auch. Aber dort war es doch zumeist um der guten Nahrung, der unzählig vielen Frösche willen. Und während die Gelehrten hastig in kurzen Umrissen die Geschichte der beiden Prinzessinnen und der Blume der Gesundheit aufzeichneten, die eine große Begebenheit und ein Segen für Haus und Land war, erzählten die Storcheltern sie auf ihre Weise und für ihre Familie zugeschnitten; aber erst, als alle satt waren, denn sonst hätten sie ja anderes zu tun gehabt, als Geschichten anzuhören.
„Nun wirst Du sicherlich etwas werden!“ flüsterte die Storchmutter; „und das wäre auch nur gerecht!“
„Ach, was sollte ich denn werden!“ sagte der Storchvater, „was habe ich denn getan? Nichts.“
„Du hast mehr getan, als alle anderen. Ohne Dich und die Jungen hätten die beiden Prinzessinnen Ägypten niemals wiedergesehen und den Alten gesund bekommen. Du wirst etwas. Du bekommst bestimmt den Ehrendoktor, und unsere Jungen sind geborene Doktoren, und ihre Jungen bringen es dann noch weiter. Du siehst auch schon aus wie ein ägyptischer Doktor – wenigstens in meinen Augen.“
Die Gelehrten und Weisen entwickelten den Grundgedanken, wie sie es nannten, der sich durch die ganze Begebenheit zöge: „Liebe gebiert Leben“ und legten ihn auf verschiedene Weise aus: „Der warme Sonnenstrahl wäre die ägyptische Prinzessin, sie wäre zu dem Moorkönig hinabgestiegen, und ihrer Umarmung entspränge die Blüte – „
„Ich kann die Worte nicht so ganz richtig wiederholen“ sagte der Storchvater, der vom Dache aus zugehört hatte und im Neste davon erzählen sollte. „Es war so verwickelt, was sie sagten, und so klug, dass sie sogleich zu Würden und Geschenken kamen, selbst der Mundkoch bekam einen großen Orden – wahrscheinlich für die Suppe.“
„Und was hast Du bekommen?“ fragte die Storchmutter. „Den Wichtigsten sollten sie doch nicht vergessen, denn das bist Du. Die Gelehrten haben bei der ganzen Sache nur geklappert. Aber Du wirst auch noch daran kommen!“
Spät in der Nacht, als der Frieden des Schlafes über dem von neuem glücklichen Hause ruhte, wachte noch immer jemand, aber es war nicht der Storchvater, obwohl er droben auf einem Bein aufrecht im Neste stand und Schildwache schlief, nein, Klein-Helga wachte; sie neigte sich über den Altan und blickte in die klare Luft empor zu den großen, leuchtenden Sternen, deren Glanz sich hier strahlender und reiner zeigte, als sie es im Norden gesehen hatte, und doch waren es dieselben Gestirne. Sie dachte an die Wikingerfrau am Wildmoor, an der Pflegemutter milde Augen, an die Tränen, die sie über das arme Froschkind geweint hatte, das nun in Glanz und Sternenpracht an den Wassern des Nils in der herrlichen Frühjahrsluft stand. Sie dachte an die Liebe in der Brust des heidnischen Weibes, an die Liebe, die sie einem elenden Geschöpf erwiesen hatte, das in Menschengestalt ein böses Tier und in Tiergestalt ekelerregend anzusehen und zu berühren war. Sie schaute zu den leuchtenden Sternen empor und dachte an den Glanz auf der Stirn des Toten, als sie über Wald und Moor hingeflogen waren. Töne klangen in ihrer Erinnerung auf, Worte vom Urquell der Liebe, der höchsten Liebe, die alle Geschlechter umfasste, und auf die sie gelauscht hatte, als sie mit ihm von dannen geritten war.
Ja, was war nicht gegeben, gewonnen, erreicht! Klein-Helgas Gedanken umfasten bei Tage und bei Nacht die ganze Größe ihres Glückes, und bei seinem Anblick stand sie wie ein Kind, das sich eilig vom Geber zur Gabe wendet, und überschaute ihre herrlichen Gaben. Sie ging gleichsam auf in der sich steigernden Glückseligkeit, die kommen konnte und würde. Durch Wunderwerke war sie ja zu immer höherer Freude, immer höherem Glück empor getragen worden, und hierin verlor sie sich eines Tages so völlig, dass sie des Gebers nicht mehr gedachte. Es war die Kühnheit ihres jugendlichen Mutes, die in raschem Schwunge weitereilte. Ihre Augen leuchteten, aber aus ihrer Träumerei wurde sie in diesem Augenblicke durch ein starkes Geräusch im Hofe unter sich empor gerissen. Da sah sie zwei mächtige Strauße eilig in engen Kreisen umherlaufen; nie zuvor hatte sie dieses Tier, einen so großen, plumpen und schweren Vogel, gesehen. Die Schwingen sahen aus wie beschnitten, der Vogel selbst als ob man ihm Gewalt angetan habe, und sie fragte, was ihm denn geschehen sei. Nun hörte sie zum ersten Male die Sage, die die Ägypter von dem Strauße erzählen.
Schön sei einst sein Geschlecht gewesen, seine Schwingen groß und stark. Da sagten eines Abends des Waldes mächtige Vögel zu ihm: „Bruder, wollen wir morgen, wenn Gott will, zum Flusse fliegen und trinken?“ Und der Strauß antwortete: „Ich will es.“ Als es tagte, flogen sie fort, zuerst der Sonne, dem Auge Gottes, entgegen, höher und immer höher hinauf, der Strauß allen anderen weit voran. Stolz flog er dem Lichte entgegen, er verließ sich auf seine Kraft und nicht auf den Geber, er sagte nicht: „Wenn Gott will.“ Da zog der rächende Engel den Schleier von der Flammenstrahlenden, und gleichen Augenblicks verbrannten des Vogels Schwingen, elend sank er zur Erde nieder. Er und sein Geschlecht vermögen niemals mehr sich zu erheben. Sie fliehen in ewigem Schrecken, stürmen im Kreise herum in dem engen Raum, eine Mahnung für uns Menschen, bei allen unseren Gedanken, bei jeder Handlung zu sagen: „Wenn Gott will.“
Zeitig im Frühjahr, als die Störche wieder gen Norden zogen, nahm Klein-Helga ihr goldenes Armband, ritzte ihren Namen hinein und winkte dem Storchvater zu. Sie legte ihm den Goldreif um den Hals und bat ihn, ihn der Wikingerfrau zu überbringen, die daraus erkennen könne, dass ihre Pflegetochter lebte, glücklich wäre und an sie dächte.
„Das ist schwer zu tragen!“ dachte der Storch, als er ihn um den Hals fühlte; „aber Gold und Ehre soll man nicht auf die Landstraße werfen. Sie werden dort oben zugeben müssen, dass der Storch Glück bringt.“
„Du legst Gold und ich lege Eier“ sagte die Storchmutter, „aber Du legst nur einmal, und ich mache es in jedem Jahr. Doch eine Anerkennung erhält keiner von uns. Das kränkt!“
„Man hat das Bewusstsein der guten Tat, Mutter“ sagte der Storchvater.
„Das kannst Du Dir nicht auf den Rock hängen!“ sagte die Storchmutter, „das gibt weder guten Fahrwind noch eine Mahlzeit.“
Und dann flogen sie fort.
Die kleine Nachtigall, die im Tamarindenstrauche sang, wollte auch bald nach Norden ziehen. Droben im Wildmoor hatte Klein-Helga sie oft gehört. Botschaft wollte sie ihr mitgeben, denn die Sprache der Vögel verstand sie, seit sie im Schwanenkleide geflogen war; oft hatte sie seitdem mit Storch und Schwalbe gesprochen. Die Nachtigall würde sie verstehen, und sie bat sie, zum Buchenwalde auf der jütischen Halbinsel zu fliegen, wo ein Grab aus Stein und Reisig aufgerichtet war, sie bat sie, alle kleinen Vögel zu bitten, über dem Grabe zu wachen und all ihre Lieder darüber zu singen.
Und die Nachtigall flog, und die Zeit flog dahin.
Auf der Pyramide stand zur Erntezeit der Adler, er sah einen stattlichen Zug reichbeladener Kamele, köstlich gekleideter, bewaffneter Männer auf schnaubenden arabischen Rossen, heranziehen. Silberweiß schimmerten ihre Leiber, die rötlichen Nüstern bebten, und lange, dichte Mähnen hingen bis zu den feinen Fesseln hinab. Reiche Gäste, ein königlicher Prinz aus dem Lande Arabien, schön wie ein Prinz sein muss, hielten ihren Einzug in dem stolzen Hause, wo nun das Storchnest leer stand. Die, die droben zu wohnen pflegten, waren ja jetzt im nördlichen Lande, aber bald würden sie wieder zurückkommen. – Und gerade an dem Tage kamen sie, an dem die Freude und Lust ihren Höhepunkt erreicht hatten. Hochzeitsjubel herrschte im Hause, und Klein-Helga, im Schmuck von Juwelen und Seide, war die Braut. Der Bräutigam war der junge Prinz aus dem Lande Arabien, und beide saßen am obersten Ende des Tisches zwischen Mutter und Großvater.
Aber sie schaute nicht auf des Bräutigams männlich gebräunte Wangen, auf denen der schwarze Bart sich kräuselte, sie blickte nicht in seine feurigen dunklen Augen, die sich auf sie hefteten, sie schaute hinaus, zu den blinkenden, funkelnden Sternen empor, die vom Himmel herabstrahlten.
Da rauschten draußen starke Flügelschläge durch die Luft; die Störche kamen zurück. Das alte Storchpaar, wie müde es auch von der Reise war, und wie sehr es auch der Ruhe bedurfte, flog sogleich auf das Geländer der Veranda hinab; sie wussten, welches Fest heute gefeiert wurde. Schon an der Grenze des Landes hatten sie gehört, dass Klein-Helga sie auf einer Wand hatte abmalen lassen, da sie mit zu ihrer Geschichte gehörten.
„Das ist doch eine große Ehre“ sagte der Storchvater.
„Das ist sehr wenig“ sagte die Storchmutter, „weniger hätte es wohl kaum sein können!“
Als Helga sie erblickte, erhob sie sich und ging zu ihnen auf die Veranda hinaus, um ihnen den Rücken zu streicheln. Das alte Storchpaar neigte die Hälse, und die jüngsten Jungen sahen zu und fühlten sich geehrt.
Helga sah zu den leuchtenden Sternen empor, die klarer und klarer erstrahlten. Zwischen ihnen und ihr bewegte sich eine Gestalt, reiner noch als die Luft und dadurch sichtbar. Sie schwebte ihr näher und näher es war der tote christliche Priester, auch er kam zu ihrem Hochzeitsfeste, kam herab aus des Himmels Reichen.
„Glanz und Herrlichkeit dort droben übertrifft alles, was die Erde kennt!!“ sagte er.
Und Klein-Helga betete so sanft, so innig, wie sie nie zuvor gebetet hatte, dass sie nur einen einzigen Augenblick hineinschauen dürfe, nur einen einzigen Blick in das, Himmelreich werfen dürfe zum Vater.
Und er trug sie empor zu Glanz und Herrlichkeit, überströmend von Gedanken und Tönen; nicht nur äußerlich erklang und leuchtete es um sie, die Klänge und der Glanz waren auch in ihr. Worte können es nicht wiedergeben.
„Nun müssen wir zurück, Du wirst vermisst!“ sagte er.
„Nur einen Blick noch“ bat sie; „nur einen einzigen kurzen Augenblick.“
„Wir müssen zur Erde, alle Gäste gehen schon fort.“
„Nur einen Blick den letzten.“
Klein-Helga, stand wieder auf der Veranda – aber alle Fackeln draußen waren gelöscht, alle Lichter im Hochzeitssaal waren fort, die Störche fort, keine Gäste zu sehen, kein Bräutigam, alles wie fortgeweht während der drei kurzen Augenblicke.
Da überkam Helga eine Angst; sie ging durch die große, leere Halle in die nächste Kammer hinein. Dort schliefen fremde Soldaten. Sie öffnete die Seitentür, die in ihre eigene Stube hineinführte, und als sie darin zu stehen vermeinte, stand sie draußen im Garten. – So war es doch hier vorhin nicht gewesen; rötlich schimmerte der Himmel, der Tag graute herauf.
Drei Augenblicke im Himmel nur, und eine ganze Erdennacht war vergangen!
Da sah sie die Störche: sie rief zu ihnen hinauf, sprach ihre Sprache, und der Storchvater drehte den Kopf, lauschte und näherte sich.
„Du sprichst unsere Sprache!“ sagte er, „was willst Du? Was führt Dich hierher, Du fremdes Weib?“
„Ich bin es ja, ich – Helga! Erkennst Du mich nicht? Vor drei Minuten sprachen wir noch zusammen, dort in der Veranda.“
„Das ist ein Irrtum!“ sagte der Storch; „das musst Du alles geträumt haben.“
„Nein, nein“ sagte sie und erinnerte ihn an die Wikingerburg und das Wildmoor, die Reise hierher.
Da blinzelte der Storchvater mit den Augen: „Das ist ja eine alte Geschichte, die ich aus der Zeit meiner Ururgrossmutter gehört habe. Ja, gewiss war hier in Ägypten einmal eine Prinzessin aus dem Lande Dänemark, aber sie verschwand an ihrem Hochzeitsabend vor vielen hundert Jahren und kam niemals wieder. Das kannst Du selbst auf dem Denkstein hier im Garten lesen. Darein sind Schwäne und Störche gemeißelt, und zu oberst stehst Du selbst in weißem Marmor.“
So war es. Klein-Helga sah es, verstand es und sank auf die Knie.
Die Sonne brach strahlend hervor, und wie einst in längst vergangener Zeit bei ihren Strahlen die Froschhaut fiel und die herrliche Gestalt sichtbar wurde, so erhob sich nun unter der Taufe des Lichts eine Schönheitsgestalt, klarer und reiner als die Luft, ein Lichtstrahl – zum Vater empor.
Der Leib verfiel in Staub, und wo er gestanden hatte, lag eine welke Lotosblume.
„Das war doch ein neuer Schluss bei der Geschichte“ sagte der Storchvater; „den hätte ich nie und nimmer erwartet, aber er gefällt mir ganz gut.“
„Was wohl die Jungen dazu sagen werden?“ fragte die Storchmutter.
„Ja, das ist freilich das Wichtigste“ sagte der Storchvater.

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1858 zum ersten mal in dem Buch namens ”Nye Eventyr og Historier. Første Række. Anden Samling. 1858” veröffentlicht.

Kinderschnack

Original-Übersetzung

 

Drinnen bei dem reichen Kaufmann war eine Kindergesellschaft, reicher Leute Kinder und vornehmer Leute Kinder; der Kaufmann war ein gelehrter Mann, er hatte einst das Studentenexamen gemacht, dazu hatte ihn sein ehrlicher Vater angehalten, der von Anfang an nur Viehhändler gewesen wahr, aber ehrlich und betriebsam; der Handel hatte Geld gebracht, und die Gelder hatte der Kaufmann zu mehren gewusst. Klug war er, und Herz hatte er auch, aber von seinem Herzen wurde weniger gesprochen als von seinem vielen Geld. Bei dem Kaufmann gingen vornehmen Leute ein und aus, wohl Leute von Geblüt, wie es heißt, als von Geist, auch Leute, die beides hatten oder keines von beiden. Diesmal war eine Kindergesellschaft dort und Kindergeschwätz, und Kinder sprechen frei von der Leber weg. Unter anderem war dort ein wunderschönes kleines Mädchen, aber die Kleine war ganz entsetzlich stolz, das hatten die Dienstleute in sie geküsst, nicht die Eltern, denn dazu waren die gar zu vernünftige Leute; ihr Vater war Kammerjunker, und das ist was gar Großes, das wusste sie.
„Ich bin ein Kammerkind!“ sagte sie. Sie hätte nun ebenso gut ein Kellerkind sein können, jeder kann selber dafür gleich viel; und dann erzählte sie den anderen Kindern, dass sie „geboren“ sei, und sagte, wenn man nicht geboren sei, könne man nichts werden; das nütze einem nichts, dass man lesen und fleißig sein wolle; wenn man nicht „geboren“ sei, könne man nichts werden. „Und diejenigen, deren Namen mit ’sen‘ endigen“, sagte sie, „aus denen kann nun ganz und gar nichts werden! Man muss die Arme in die Seite stemmen und sie recht weit fern von sich halten, diese ’sen! ’sen!“ Und dabei stemmte sie ihre wunderschönen kleinen Arme in die Seite und machte den Ellenbogen ganz spitz, um zu zeigen, wie man es machen sollte; und die Ärmchen waren gar niedlich. Es war ein recht süßes Mädchen.
Doch die kleine Tochter des Kaufmanns wurde bei dieser Rede gar zornig; ihr Vater hieß Petersen, und von dem Namen wusste sie, dass er auf „sen“ endigte, und deshalb sagte sie so stolz, wie sie konnte: „Aber mein Vater kann für hundert Taler Bonbons kaufen und sie unter die Kinder werfen! Kann dein Vater das?“
„Nein, aber mein Vater“, sagte das Töchterlein eines Schriftstellers, „kann deinen Vater und deinen Vater und alle Väter in die Zeitung setzen! Alle Menschen fürchten ihn, sagt meine Mutter, denn mein Vater ist es, der in der Zeitung regiert!“
Und das Töchterlein schaute gar stolz dabei aus, als wenn es eine wirkliche Prinzessin wäre, die stolz ausschauen muss.
Aber draußen vor der nur angelehnten Tür stand ein armer Knabe und blickte durch die Türspalte. Er war so gering, dass er nicht einmal mit in die Stube hinein durfte. Er hatte der Köchin den Bratspieß gedreht, und die hatte ihm nun erlaubt, hinter der Tür zu stehen und zu den geputzten Kindern, die sich einen vergnügten Tag machten, hineinzublicken, und das war für ihn recht viel.
„Wer doch einer von ihnen wäre!“ dachte er, und dabei hörte er, was gesprochen wurde, und das war nun freilich so, um recht missmutig zu werden. Nicht einen Pfennig besaßen die Eltern zu Hause, den sie hätten zurücklegen können, um dafür eine Zeitung zu halten, geschweige denn eine solche zu schreiben, mitnichten! Und nun noch das Allerschlimmste: seines Vaters Name und also auch der seinige endigte ganz und gar auf „sen“, aus ihm konnte denn somit auch ganz und gar nichts werden. Das war zu traurig! Doch geboren war er, schien es ihm, so recht ordentlich geboren, das konnte doch unmöglich anders sein. Das war nun an diesem Abend.
Seitdem verstrichen viele Jahre, und währenddessen werden Kinder zu erwachsenen Menschen. In der Stadt stand ein prächtiges Haus, es war angefüllt mit lauter schönen Sachen und Schätzen, die Leute wollten es sehen, selbst Leute, die außerhalb der Stadt wohnten, kamen in die Stadt, um es zu sehen. Wer von den Kindern, von denen wir erzählt haben, mochte wohl jetzt dieses Haus das seinige nennen? Ja, das zu erraten, ist natürlich sehr leicht! Nein, nein, es ist doch nicht so sehr leicht. Das Haus gehörte dem kleinen, armen Knaben, der an jenem Abend hinter der Tür gestanden hatte; aus ihm wurde doch etwas, obgleich sein Name auf „sen“ endigte – Thorwaldsen.
Und die drei anderen Kinder? Die Kinder des Blutes, des Geldes und des Geisteshochmutes, ja, eins hat dem anderen nichts vorzuwerfen, sie sind gleiche Kinder – aus ihnen wurde alles Gute, die Natur hatte sie gut ausgestattet; was sie damals gedacht und gesprochen hatten, war eben nur Kinderschnack.

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1859 zum ersten mal in dem Buch namens ”Nye Eventyr og Historier. Første Række. Tredie Samling. 1859” veröffentlicht.

Im Entenhof

Original-Übersetzung

 

Es kam eine Ente aus Portugal, einige sagten, aus Spanien, doch das bleibt sich gleich; genug, sie wurde die Portugiesin genannt, legte Eier, wurde geschlachtet und angerichtet – das war ihr Lebenslauf. Alle Enten, die aus ihren Eiern auskrochen, wurden später auch Portugiesin genannt, und das wollte schon etwas heißen. Jetzt war von der ganzen Familie nur noch eine im Entenhof, einem Hof, zu dem auch die Hühner Zutritt haben und in dem der Hahn mit viel Hochmut auftrat.
„Er ärgert mich durch sein lautes Krähen“, sagte die Portugiesin. „Aber bübisch ist er, das ist nicht zu leugnen, wenn er auch kein Enterich ist. Er sollte sich mäßigen, aber das ist eine Kunst, die von höherer Bildung zeugt, die haben bloß die kleinen Singvögel, drüben im Nachbargarten, in den Linden. Wie lieblich sie singen! Es liegt so etwas Rührendes in ihrem Gesang, ich nenne es Portugal! Hätte ich nur solch einen kleinen Singvogel, ich würde ihm eine Mutter sein, lieb und gut, das liegt mir im Blut, in meinem portugiesischen Blut!“
Und während sie noch so sprach, kam ein kleiner Singvogel kopfüber vom Dach herab in den Hof. Der Kater war hinter ihm her, aber der Vogel kam dessen ungeachtet mit einem gebrochenen Flügel davon, deshalb fiel er in den Entenhof.
„Das sieht dem Kater ähnlich, er ist ein Bösewicht!“ sagte die Portugiesin; „ich kenne ihn noch von der Zeit her, wo ich Kinder hatte. Dass so ein Wesen leben und auf den Dächern umhergehen darf! Ich glaube nicht, dass dies in Portugal der Fall ist!“ Und sie bemitleidete den kleinen Singvogel, und die anderen Enten, die nicht portugiesischer Abkunft waren, bemitleideten ihn auch.
„Das kleine Tierchen!“ sagten sie, während eine nach der andern herankam. „Wir können zwar nicht singen“, sprachen sie, „aber wir haben den Resonanzboden, oder so etwas, innerlich, das fühlen wir, wenn wir auch nicht davon sprechen!“
„Ich aber werde davon sprechen!“ sagte die Portugiesin, „und ich will etwas für die Kleine tun, das ist Pflicht!“ und sie trat in den Wassertrog und schlug mit den Flügeln so in das Wasser, dass der kleine Singvogel in dem Bad, das er bekam, fast ertrank; aber es war gut gemeint. „Das ist eine gute Tat“, sprach sie; „Die andern sollten sich ein Beispiel daran nehmen!“
„Piep!“ sagte der kleine Vogel, dem einer seiner Flügel gebrochen war und dem es schwer wurde, sich zu schütteln; aber er begriff sehr gut das wohlgemeinte Bad. „Sie sind herzensgut, Madame!“ sagte er, aber es verlange ihm nicht nach einem zweiten Bade.
„Ich habe nie über mein Herz nachgedacht;“ fuhr die Portugiesin fort, „aber das eine weiß ich, dass ich alle meine Mitgeschöpfe liebe; nur nicht den Kater, das kann aber auch niemand von mir verlangen. Er hat zwei der meinigen gefressen; doch tun Sie so, als seien Sie zu Hause, das kann man schon. Ich selber bin auch aus einer fremden Gegend, wie Sie schon aus meiner Haltung und meinem Federkleid ersehen werden; mein Enterich dagegen ist ein Eingeborener, er ist nicht von meinem Geblüt, aber ich bin nicht hochmütig! Versteht Sie jemand hier im Hof, so darf ich wohl sagen, dass ich es bin!“
„Sie hat Portulak im Magen!“ sagte ein kleines, gewöhnliches Entlein, das witzig war, und alle die andern gewöhnlichen Enten fanden das Wort Portulak ganz ausgezeichnet: es klang wie Portugal, und sie stießen sich an und sagten „Rapp“. Es war zu witzig! Und alle anderen Enten gaben sich dann mit dem kleinen Singvogel ab.
„Die Portugiesin hat zwar die Sprache mehr in ihrer Gewalt“, äußerten sie. „Was uns aber anbelangt, wir brüsten uns nicht so mit großen Worten im Schnabel; unsere Teilnahme jedoch ist ebenso groß. Tun wir nichts für Sie, so gehen wir still mit umher; und das finden wir am schönsten!“
„Sie haben eine liebliche Stimme!“ sagte eine der ältesten. „Es muss ein schönes Bewusstsein sein, so vielen Freude zu bereiten, wie Sie dieses zu tun vermögen. Ich verstehe mich freilich auf Ihren Gesang nicht, deshalb halte ich auch den Schnabel, und dies ist immer besser, als ihnen etwas Dummes zu sagen, wie dies gar viele andere tun!“
„Quäle ihn nicht so“, sagte die Portugiesin, „er bedarf der Ruhe und Pflege. Wünschen Sie, mein kleiner Singvogel, dass ich Ihnen wieder ein Bad bereite?“
„Ach nein, lassen sie mich trocken bleiben!“ bat er.
„Die Wasserkur ist die einzige, die mir hilft, wenn mir etwas fehlt“, antwortete die Portugiesin. „Zerstreuung ist auch etwas Gutes! Jetzt werden bald die Nachbarhühner ankommen und Visite machen, unter ihnen befinden sich auch zwei Chinesinnen; diese haben Höschen an, besitzen viel Bildung und sind importiert; deshalb stehen sie höher in meiner Achtung als die anderen.“ Und die Hühner kamen, und der Hahn kam; er war heute so höflich, dass er nicht grob war.
„Sie sind ein wirklicher Singvogel“, sprach er, „und Sie machen aus Ihrer kleinen Stimme alles, was aus so einer kleinen Stimme zu machen ist. Aber etwas mehr Lokomotive muss man haben, damit jeder hört, dass man männlichen Geschlechts ist.“
Die zwei Chinesinnen standen ganz entzückt da beim Anblick des Singvogels; er sah recht struppig aus von dem Bad, das er bekommen hatte, so dass es ihnen schien, er sehe fast wie ein chinesisches Küchlein aus. „Er ist reizend!“ sagten sie, ließen sich mit ihm in ein Gespräch ein und sprachen nur flüsternd und mit Pa-Lauten, d. h. in vornehmem Chinesisch, mit ihm.
„Wir sind von Ihrer Art“, führen sie fort. „Die Enten, selbst die Portugiesin, sind Schwimmvögel, wie Sie wohl bemerkt haben werden. Uns kennen Sie noch nicht; nur wenige kennen uns oder geben sich die Mühe, uns kennen zu lernen; selbst von den Hühnern niemand, obwohl wir dazu geboren sind, auf einer höheren Sprosse zu sitzen als die meisten anderen; das kümmert uns aber nicht; wir gehen ruhig unseres Weges inmitten der anderen, deren Grundsätze nicht die unseren sind, denn wir beachten nur die guten Sitten und sprechen nur von dem Guten, obwohl es schwierig ist, da etwas zu finden, wo nichts ist. Außer uns beiden und dem Hahn gibt es im ganzen Hühnerhof niemanden, der talentvoll und zugleich honett ist! Das kann nicht einmal von den Bewohnern des Entenhofs gesagt werden. – Wir warnen Sie, kleiner Singvogel! Trauen Sie nicht der da mit den kurzen Schwanzfedern; sie ist hinterlistig. Die Bunte da, mit der schiefen Zeichnung auf den Flügeln, ist streitsüchtig und lässt keinem das letzte Wort, und obendrein hat sie noch immer unrecht. Die fette Ente dort spricht Böses über alle; dies ist unserer Natur zuwider; kann man nicht Gutes sprechen, so muss man den Schnabel halten. Die Portugiesin ist die einzige, die ein wenig Bildung hat und mit der man Umgang pflegen kann; aber sie ist leidenschaftlich und spricht zu viel von Portugal!“
„Was die beiden Chinesinnen nur immer zu flüstern haben!“ flüsterte sich ein Entenpaar zu, „mich langweilen sie, wir haben nie mit ihnen gesprochen.“ Jetzt kam der Enterich herbei. Er glaubte, der Singvogel sei ein Spatz. „Ja ich kenne den Unterschied nicht“, sagte er, „und das ist auch einerlei! Er gehört zu den Spielwerken, und hat man sie, so hat man sie!“
„Legen Sie nur kein Gewicht auf das, was er sagt“, flüsterte die Portugiesin, „er ist in Geschäftssachen sehr respektabel, und Geschäfte gehen ihm über alles. Aber jetzt lege ich mich zur Ruhe! Das ist man sich selber schuldig, damit man hübsch fett wird, wenn man mit Äpfeln und Pflaumen balsamiert werden soll.“
Und sie legte sich nun in die Sonne und blinzelte mit einem Auge; sie lag sehr gut, war auch sehr gut und schlief außerdem sehr gut.
Der kleine Singvogel machte sich an seinem gebrochenen Flügel zu schaffen, endlich legte er sich auch hin und drückte sich eng an seine Beschützerin; die Sonne schien warm und herrlich, er hatte einen recht guten Ort gefunden.
Die Nachbarhühner dagegen waren wach, sie liefen umher und kratzten den Boden auf; im Grunde genommen hatten sie den Besuch einzig und allein nur gemacht, um Nahrung zu sich zu nehmen. Die Chinesinnen waren die ersten, die den Entenhof verließen, die anderen Hühner folgten ihnen bald darauf. Das witzige Entlein sagte von der Portugiesin, die Alte werde nun bald „entenkindisch“. Die anderen Enten lachten darüber, dass es nur so schnatterte. „Entenkindisch!“ flüsterten sie, „das ist zu witzig!“ Und sie wiederholten nun auch den ersten Witz: „Portulak!“ Das war zu amüsant, meinten sie, dann legten sie sich nieder.
Als sie eine Weile gelegen hatte, wurde plötzlich etwas zum Schnabulieren in den Entenhof geworfen; es kam mit einem solchen Klatsch herab, dass die ganze Besatzung aus dem Schlaf auffuhr und mit den Flügeln schlug; auch die Portugiesin erwachte, wälzte sich auf die andere Seite und quetschte dabei den kleinen Singvogel sehr unsanft.
„Piep“, sagte er. „Sie traten sehr hart auf, Madame!“
„Ja, warum liegen Sie mir auch im Weg!“ rief sie. „Sie dürfen nicht so empfindlich sein! Ich habe auch Nerven, aber ich habe noch niemals Piep gesagt!“
„Seien Sie nicht böse!“ sagte der kleine Vogel, “ das Piep fuhr mir unwillkürlich aus dem Schnabel.“
Die Portugiesin hörte nicht darauf, sondern fuhr schnell in das Fressen und hielt eine gute Mahlzeit. Als diese zu Ende war und sie sich wieder hinlegte, nahte sich ihr der kleine Singvogel und wollte liebenswürdig sein:

„Tilleleleit! Von Herzen dein
will ich singen fein,
fliegen so weit, weit, weit!“

„Jetzt will ich nach dem Essen ruhen!“ sprach die Portugiesin. „Sie müssen hier auf die Sitten des Hauses achten. Jetzt will ich schlafen!“

Der kleine Singvogel war ganz verdutzt, denn er hatte es gut gemeint. Als die Madame später erwachte, stand er vor ihr mit einem Körnchen, das er gefunden hatte; er legte es ihr zu Fußen; da sie aber nicht gut geschlafen hatte, war sie natürlich sehr schlechter Laune.
„Geben Sie das einem Küken!“ sagte sie; „Stehen Sie mir überhaupt hier nicht immer im Weg!“
„Warum zürnen Sie mir?“ antwortete das Vöglein. „Was habe ich gemacht?“
„Gemacht?“ fragte die Portugiesin, „dieser Ausdruck ist nicht gerade fein, darauf möchte ich Ihre Aufmerksamkeit lenken!“
„Gestern war hier Sonnenschein“, sagte der kleine Vogel, „heute ist hier trübe und dicke Luft.“
„Sie wissen wohl wenig Bescheid mit der Zeitrechnung“, entgegnete die Portugiesin, „der Tag ist noch nicht zu Ende; stehen Sie nicht so dumm da!“
„Aber Sie sehen mich gerade so an wie die bösen Augen, als ich hier in den Hof herabfiel.“
„Unverschämter!“ sagte die Portugiesin; „vergleichen Sie mich mit dem Kater, dem Raubtier? Kein falscher Blutstropfen ist in mir; ich habe mich Ihrer angenommen und werde Ihnen gute Manieren beibringen!“
Und sofort biss sie dem Singvogel den Kopf ab; tot lag er da.
„Was ist nun das wieder?“ sagte sie, „das konnte er nicht vertragen! Ja, dann war er freilich auch nicht für diese Welt geschaffen. Ich bin ihm eine Mutter gewesen, das weiß ich, denn ein Herz habe ich.“
Da steckte des Nachbars Hahn seinen Kopf in den Hof hinein und krähte mit Lokomotivkraft.
„Sie bringen mich um mit Ihrem Krähen!“ rief sie. „Sie haben Schuld an allem; er hat den Kopf verloren, und ich bin nahe daran, ihn auch zu verlieren.“
„Da wo er hinfiel, liegt nicht viel!“ sagte der Hahn.
„Sprechen Sie mit Achtung von ihm!“ erwiderte die Portugiesin, „er hatte Ton, Gesang und hohe Bildung: Liebevoll war er und weich, und das schickt sich sowohl für die Tiere wie für die sogenannten Menschen.“
Und alle Enten drängten sich um den kleinen toten Singvogel. Die Enten haben starke Passionen, mögen sie nun Neid oder Mitleid fühlen, und da hier nun nichts zu beneiden war, so kam das Mitleid zum Vorschein, selbst bei den beiden Chinesinnen.
„Einen solchen Singvogel werden wir nimmer wieder bekommen; er war fast ein Chinese“, flüsterte sie, und dabei weinten sie, dass es gluckste, und alle Hühner glucksten, aber die Enten gingen mit roten Augen umher.
„Herz haben wir!“ sagten sie, „das kann uns niemand absprechen.“
„Herz!“ wiederholte die Portugiesin, „ja, das haben wir beinahe ebensoviel wie in Portugal!“
„Denken wir jetzt daran, etwas in den Magen zu bekommen!“ sagte der Enterich, „das ist das Wichtigste! Wenn auch eins von den Spielwerken entzwei geht, wir haben genug dergleichen!“

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1861 zum ersten mal in dem Buch namens ”Nye Eventyr og Historier. Anden Række. Første Samling. 1861” veröffentlicht.

Ib und die kleine Christine

Original-Übersetzung

 

Bei Gudenaa, im Walde von Silkeborg, erhebt sich wie ein großer Wall ein Landrücken und am Fuße dieses Landrückens nach Westen zu, lag und liegt noch heute ein kleines Bauernhaus mit einigen mageren Feldern; der Sand schimmerte allerorten unter dem dünnen Roggen- und Gerstenboden hervor.
Es sind nun ein gut Teil Jahre vergangen seitdem. Die Leute, die hier wohnten, bebauten ihren kleinen Acker und hielten drei Schafe, ein Schwein und zwei Ochsen; kurz gesagt, sie konnten recht wohl davon leben, wenn sie bescheidene Ansprüche stellten. Ja, sie hätten es wohl auch dazu bringen können, ein paar Pferde zu halten; aber sie sagten wie die anderen Bauern auch: „Das Pferd frisst sich selbst auf.“ – Es zehrt das Gute, was es schafft, reichlich wieder auf. Jeppe-Jäns beackerte sein kleines Feld im Sommer selbst und während des Winters war er ein flinker Holzschuhmacher. Dazu hatte er auch einen Gehilfen, einen Knecht, der es verstand, die Holzschuhe zurechtzuschneiden, so dass sie sowohl fest, als auch leicht und wohlgeformt waren. Löffel und Schuhe schnitzten sie, das brachte Geld; man konnte Jeppe-Jäns nicht zu den armen Leuten zählen.
Der kleine Ib, ein siebenjähriger Knabe, das einzige Kind des Hauses, saß dabei und sah zu, er schnitzte an einem Stecken, schnitt sich auch wohl in den Finger; aber eines Tages hatte er zwei Stücken Holz zurechtgeschnitzt, die kleinen Schuhen gleich sahen. Sie sollten, so sagte er, der kleinen Christine geschenkt werden; das war des Schiffers kleine Tochter. Sie war fein und zart wie vornehmer Leute Kind. Hätte sie Kleider gehabt, die ihrer lieblichen Erscheinung angemessen waren, so hätte niemand geglaubt, dass sie aus dem Torfhaus in der Seiser Heide stamme. Dort drüben wohnte ihr Vater. Er war Witwer und ernährte sich damit, aus dem Walde Brennholz nach Silkeborg, ja, oft noch weiter hinauf zu schiffen. Er hatte niemand, der auf die kleine Christine, die ein Jahr jünger als Ib war, geachtet hätte, und so war sie fast immer bei ihm auf dem Kahn oder zwischen dem Heidekraut und den Preiselbeerbüschen; und ging es einmal ganz bis nach Randers hinauf, so kam die kleine Christine zu Jeppe-Jäns hinüber.
Ib und die kleine Christine vertrieben sich prächtig die Zeit mit spielen und essen. Sie wühlten und gruben, sie krochen und liefen, und eines Tages wagten sich die beiden allein gar auf den Landrücken und ein Stück in den Wald hinein. Dort fanden sie Schnepfeneier; das war eine große Begebenheit.
Ib war bisher noch niemals aus der Seiser Heide fortgewesen, niemals war er durch die Seen geschifft bis nach Gudenaa aber nun sollte es geschehen; der Schiffer hatte ihn eingeladen, und am Abend vorher kam er mit zu des Schiffers Hause.
Auf den hochaufgestapelten Brennholzstücken im Schiffe saßen die Kinder schon am frühen Morgen und aßen Brot und Himbeeren. Der Schiffer und sein Knecht schoben sich mit ihren Staken vorwärts; es ging mit dem Strome in rascher Fahrt den Fluss hinab, durch Seen, die ganz von Wald und Schilf umschlossen schienen; aber zuletzt fand sich doch immer eine Durchfahrt, ob auch die alten Bäume sich tief zu ihnen nieder bogen und die Eichen ihre trockenen Äste ihnen entgegenstreckten, als hätten sie die Ärmel hochgestreift, um ihre nackten, knorrigen Arme zu zeigen. Alte Erlen, die der Strom vom Ufer gelöst hatte, hielten sich mit den Wurzeln am Boden fest und sahen wie kleine Waldinseln aus. Die Seerosen wiegten sich auf dem Wasser; es war eine herrliche Fahrt. – Und dann kam man zu der Aalfangstätte, wo das Wasser durch die Schleusen brauste. Das war etwas für Ib und die kleine Christine zum Schauen.
Damals war dort unten weder Fabrik noch Stadt, es stand dort nur das alte Gehöft mit dem Stauwerk, und die Besetzung war nicht stark. Der Fall des Wassers durch die Schleusen und der Schrei der Wildente waren damals fast die einzigen Laute, die das Schweigen der Natur unterbrachen. Als nun das Holz ausgeladen war, kaufte Christines Vater sich ein großes Bund Aale und ein kleines geschlachtetes Ferkel, und alles zusammen wurde in einen Korb hinten auf dem Schiffe verstaut. Nun ging es stromaufwärts heim; aber der Wind kam von hinten, und als sie das Segel aufgesetzt hatten, ging es ebenso gut, als hätten sie zwei Pferde vorgespannt.
Als sie mit dem Kahn bis an die Stelle im Walde gelangt waren, von wo der Knecht nur ein kurzes Stückchen zu laufen hatte, um zu seinem Hause zu kommen, gingen er und Christines Vater an Land, nachdem den Kindern anbefohlen war, sich ruhig und vorsichtig zu verhalten. Das taten sie jedoch nicht lange; sie mussten in den Korb gucken, in dem die Aale und das Ferkel aufbewahrt waren, und das Schwein mussten sie herausnehmen und wollten es halten, und da beide es halten wollten, ließen sie es fallen, und zwar gerade ins Wasser. Da trieb es mit dem Strome dahin, es war ein schreckliches Ereignis.
Ib sprang ans Land und lief ein kleines Stückchen am Ufer entlang, dann kam auch Christine. „Nimm mich mit“ rief sie und bald waren sie im Gebüsch verschwunden. Der Kahn und der Fluss waren nicht mehr zu sehen; ein kleines Stück liefen sie noch weiter, dann fiel Christine und weinte; Ib hob sie auf.
„Komm nur mit“ sagte er. „Das Haus liegt dort drüben!“ Aber es lag nicht dort drüben. Sie gingen weiter und weiter über welkes Laub und dürre abgefallene Zweige, die unter ihren kleinen Füßen knackten. Nun hörten sie ein starkes Rufen – sie standen still und lauschten; ein Adler schrie, es war ein hässlicher Schrei, und sie erschraken heftig. Aber vor ihnen im Walde wuchsen die prächtigsten Blaubeeren, eine ganz unglaubliche Menge; es war allzu einladend, um nicht zu verweilen, und sie blieben und aßen und wurden ganz blau um Mund und Wangen. Nun hörten sie wieder einen Ruf.
„Wir bekommen Schläge für das Ferkel“ sagte Christine.
„Lass uns zu mir nachhause gehen“ sagte Ib, „Das muss hier im Walde sein.“ Und sie gingen und kamen auf einen Fahrweg, aber heim führte er nicht; es wurde dunkel und sie fürchteten sich. Die seltsame Stille ringsum wurde von dem dumpfen Schrei der Horneulen und anderen unbekannten Vogellauten unterbrochen. Endlich saßen beide in einem Busche fest; Christine weinte und Ib, weinte, und als sie beide wohl eine Stunde geweint hatten, legten sie sich ins Laub und schliefen ein.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie erwachten. Sie froren, aber dicht dabei auf dem Hügel oben schien die Sonne zwischen den Bäumen hindurch, dort konnten sie sich wärmen und von dort aus, meinte Ib, müssten sie auch ihrer Eltern Haus erblicken können. Aber sie waren weit davon entfernt in einem ganz anderen Teil des Waldes. Sie kletterten den Hügel ganz hinauf und standen nun vor einem Abhang an einem klaren, durchsichtigen See, in dem es von Fischen wimmelte, die in der hellen Sonne blitzten. Was sie sahen, war so unerwartet, und dicht daneben stand auch ein großer Busch voller Nüsse; und sie pflückten und knackten und aßen die feinen Kerne, die eben in der Bildung begriffen waren – und dann kam noch eine Überraschung, ein Schrecken. Aus den Büschen hervor trat ein großes, altes Weib, deren Antlitz braun und deren Haare glänzend und schwarz waren; das Weiße in ihren Augen leuchtete wie bei einem Mohren. Sie hatte ein Bündel auf dem Rücken und einen Knotenstock in der Hand; es war eine Zigeunerin. Die Kinder verstanden nicht gleich, was sie sagte. Da nahm sie drei große Nüsse aus ihrer Tasche, in einer jeden lägen die herrlichsten Dinge versteckt, erzählte sie, es seien Wünschelnüsse.
Ib sah sie an, sie war so freundlich, und dann fasste er sich ein Herz und fragte, ob er die Nüsse haben dürfe, und das Weib gab sie ihm und pflückte sich eine ganze Tasche voll Nüsse von dem Busch.
Und Ib und Christine saßen mit großen Augen und sahen die drei Wünschelnüsse an.
„Ist in dieser ein Wagen mit Pferden davor?“ fragte Ib.
„Es ist sogar ein goldener Wagen mit goldenen Pferden“ sagte das Weib.
„Dann gib sie mir“ sagte die kleine Christine, und Ib gab sie ihr, während die Frau die Nüsse in ihr Halstuch knüpfte.
„Ist in dieser hier, so ein hübsches kleines Halstuch, wie Christine es hat?“ fragte Ib.
„Es sind zehn Halstücher darin“ sagte das Weib, „auch feine Kleider und Strümpfe und ein Hut.“
„Dann will ich sie auch haben“ sagte Christine, und der kleine Ib gab ihr auch die andere Nuss; die dritte war eine kleine schwarze.
„Die kannst Du behalten!“ sagte Christine,“ sie ist ja auch ganz hübsch.“
„Und was ist in dieser?“ fragte Ib.
„Das allerbeste für Dich“ sagte das Zigeunerweib.
Und Ib hielt die Nuss fest. Das Weib versprach ihnen, sie auf den rechten Weg nach Hause zu führen, und sie gingen, aber freilich gerade in entgegengesetzter Richtung, als sie hätten gehen müssen. Aber deshalb darf man sie noch nicht beschuldigen, dass sie es darauf anlegte, Kinder zu stehlen.
Mitten im dichten Walde trafen sie den Waldläufer Chrän, der Ib kannte, und durch ihn wurden Ib und die kleine Christine wieder nach Hause gebracht, wo man in großer Angst um sie war. Aber es wurde ihnen verziehen, obwohl sie beide tüchtig die Rute verdient hätten, einmal weil sie das Ferkel hatten ins Wasser fallen lassen, und sodann, weil sie davongelaufen waren.
Christine kam heim in die Heide, und Ib blieb in dem kleinen Waldhaus. Das erste, was er dort am Abend tat, war, dass er die Nuss hervorholte, die das „Allerbeste“ enthielt. – Er legte sie zwischen Tür und Türrahmen, klemmte dann zu und die Nuss knackte. Aber nicht einmal ein Kern war darin. Sie war mit einer Art Schnupftabak oder Torferde gefüllt; sie hatte den Wurmstich, wie man es nennt.
„Ja, das hätte ich mir wohl denken können!“ meinte Ib. „Wo sollte auch in der kleinen Nuss Platz für das Allerbeste sein. Christine bekommt ihre feinen Kleider oder die goldene Kutsche auch nicht zu sehen aus ihren zwei Nüssen.“
Und der Winter kam und das neue Jahr kam.
Es vergingen mehrere Jahre. Ib sollte Konfirmationsunterricht beim Pfarrer haben, und der wohnte weit entfernt. In jener Zeit kam eines Tages der Schiffer und erzählte bei Ibs Eltern, dass die kleine Christine nun aus dem Hause solle, um ihr Brot zu verdienen. Es sei ein wahres Glück für sie, dass sie in gute Hände käme, sie habe bereits eine Stellung bei recht braven Leuten. Sie solle zu den reichen Krugwirtsleuten in Herning, das weiter nach Westen lag, ziehen. Dort solle sie der Hausfrau zur Hand gehen und später, wenn sie sich schickte und eingesegnet war, wollten sie sie behalten.
Ib, und Christine nahmen Abschied voneinander; sie wurden jetzt als versprochen angesehen. Sie zeigte ihm beim Abschied, dass sie noch immer die beiden Nüsse habe, die sie damals von ihm bekommen hatte, als sie verirrt im Walde umherliefen; sie sagte auch, dass sie in ihrer Wäschekiste die kleinen Holzschuhe aufbewahrte, die er als Knabe geschnitzt und ihr geschenkt hätte. Dann schieden sie.
Ib wurde eingesegnet, aber er blieb in seiner Mutter Haus; denn er war ein geschickter Holzschuhmacher und bearbeitete auch im Sommer das kleine Ackerfeld, dass es aufs beste gedieh. Seine Mutter hatte nur noch ihn, Ibs Vater war tot.
Nur selten, und dann durch einen Postboten oder durch einen Aalhändler, hörte man von Christine. Es ging ihr gut bei dem reichen Krugwirte, und als sie eingesegnet war, schrieb sie an ihren Vater einen Brief mit einem Gruße auch an Ib und seine Mutter. Im Briefe stand noch von sechs neuen Hemden und einem herrlichen Kleid, das Christine von ihrer Herrschaft bekommen hatte. Das waren wirklich gute Nachrichten.
Im nächsten Frühjahr, an einem schönen Tage, klopfte es an Ibs und seiner Mutter Tür. Es war der Schiffer mit Christine. Sie war für einen Tag zu Besuch gekommen. Es hatte sich gerade Gelegenheit zu einer Fahrt bis in die Nähe und wieder zurück geboten, und die hatte sie benützt. Sie war hübsch und sah wie ein feines Fräulein aus. Und schöne Kleider hatte sie an, die gut gearbeitet waren und zu ihr passten. Da stand sie nun in ihrem vollen Staat, und Ib war in seiner alten Werktagskleidung. Er konnte gar keine Worte finden. Wohl nahm er ihre Hand, hielt sie fest und war so herzlich froh, aber den Mund konnte er nicht gebrauchen. Dafür konnte es die kleine Christine um so besser, und sie sprach und hatte so viel zu erzählen und küsste Ib mitten auf den Mund.
„Kennst Du mich auch wieder?“ fragte sie. Aber selbst als sie beide allein waren und er noch immer mit ihrer Hand in der, seinen stand, war alles, was er sagen konnte: „Du bist ja eine feine Dame geworden! Und ich sehe so armselig dagegen aus. Wie oft ich an Dich gedacht habe. An Dich und die alten Zeiten.“
Und dann gingen sie Arm in Arm den Hügel hinauf und schauten über Gudenaa nach der Seiser Heide mit den großen Heidehügeln hin, aber Ib sagte nichts. Doch als sie sich trennten, war er sich darüber klar geworden, dass sie seine Frau werden müsse; sie waren ja von klein auf Liebesleute genannt worden und waren, so schien es ihm, ein verlobtes Paar, obgleich keines von ihnen selbst es gesagt hatte.
Nur einige Stunden noch konnten sie zusammen sein, denn sie musste wieder dorthin, von wo am nächsten Morgen der Wagen abfuhr. Der Vater und Ib begleiteten sie. Es war heller Mondschein und als sie angekommen waren, hielt Ib, noch immer ihre Hand und konnte sie nicht loslassen. In seinen Augen stand sein ganzes Herz geschrieben, aber die Worte fielen nur spärlich, doch jedes einzige kam aus innerstem Herzen: „Wenn Du Dich nicht zu fein gewöhnt hast,“ sagte er, „und Du könntest Dir denken, in unserer Mutter Haus mit mir als Deinem Ehemann zu leben, dann werden wir beiden einmal Mann und Frau – aber wir können ja noch ein wenig warten!“
„Ja, lass uns die Zeit abwarten, Ib!“ sagte sie; und dann drückte sie seine Hand und er küsste sie auf den Mund. „Ich vertraue auf Dich, Ib!“ sagte Christine, „und ich glaube, dass ich Dich lieb habe! Aber lass es mich beschlafen!“
Dann schieden sie. Ib sagte zu dem Schiffer, dass er und Christine nun so gut wie verlobt seien, und der Schiffer fand, dass es so wäre, wie er es sich gedacht bebe; und er ging mit Ib nach Hause und schlief dort in einem Bett mit ihm, und es wurde über die Verlobung nicht mehr gesprochen.
Ein Jahr war darüber vergangen; zwei Briefe waren zwischen Ib, und Christine gewechselt worden; „Treu bis zum Tode!“ stand als Unterschrift darin. Eines Tages trat der Schiffer zu Ib herein, er brachte ihm einen Gruß von Christine; was er weiter zu sagen hatte, ging ihm ein wenig schwer von der Zunge, aber es war daraus zu entnehmen, dass es Christine wohl gehe, mehr als wohl sogar, sie wäre ja ein hübsches Mädchen und geachtet und beliebt. Des Krugwirts Sohn wäre zu einem Besuch zu Hause gewesen; er wäre in Kopenhagen in einem Kontor beschäftigt und habe dort eine große Stellung. Er möge Christine wohl leiden und sie fände ihn auch nach ihrem Sinn, seine Eltern wären ebenfalls nicht dagegen, aber es lag doch Christine schwer auf dem Herzen, dass wohl Ib noch immer an sie dächte, und so hätte sie beschlossen, das Glück von sich zu stoßen, sagte der Schiffer.
Ib sagte zuerst kein Wort, aber er wurde so weiß wie ein leinenes Tuch; dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Christine darf ihr Glück nicht von sich stoßen!“
„Schreibe ihr das in ein paar Worten!“ sagte der Schiffer.
Und Ib schrieb, aber er konnte nicht recht die Worte setzen, wie er wollte und strich durch und zerriss, aber am Morgen war ein Brief an die kleine Christine zustande gebracht, und hier ist er.
„Den Brief an Deinen Vater habe ich gelesen und sehe daraus, dass es Dir in jeder Beziehung wohl geht und Du es noch besser haben könntest! Frage Dein Herz, Christine! und bedenke wohl, was Deiner wartet, wenn Du mich nimmst! Was mein ist, ist nur geringe. Denke nicht an mich und wie ich es tragen werde, denke nur an Deinen eigenen Nutzen. An mich bist Du durch kein Versprechen gebunden, und hast Du mir in Deinem Herzen eins gegeben, so löse ich Dich davon. Alles Glück der Welt sei mit Dir, kleine Christine. Der liebe Gott wird wohl auch für mein Herz Trost wissen.
Immer Dein aufrichtiger Freund
Ib.“
Und der Brief wurde abgesandt und Christine bekam ihn.
Um Martini wurde sie in der Kirche in der Seiser Heide und in Kopenhagen, wo der Bräutigam war, aufgeboten, und dorthin reiste sie mit ihrer Schwiegermutter, da der Bräutigam wegen seiner vielen Geschäfte nicht so weit fortreisen konnte. Christine war, wie verabredet, mit ihrem Vater in einem kleinen Dorfe, das auf ihrem Wege lag, zusammengetroffen; dort nahmen sie voneinander Abschied. Es fielen darüber ein paar Worte, aber Ib sagte nichts dazu, er wäre so nachdenklich geworden, sagte seine alte Mutter. Ja, nachdenklich war er, und deshalb kamen ihm auch die drei Nüsse nicht aus dem Sinn, die er als Kind von der Zigeunerin bekommen und von denen er zwei Christine abgegeben hatte. Es waren wirklich Wünschelnüsse gewesen. In den ihren hatten ja ein goldener Wagen und Pferde und schöne Kleider gelegen; es traf bei ihr zu. All diese Herrlichkeiten sollte sie nun drüben in Kopenhagen haben! Bei ihr ging es in Erfüllung. – Für Ib war in der Nuss nur der schwarze Staub. „Das Allerbeste“ für ihn, hatte das Zigeunerweib zu ihm gesagt, – ja, auch das ging in Erfüllung. Der schwarze Staub war für ihn das Beste. Nun verstand er deutlich, was das Weib damit gemeint hatte: die schwarze Erde, des Grabes Stille waren für ihn das Allerbeste. Und es vergingen Jahre darüber – nicht viele, aber Ib, erschienen sie lang. Die alten Krugwirtsleute starben, einer kurz nach dem anderen; das ganze Vermögen, viele tausend Reichstaler, ging auf den Sohn über. Ja, nun konnte Christine wohl eine Kutsche und schöne Kleider bekommen!
Zwei lange Jahre hindurch, die nun folgten, kam kein Brief von Christine, und als dann der Vater einen bekam, war er nicht mehr in Wohlstand und Vergnügen geschrieben. Arme Christine! Weder sie noch ihr Mann hatten es verstanden, mit dem Reichtum Maß zu halten, er verging, wie er gekommen war, es ruhte kein Segen darauf; sie hatten es selbst so gewollt.
Die Heide stand in Blüte und die Heide verdorrte wieder. Der Schnee hatte manchen Winter über die Heide gefegt und über die Anhöhe, in deren Schutz Ib wohnte. Die Frühjahrssonne schien und Ib ließ den Pflug durch die Erde ziehen. Da stieß er damit, wie es ihm schien, an einen Feuerstein. Es kam ein großer, schwarzer Hobelspan über die Erde hervor, und als Ib ihn in die Hand nahm, fühlte er, dass er von Metall war, und an der Stelle, wo der Pflug daran geschlagen war, blitzte es blank. Es war ein schwerer goldener Armring aus dem heidnischen Altertum. Ein Hünengrab war hier geebnet worden und sein kostbarer Schmuck gefunden. Ib zeigte ihn dem Pfarrer, der ihm sagte, was das für ein herrliches und wertvolles Stück sei, und von ihm ging Ib, zum Landrat, der darüber nach Kopenhagen berichtete und Ib, anriet, den kostbaren Fund selbst zu überbringen.
„Du hast in der Erde das Köstlichste gefunden, was sie Dir zu geben vermag!“ sagte ihm der Landrat.
„Das Beste“ dachte Ib, „Das Allerbeste für mich – in der Erde. Dann hatte das Zigeunerweib also auch mit mir recht, wenn dies das Beste war.“
Und Ib, fuhr mit der Fähre von Aarhuus nach Kopenhagen; es war für ihn, der bisher nur nach Gudenaa hinübergekommen war, wie eine Reise übers Weltmeer. Und er kam nach Kopenhagen.
Der Wert des gefundenen Goldes wurde ihm ausbezahlt; es war eine große Summe, sechshundert Reichstaler. Da wanderte nun Ib, aus dem Walde bei der Seiser Heide- in dem großen, lärmenden Kopenhagen umher.
Es war gerade an dem Abend, als er mit einem Schiffer wieder nach Aarhuus zurückfahren wollte, als er sich in den Straßen verirrte und in eine ganz andere Richtung geriete als er eigentlich wollte. Er war über die Knippelsbrücke nach Christianshafen gekommen anstatt zum Walle beim Westtor. Er war ganz richtig nach Westen gesteuert, aber nicht dorthin, wohin er sollte. Nicht ein Mensch war in den Straßen zu sehen. Da kam ein ganz kleines Mädchen aus einem der ärmlichen Häuser. Ib fragte sie nach dem Wege und die Kleine blickte auf. Da sah er, dass sie heftig weinte. Nun fragte er sie, was ihr fehle; sie sagte etwas, was er nicht verstand, und als sie beide unter eine Laterne kamen, deren Schein ihr Gesichtchen beleuchtete, wurde es ihm ganz wunderlich zumute; denn es war leibhaftig die kleine Christine, die da vor ihm stand, ganz wie er sich ihrer erinnerte, als sie beide noch Kinder waren.
Und er ging mit dem kleinen Mädchen in das ärmliche Haus, die schmale, ausgetretene Treppe hinauf bis zu einer kleinen, verkommenen Kammer hoch oben unter dem Dache. Es war eine schwere stickige Luft darin, kein Licht war entzündet, und in einer Ecke seufzte es und mühsame Atemzüge drangen daraus hervor. Ib strich ein Zündholz an. Es war die Mutter des Kindes, die in dem ärmlichen Bette lag.
„Kann ich Euch mit irgendetwas helfen?“ sagte Ib. „Die Kleine hat mich auf der Straße getroffen, aber ich bin selbst fremd hier in der Stadt. Ist hier kein Nachbar oder irgend jemand, den ich Euch rufen könnte?“ – Und er richtete ihr Haupt in die Höhe.
Es war Christine aus der Seiser Heide.
Jahre hindurch war ihr Name daheim in Jütland nicht mehr genannt worden, es würde Ibs stillen Gedankengang aufgerührt haben, und es war ja auch nichts Gutes, was Gerücht und Wahrheit meldeten, dass das viele Geld, das ihr Mann von seinen Eltern geerbt hatte, ihn übermütig und leichtlebig gemacht hätte. Er hatte seine feste Stellung aufgegeben und war ein halbes Jahr im Auslande umhergereist, dann kehrte er zurück, machte Schulden über Schulden, der Wagen neigte sich immer mehr und endlich stürzte er um. Seine vielen lustigen Tischfreunde sagten von ihm, es sei ihm nur nach Verdienst geschehen, er habe ja darauf los gelebt wie ein Narr. Eines Morgens war seine Leiche im Schlosskanal gefunden worden.
Nach seinem Tode ging Christine in sich; ihr jüngstes Kindchen, im Wohlstand empfangen, im Elend geboren, war, nur einige Wochen alt, gestorben und ruhte im Grabe, und jetzt war es mit Christine so weit gekommen, dass sie todkrank und verlassen in einer elenden Kammer lag, so elend, wie sie es in ihren jungen Jahren in der Seiser Heide wohl hätte ertragen können; aber nun, da sie es besser gewöhnt war, fühlte sie ihr Elend doppelt. Es war ihr ältestes Kind, auch eine kleine Christine, die Not und Hunger mit ihr litt und die Ib zu ihr heraufgebracht hatte.
„Ich habe Angst für das arme Kind, wenn ich sterbe“ brachte sie seufzend hervor, „wo in aller Welt soll es dann hin.“ – Mehr konnte sie nicht sagen.
Ib brannte wieder ein Zündhölzchen an und fand einen Lichtstumpf, den er anzündete, nun fiel der trübe Lichtschein auf all das Elend in der Kammer.
Ib sah des kleine Mädchen an und dachte an Christine in ihren jungen Jahren. Um Christines willen konnte er ja an diesem Kinde, das er nicht kannte, Gutes tun. Die Sterbende sah ihn an, ihre Augen wurden größer und größer. – Erkannte sie ihn? Nie erfuhr er das, kein Wort mehr hörte er sie sprechen.
Es war im Walde bei Gudenaa in der Seiser Heide; die Luft war grau, die Heide stand ohne Blüten. Die Weststürme trieben das gelbe Laub der Wälder in den Fluss und über die Heide, wo das Torfhaus stand. Fremde Leute wohnten darin; aber am Fuße des Landrückens, im Schutze hoher Bäume, stand das kleine Haus, weiß und schmuck. Im Kachelofen in der Stube brannten Torfstücken, in der Stube hier war Sonnenschein, er strahlte aus zwei Kinderaugen, Frühling und Lerchengezwitscher klangen aus dem roten, lachenden Mund, Leben und Fröhlichkeit herrschten hier; es war die kleine Christine, die auf Ibs Knien saß. Ib war ihr Vater und Mutter, die beide von ihr gegangen waren, wie ein Traum vergeht. Ib saß in dem netten, reinlichen Hause, ein wohlhabender Mann; die Mutter des kleinen Mädchens lag auf dem Armenfriedhof in der Königstadt Kopenhagen.
Ib hatte Geld im Kasten, sagte man. Gold aus der Erde, und er hatte ja auch die kleine Christine.

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1855 zum ersten mal in dem Buch namens ”Historier. 1855” veröffentlicht.

Hühner-Gretes Familie

Original-Übersetzung

 

Hühner-Grete war der einzige ansässige Mensch in dem neuen stattlichen Haus, das für die Hühner und Enten auf dem Rittergut gebaut war; es stand da, wo das alte Ritterschloss gestanden hatte, mit Turm, gezacktem Giebel, Wallgraben und Zugbrücke. Dicht daneben war eine Wildnis von Bäumen und Büschen; hier war einst der Garten gewesen, er hatte sich bis hinab an den großen See erstreckt, der jetzt nur noch ein Moor war. Krähen, Dohlen und Elstern flogen mit Schreien und Krächzen über die alten Bäume hin, eine wimmelnde Menge von Vögeln; es wurden ihrer nicht weniger, wenn man in den Schwarm hineinschoss, sie vermehrten sich eher noch. Man konnte sie bis ins Hühnerhaus hinein hören, wo Hühner-Grete saß und die kleinen Entlein ihr über die Holzschuhe liefen. Sie kannte jedes Huhn, jede Ente, von dem Augenblick an, wo sie aus dem Ei krochen. Wie stolz war sie auf ihre Hühner und ihre Enten, stolz auf das stattliche Haus, das jetzt für sie gebaut war. Reinlich und nett war ihre kleine Stube, das verlangte die Frau des Gutsbesitzers, der das Hühnerhaus gehörte; sie kam oft mit ihren feinen vornehmen Gästen hierher und zeigte die Hühner- und Entenkaserne, wie sie das Hühnerhaus nannte.
Da waren ein Kleiderschrank und ein Lehnstuhl, ja, da war auch eine Kommode, und darauf stand eine blankgeputzte Messingplatte aufgestellt, in die das Wort „Grubbe“ eingraviert war, und das war gerade der Name des alten hochadligen Geschlechts, das hier in der Ritterburg gewohnt hatte. Die Platte war gefunden worden, als man hier grub, und der Küster sagte, sie habe keinen weiteren Wert als den einer alten Erinnerung. Der Küster wusste gut Bescheid über das Gut und die alten Zeiten, er hatte seine Gelehrsamkeit aus Büchern; es lag so viel Geschriebenes in seiner Tischschublade. Er wusste viel von den alten Zeiten, aber die älteste Krähe wusste vielleicht doch noch mehr und schrie es auf ihre Sprache in die Welt hinaus, die verstand jedoch der Küster nicht, wie klug er auch war.
Nach einem warmen Sommertag konnte das Moor so dunsten, dass es vor den alten Bäumen, in denen die Krähen, Dohlen und Elstern hausten, dalag wie ein ganzer See; so hatte es hier ausgesehen, als Ritter Grubbe noch lebte und das alte Schloss mit roten, dicken Mauern dastand. Damals reichte die Hundekette ganz bis vor das Tor; durch den Turm gelangte man in den steingepflasterten Gang, der zu den Gemächern führte. Die Fenster waren schmal, die Fensterscheiben klein, selbst in dem großen Saal, wo der Tanz abgehalten wurde, aber zur Zeit des letzten Grubbe war seit Mannesgedenken nicht getanzt worden, und doch lag da eine alte Kesseltrommel, die bei der Musik benutzt worden war. Hier stand ein kunstvoll geschnitzter Schrank, darin wurden seltene Blumenzwiebeln aufbewahrt, denn Frau Grubbe liebte es, zu pflanzen und Bäume und Kräuter zu ziehen; ihr Gemahl ritt lieber aus, um Wölfe und Wildschweine zu schießen und stets begleitete ihn seine kleine Tochter Marie. In einem Alter von fünf Jahren saß sie stolz zu Ross und sah mit großen schwarzen Augen kühn um sich. Es war ihre Lust, mit der Peitsche zwischen die Jagdhunde zu schlagen; der Vater sah es freilich lieber, dass sie zwischen die Bauernjungen schlug, die kamen, um die Herrschaft vorbeireiten zu sehen.
Der Bauer in der Erdhütte dicht am Schloss hatte einen Sohn Sören im selben Alter mit der kleinen hochadeligen Jungfer, er verstand sich auf das Klettern und musste immer in die Bäume hinauf, um Vogelnester für sie auszunehmen. Die Vögel schrieen, so laut sie nur schreien konnten, und einer der größten hackte ihn gerade über das Auge, so dass das Blut herausströmte, man glaubte, das Auge sei mit draufgegangen, aber es hatte doch keinen Schaden gelitten. Marie Grubbe nannte ihn ihren Sören, das war eine große Gunst, und die kam dem Vater, dem dummen Jörn, zugute; er hatte sich eines Tages versehen, sollte gestraft werden und auf dem hölzernen Pferd reiten: das stand auf dem Hofe mit vier Pfählen statt der Beide und einem schmalen Brett als Rücken; darüber solle Jörn rittlings reiten, und ein paar schwere Mauersteine sollten ihm an die Beine gebunden werden, damit er nicht allzu leicht saß; er schnitt schreckliche Grimassen, Sören weinte und flehte die kleine Marie an; sofort befahl sie, dass Sörens Vater heruntersteigen solle, und als man ihr nicht gehorchte, stampfte sie mit den Füßen auf das Steinpflaster und zerrte an des Vaters Rockärmel, so dass er zerriss. Sie wollte, was sie wollte, und sie bekam ihren Willen, Sörens Vater wurde befreit. Frau Grubbe, die herzukam strich ihrer kleinen Tochter über das Haar und sah sie mit sanften Augen an, Marie verstand nicht, weshalb.
Zu den Jagdhunden wollte sie hinein und nicht mit der Mutter gehen, die dem Garten zuschritt, hinab an den See, wo die Wasserrosen in Blüte standen, wo sich Rohrkolben und Wasserviolen zwischen dem Röhricht wiegten; sie betrachtete all die Üppigkeit und Frische.
„Wie angenehm!“ sagte sie. In dem Garten stand ein zu jener Zeit seltener Baum, den sie selbst gepflanzt hatte, „Blutbuche“ wurde er genannt, eine Art Mohr zwischen den andern Bäumen, so schwarzbraun waren die Blätter; er musste starken Sonnenschein haben, sonst würde er im Schatten grün werden wie die andern Bäume und also seine Eigentümlichkeit verlieren. In den hohen Kastanien waren viele Vogelnester, ebenso in den Büschen und zwischen den grünen Kräutern. Es war, als wüssten die Vögel, dass sie hier geschützt waren, hier durfte niemand mit der Flinte knallen.
Die kleine Marie kam mit Sören hierher; dass er klettern konnte, wissen wir, und es wurden Eier und flaumige Junge aus den Nestern geholt. Die Vögel flogen in Angst und Schrecken davon, kleine und große flogen“ Der Kiebitz draußen vom Felde, Dohlen, Krähen und Elstern flogen in die hohen Bäume und schrieen und schrieen, es war ein Geschrei, wie es das Vogelvolk noch heutigentags anstimmen kann.
„Was macht ihr denn da, Kinder? rief die sanfte Frau. „Das ist ja ein gottloses Unterfangen!“
Sören stand ganz verlegen da, die kleine hochadelige Jungfer sah auch ein wenig zur Seite, dann aber sagte sie kurz und energisch. „Mein Vater erlaubt es mir!“
„Raus! Raus!“ schrieen die großen schwarzen Vögel und flogen davon; am nächsten Tage aber kamen sie wieder, denn hier waren sie zu Hause.
Die stille, sanfte Frau hingegen behielt ihr Heim dort nicht lange, der liebe Gott nahm sie zu sich, bei ihm hatte sie auch ihre wirkliche Heimat, weit mehr als hier im Schloss; und die Kirchenglocken läuteten prächtig, als ihre Leiche zur Kirche gefahren wurde, die Augen der armen Leute wurden feucht, denn sie war ihnen eine gute Herrin gewesen.
Als sie heimgegangen war, nahm sich niemand ihrer Anpflanzungen an, und der Garten verfiel.
Herr Grubbe sei ein harter Mann, so sagte man, aber die Tochter, so jung sie auch war, konnte ihn zügeln; er musste lachen, und sie bekam ihren Willen. Jetzt war sie zwölf Jahre alt und starkgliedrig von Wuchs; sie sah mit ihren schwarzen Augen gerade in die Menschen hinein, ritt ihr Pferd wie ein Bursche und schoss ihre Büchse ab wie ein geübter Jäger.
Es kam hoher Besuch in die Gegend der allervornehmste, der junge König und sein Halbbruder und Kamerad, Herr Ulrik Frederik Gyldenlöve; sie wollten dort wilde Schweine schießen und in Herrn Grubbes Schloss übernachten.
Gyldenlöve saß bei Tische neben Marie Grubbe, er nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und gab ihr einen Kuss, als wenn sie miteinander verwandt gewesen wären, sie aber gab ihm einen Schlag auf den Mund und sagte, sie könne ihn nicht ausstehen, und darüber ward weidlich gelacht, als wenn es etwas Ergötzliches sei.
Das ist es vielleicht auch gewesen; denn fünf Jahre später, als Marie ihr siebzehntes Jahr vollendet hatte, kam ein Bote mit einem Brief; Herr Gyldenlöve bat um die Hand der hochadeligen Jungfer; das war etwas!
„Es ist der vornehmste und galanteste Herr im Reich!“ sagte Herr Grubbe. „Das ist nicht zu verachten!“
„Viel mache ich mir nicht aus ihm!“ sagte Marie Grubbe, aber sie wies den vornehmsten Mann des Landes nicht ab, der an des Königs Seite saß.
Silbergerät, Leinenzeug und gewebte Wollstoffe gingen per Schiff nach Kopenhagen; sie machte die Reise zu Land in zehn Tagen. Die Aussteuer hatte widrigen Wind oder gar keinen Wind; es vergingen vier Monate, bis sie ankam, und als sie kam, war Frau Gyldenlöve weg.
„Eher will ich auf hedenem Laken liegen als in seinem seidenen Bett!“ sagte sie. „Lieber gehe ich auf bloßen Beinen, als das ich mit ihm in der Kutsche fahre!“
An einem späten Abend im November kamen zwei Frauen in die Stadt Aarhus geritten, es waren Gyldenlöves Gemahlin, Marie Grubbe, und ihre Magd; sie kamen aus Vejle, dahin waren sie per Schiff von Kopenhagen gekommen. Sie ritten nach Herrn Grubbes festgemauertem Schloss. Er war nicht sehr erfreut über den Besuch. Er empfing sie mit zornigen Worten, gab ihr aber doch eine Kammer, in der sie ausruhen konnte. Speise und Trank erhielt sie, aber keine freundliche Behandlung; all das Böse, das im Vater wohnte, kam gegen sie zum Vorschein, und daran war sie nicht gewöhnt; auch sie war nicht sanften Sinnes, und wie man in den Wald hineinruft, so ruft es wieder heraus; sie gab bissige Antworten und sprach mit Hass und Bitterkeit von ihrem Eheherrn, mit dem sie nicht leben wollte, weil sie zu ehrbar und anständig war.
So verging ein Jahr, und es verging nicht gerade ergötzlich. Es fielen böse Worte zwischen Vater und Tochter, und das sollte niemals sein. Böse Worte tragen böse Frucht. Was für ein Ende sollte das nehmen?
„Wir beide können nicht unter einem Dache bleiben“, sagte eines Tages der Vater. „Ziehe du fort von hier auf unser altes Gut, aber beiße dir eher die Zunge ab, als dass du Lügen in Umlauf bringst!“
Und dann schieden die beiden voneinander; sie zog mit ihrer Magd nach dem alten Gut, wo sie geboren und aufgewachsen war, wo die stille, fromme Frau, ihre Mutter, in der Grabkammer der Kirche lag; ein alter Viehhirt wohnte auf dem Gut, das war die ganze Dienerschaft. In den Zimmern hing Spinnengewebe, schwarz und schwer von Staub, der Garten wuchs so, wie er wollte, Hopfenranken und Winden schlangen ein Netz zwischen Bäume und Büsche, Schierling und Nessel breiteten sich immer dichter und kräftiger aus. Die Blutbuche war überwuchert und stand im Schatten, ihre Blätter waren jetzt grün wie die der anderen gewöhnlichen Bäume, mit ihrer Herrlichkeit war es vorbei. Dohlen, Krähen und Elstern flogen, ein wimmelnder Schwarm, über den hohen Kastanienbäumen hin, da war ein Lärmen und Schreien, als hätten sie einander wichtige Neuigkeiten zu erzählen.
Jetzt war sie wieder hier, die Kleine, die ihre Eier und Jungen hatte stehlen lassen; der Dieb selber, der sie holte, kletterte jetzt draußen auf blätterlosen Bäumen, saß in dem hohen Mast und bekam seine tüchtigen Prügel mit dem Tauende, wenn er sich nicht schickte.
Das alles erzählte in unserer Zeit der Küster; er hatte es gesammelt und aus Büchern und Aufzeichnungen zusammengestellt; es lag mit viel anderem Geschriebenen in der Tischschublade.
„Auf und nieder, das ist der Welt Lauf!“ sagte er. „Es ist wunderlich zu hören!“ – und wir wollen gern hören, wie es Marie Grubbe erging, deswegen vergessen wir doch die Hühner-Grete nicht, sie sitzt zu unserer Zeit in ihrem stattlichen Hühnerhaus. Marie Grubbe saß zu ihrer Zeit auf dem alten Gut, aber nicht mit dem zufriedenen Sinn wie die alte Hühner-Grete.
Der Winter verging, der Frühling und der Sommer vergingen, dann kam wieder die raue, stürmische Herbstzeit mit den nassen, kalten Meernebeln. Es war ein einsames Leben, ein eintöniges Leben dort auf dem Gut.
Da nahm Marie Grubbe ihre Flinte und ging in die Heide hinaus, schoss Hasen und Füchse, schoss, was sie nur treffen konnte. Da draußen begegnete sie mehr als einmal dem adligen Herrn Paale Dyre aus Nörrebak, auch er ging mit seiner Flinte und mit seinen Hunden. Er war groß und stark, des rühmte er sich, wenn sie miteinander redeten. Er hätte sich mit dem seligen Herrn Brokkenhuus auf Egeskov auf Fünen messen können, von dessen Stärke soviel Wesens gemacht wurde. – Palle Dyre hatte nach seinem Beispiel in seinem Tor eine eiserne Kette mit einem Jägerhorn aufhängen lassen, und wenn er nach Hause ritt, ergriff er die Kette, hob sich mit dem Pferd von der Erde und blies auf dem Horn.
„Kommt selbst und seht es Euch an, Frau Marie!“ sagte er. „Auf Nörrebak weht ein frischer Wind!“
Wann sie auf sein Schloss kam steht nicht aufgezeichnet, aber auf den Leuchtern in der Nörrebaker Kirche war zu lesen, dass sie von Palle Dyre und Marie Grubbe auf Nörrebak geschenkt seien.
Körper und Kräfte hatte Palle Dyre, er trank wie ein Schwamm, er war wie eine Tonne, die nicht zu füllen ist, er schnarchte wie ein ganzer Schweinestall; rot und aufgedunsen sah er aus.
„Verschlagen und boshaft ist er!“ sagte Frau Palle Dyre, Grubbes Tochter. Bald hatte sie das Leben satt, aber dadurch wurde es doch nicht besser.
Eines Tages stand der Tisch gedeckt, und das Essen wurde kalt; Palle Dyre war auf der Fuchsjagd, und die Hausfrau war nicht zu finden. – Palle Dyre kam um Mitternacht wieder, Frau Dyre kam weder um Mitternacht noch am Morgen, sie hatte Nörrebak den Rücken gewendet, war ohne Gruß und Abschied davon geritten.
Es war graues, nasses Wetter; der Wind wehte kalt, es flog ein Schwarm schwarzer schreiender Vögel über sie hin, sie waren nicht so obdachlos wie sie. Zuerst zog sie gen Süden, ganz hinunter bis an das Deutsche Reich, ein paar goldene Ringe mit kostbaren Steinen wurden in Geld umgesetzt, dann ging sie gen Osten, dann kehrte sie um und ritt wieder gen Westen, sie hatte kein Ziel vor Augen, sie war zornig auf alle, selbst auf den lieben Gott, so elend war ihr Sinn; bald war auch ihr Körper elend, sie konnte kaum mehr den Fuß rühren. Der Kiebitz flog von seinem Erdhaufen aus, als sie darüber strauchelte; der Vogel schrie: „Du Dieb“ Du Dieb!“, wie er immer zu schreien pflegt. Nie hatte sie ihres Nächsten Gut gestohlen, aber Vogeleier und junge Vögel hatte sie sich als kleines Mädchen aus Erdhaufen und Bäumen holen lassen; daran dachte sie jetzt.
Da, wo sie lag, konnte sie die Dünen am Strande sehen. Dort wohnten Fischer, aber so weit konnte sie nicht kommen, sie war zu krank dazu. Die großen weißen Strandmöwen kamen über sie hingeflogen und schrieen, wie daheim die Dohlen, die Krähen und die Elstern über den Bäumen des Gartens geschrieen hatten. Die Vögel flogen ganz nahe an sie heran, schließlich schien es ihr, als würden sie kohlschwarz, aber dann ward es auch Nacht vor ihren Augen.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war sie gehoben und getragen; ein großer, starker Bursche hatte sie auf seine Arme genommen. Sie sah ihm gerade in sein bärtiges Gesicht, er hatte eine Narbe über dem Auge, so dass die Augenbraue gleichsam in zwei Teile geteilt war; er trug sie, so elend sie war, nach dem Schiff, wo er von dem Schiffer mit bösen Worten empfangen wurde. Am Tage darauf segelte das Schiff. Marie Grubbe kam nicht an Land; sie fuhr also mit. Aber sie kam doch wohl zurück? Ja, wann und wo?
Auch davon wusste der Küster zu erzählen, und es war dies keine Geschichte, die er selber zusammensetzte, er hatte den ganzen eigentümlichen Verlauf aus einem glaubwürdigen alten Buch, das wir selber nehmen und lesen können. Der dänische Geschichtsschreiber Ludwig Holberg, der so viele lesewürdige Bücher und die ergötzlichen Komödien geschrieben hatte, aus denen wir so recht seine Zeit und ihre Menschen kennen lernen können, erzählt in seinen Briefen von Marie Grubbe, wie und wo er ihr in der Welt begegnet ist. Es verlohnt sich schon, das zu hören, darum vergessen wir die Hühner-Grete keineswegs, sie sitzt zufrieden und wohlgeborgen in dem stattlichen Hühnerhaus.
Das Schiff segelte von dannen mit Marie Grubbe; da waren wir ja stehen geblieben.
Jahre auf Jahre vergingen.
In Kopenhagen wütete die Pest, es war im Jahre 1711. Die Königin von Dänemark begab sich in ihre deutsche Heimat, der König verließ die Hauptstadt des Reiches, wer konnte, wandte der Stadt den Rücken. Einer von den Studenten, die noch in Borchs Kollegium, der Freiwohnung für Musensöhne, geblieben waren, zog nun auch von dannen. Es war in der Frühe des Morgens um zwei Uhr; er kam mit seinem Ranzen, der mehr mit Büchern und beschriebenen Papieren gefüllt war als gerade mit Kleidungsstücken. Ein kalter, feuchter Nebel lag über der Stadt, auch nicht ein Mensch war in der ganzen Straße zu sehen, die er durchschritt, ringsumher an Haustüren und Torwegen waren Kreuze gemalt, da drinnen herrschte die Seuche, oder die Bewohner waren ausgestorben. Auch in der breiteren, gewundenen Kjödmangergade, wie die Straße hieß, die vom runden Turm auf das Schloss des Königs zuführte, war niemand zu erblicken. Jetzt rasselte ein großer Leichenwagen vorüber; der Kutscher schwenkte die Peitsche, die Pferde jagten im Galopp dahin, der Wagen war mit Toten angefüllt. Der junge Student hielt die Hand vor das Gesicht und roch an einem starken Spiritus, den er auf einem Schwamm in einer Messingbüchse bei sich trug. Aus einer Kneipe in einer der Seitengassen erschollen kreischender Gesang und unheimliches Gelächter von Leuten, die die Nacht vertranken, um zu vergessen, dass die Seuche vor der Tür stand und auch sie auf den Leichenwagen laden wollte zu den andern Toten. Der Student lenkte seine Schritte der Schlossbrücke zu, wo ein paar kleine Schiffe lagen; eins davon lichtete gerade die Anker, um aus der pestverseuchten Stadt fortzukommen.
„Wenn uns Gott am Leben lässt und wir günstigen Wind haben, gehen wir in den Grönsund bei Falster“, sagte der Schiffer und fragte den Studenten, der mitwollte, nach seinem Namen.
„Ludwig Holberg!“ sagte der Student, und der Name klang wie jeder andere Name, jetzt klingt uns darauf einer des stolzesten Namen Dänemarks entgegen; damals war er nur ein junger, unbekannter Student.
Das Schiff glitt an dem Schloss vorüber. Es war noch nicht heller Morgen, als sie in das offene Fahrwasser hinausgelangten. Es kam eine leichte Brise auf, die Segel blähten sich, der junge Student setzt sich so, dass ihm der frische Seewind ins Gesicht blies, und bald war er eingeschlafen. Das war nun auch das Vernünftigste, was er tun konnte.
Schon am dritten Morgen lag das Schiff vor Falster.
„Kennt Ihr hier jemand am Ort, bei dem ich gegen Entgelt Unterkunft finden kann?“ frage Holberg den Kapitän.
„Ich glaube, Ihr werden gut daran tun, zu der Fährfrau im Borrehaus zu gehen!“, sagte der. „Wenn Ihr sehr galant sein wollt, so redet sie Mutter Sören Sörensen Möller an! Doch es kann sein, dass es ihr nicht ansteht, wenn Ihr zu fein mit ihr verkehrt; der Mann sitzt wegen einer Missetat; sie selber führt das Fährboot, ein Paar Fäuste hat sie!“
Der Student nahm seinen Tornister und ging nach dem Fährhaus. Die Tür war nicht abgeschlossen, der Türgriff gab nach, und er betrat eine gepflasterte Stube, in der die Bettbank mit einer großen Felldecke das hauptsächlichste Stück Möbel war. Eine weiße Henne mit Küchlein war an die Bettbank gebunden und hatte den Wassernapf umgestoßen, so dass das Wasser über den Fußboden floss. Weder hier noch in der Kammer nebenan war ein Mensch zu sehen, da war nur eine Wiege mit einem Kind darin. Das Fährboot kam zurück, es saß nur eine Person darin, ob Mann oder Frau, war nicht leicht zu sagen. Ein großer Mantel verhüllte die Gestalt, und der Kopf verschwand in einer Kapuze. Das Boot legte an.
Es war eine Frau, sie kam und trat in die Stube. Sie sah recht ansehnlich aus, als die ihren Rücken gerade reckte; zwei stolze Augen sahen unter den schwarzen Brauen hervor. Es war Mutter Sören, die Fährfrau; Dohlen, Krähen und Elstern würden einen andern Namen schreien, den wir besser kennen.
Unwirsch sah sie aus, viele Reden liebte sie offenbar nicht, aber so viel wurde doch geredet und abgemacht, dass der Student sich auf unbestimmte Zeit bei ihr einmietete, solange es in Kopenhagen so übel stand.
Und nach dem Fahrhaus kamen aus dem nahe gelegenen Städtchen häufig ein paar ehrenwerte Bürger. Da kamen Franz Messerschmidt und Sivert Sackgucker; sie tranken einen Krug Bier im Fährhaus und diskutierten mit dem Studenten; er war ein tüchtiger junger Mann, der seine Praktika, wie sie es nannten, konnte, er las Griechisch und Lateinisch und wusste Bescheid über gelehrte Sachen.
„Je weniger man weiß, desto weniger bedrückt es einen“, sagte Mutter Sören. „Ihr habt es schwer!“ sagte Holberg eines Tages, als sie ihre Wäsche in der scharfen Lauge weichte und selber die Baumknorren für die Feuerung zuhauen musste.
„Das ist meine Sache!“ sagte sie.
„Habt Ihr von klein an so arbeiten und schleppen müssen?“
„Das könnt Ihr doch von meinen Händen ablesen!“ sagte sie und zeigte zwei freilich kleine, aber harte, starke Hände mit abgebissenen Nägeln. „Ihr seid ja gelehrt genug, um lesen zu können!“
Um die Weihnachtszeit begann ein heftiges Schneetreiben; die Kälte biss gar arg, der Wind blies scharf, als führe er Scheidewasser mit sich, um den Leuten das Gesicht damit zu waschen. Mutter Sören ließ sich nicht anfechten, wie warf den Mantel um und zog die Kapuze über den Kopf. Dunkel war es im Hause schon am frühen Nachmittag; Holzscheite und Torf legte sie auf den Herd und setzte sich dann hin und flickte ihre Schuhe, da war niemand sonst, der es hätte tun können. Gegen Abend sprach sie mehr mit dem Studenten, als das sonst ihre Gewohnheit war; sie sprach von ihrem Mann.
„Er hat aus Fahrlässigkeit einen Mord an einem Schiffer aus Dragör begangen und muss deswegen drei Jahre auf der königlichen Schiffswerft in Ketten arbeiten Er ist nur ein gemeiner Matrose, darum muss das Gesetz seinen Lauf haben.“
„Das Gesetz gilt auch für den höheren Stand!“ sagte Holberg.
„Meint Ihr!“ sagte Mutter Sören und sah in das Feuer hinein, dann begann sie aber wieder. „Habt Ihr von Kai Lykke gehört, der eine seiner Kirchen niederreißen ließ, und als der Pfarrer Mads darüber von der Kanzel herabdonnerte, ließ er Herrn Mads in Eisen und Ketten legen, berief ein Gericht und verurteilte ihn selber, dass er seinen Kopf verwirkt habe, der wurde auch abgehauen; das war keine fahrlässige Tötung, und doch ging Kai Lykke damals frei aus!“
„Er war in seinem Recht – nach der damaligen Zeit“, sagte Holberg. „Jetzt sind wir darüber hinaus!“
„Das könnt Ihr Dummen vormachen!“ sagte Mutter Sören, stand auf und ging in die Kammer, wo „das Gör“, das kleine Kind, lag, sie nahm es auf und bettete es frisch, machte dann dem Studenten sein Lager auf der Bettbank zurecht; er hatte die Felldecke bekommen, er war frostiger als sie, und doch war er in Norwegen geboren.
Der Neujahrsmorgen brach mit klarem, hellem Sonnenschein an, der Frost war scharf gewesen und war noch so scharf, dass der gefallene Schnee hartgefroren dalag, so dass man darauf gehen konnte. Die Glocken in der Stadt riefen zur Kirche; Student Holberg nahm seinen wollenen Mantel um und wollte zur Stadt.
Über das Fährhaus flogen mit Gekrächz und Geschrei Dohlen, Krähen, Elstern, man konnte vor dem Lärmen kaum die Kirchenglocken hören. Mutter Sören stand draußen und füllte einen Messingkessel mit Schnee, um ihn über das Feuer zu setzen und Trinkwasser zu schmelzen, sie sah zu dem Vogelgewimmel empor und hatte ihre eigenen Gedanken dabei.
Studiosus Holberg ging in die Kirche; auf dem Wege dahin und auf dem Heimwege kam er an Sivert Sackguckers Haus am Tor vorüber, dort ward er auf ein Schälchen Warmbier mit Sirup und Ingwer eingeladen; die Rede kam auf Mutter Sören, aber der Sackgucker wusste eigentlich nichts über sie zu erzählen, es wisse wohl kaum jemand etwas. Von Falster sei sie nicht, sagte er, etwas Geld habe sie wohl einmal gehabt, ihr Mann sei ein gemeiner Matrose von heftigem Sinn, einen Schiffer aus Dragör habe er totgeschlagen, „Die Frau prügelt er, und doch verteidigt sie ihn“.
„Ich ließe mir solche Behandlung nicht gefallen!“ sagte die Frau des Sackguckers. „Ich bin freilich auch von besserer Herkunft! Mein Vater war königlicher Strumpfweber!“
„Daher habt ihr auch einem königlichen Beamten zum Ehebund die Hand gereicht!“ sagte Holberg und machte eine Reverenz vor ihr und dem Sackgucker.
Es war Heiligendreikönigsabend. Mutter Sören zündete ein Heiligendreikönigslicht für Holberg an, das heißt drei Talglichte, die sie selber gezogen hatte.
„Ein Licht für jeden Mann!“ sagte Holberg.
„Für jeden Mann?“ sagte die Frau und sah ihn starr an.
„Ja, für einen jeden der Weisen aus dem Morgenland!“ sagte Holberg.
„Ach, so war es gemeint!“ sagte sie und schwieg lange. Aber an jedem Heiligendreikönigsabend bekam er mehr zu wissen, als er bisher gewusst hatte.
„Ihr habt einen liebevollen Sinn für den Mann, mit dem Ihr in der Ehe lebt!“ sagte Holberg. „Und doch sagen die Leute, dass er übel mit Euch verfährt!“
„Das geht niemand etwas an außer mir!“ entgegnete sie. „Die Schläge wären mir dienlich gewesen, als ich noch klein war; jetzt kriege ich sie wohl um meiner Sünden willen! Was er mir Gutes getan hat, das weiß ich!“ Und sie richtete sich ganz auf. „Als ich krank auf der Heide lag und niemand etwas von mir wissen wollte außer den Krähen und Dohlen, die nach mir hackten, da hat er mich auf seine Arme genommen und bekam harte Worte für den Fang, den er auf sein Schiff brachte. Ich bin nicht dazu gemacht, krank zu liegen, und so erholte ich mich denn. Ein jeder hat es auf seine Weise, und so auch Sören; man soll den Gaul nicht nach dem Zaumwerk beurteilen! Mit ihm hab ich trotz allem zufriedener gelebt als mit dem, den sie den galantesten und vornehmsten von allen Untertanen des Königs nannten. Ich habe in Ehegemeinschaft mit dem Statthalter Gyldenlöve, des Königs Halbbruder, gelegt; später nahm ich Palle Dyre. Jacke wie Hose! Ein jeder auf seine Weise und ich auf meine. Das war eine lange Erzählung, aber nun wisst Ihr es!“ Und damit ging sie zur Stube hinaus.
Das war Marie Grubbe! Ein so wunderlicher Spielball des Glücks war sie gewesen! Viele Heiligendreikönigsabende sollte sie nicht mehr erleben, Holberg hat niedergeschrieben, dass sie im Jahre 1716 starb, aber er hat nicht niedergeschrieben, denn er wusste es nicht, dass, als Mutter Sören, wie sie genannt wurde, im Borrehaus auf der Leichenbahre lag, eine Menge großer schwarzer Vogel über das Haus hinflogen, ohne zu schreien, als wüssten sie, dass zu einem Begräbnis Stille gehört. Sobald sie in der Erde lag, waren die Vögel nicht mehr zu sehen, aber am selben Abend wurde in Jütland über dem alten Gut eine Unmenge Dohlen, Krähen und Elstern gesehen, sie schrieen laut durcheinander, als hätten sie etwas zu verkündigen, vielleicht von ihm, der als kleiner Knabe ihre Eier und ihre flaumigen Jungen aus dem Neste nahm, von dem Sohn des Bauern, der auf der königlichen Schiffswert ein Strumpfband aus Eisen bekam,, und von der hochadeligen Jungfer, die als Fährfrau am Grönsund endete.
„Brav! Brav“! schrieen sie.
Und die Familie schrie: „Brav! Brav!“, als das alte Schloss niedergerissen wurde. Sie schreien es noch, und da ist nichts mehr, worüber sie schreien könnten!“ sagte der Küster, wenn er erzählte. Die Familie ist ausgestorben, das Schloss ist niedergerissen, und wo es einst stand, da steht jetzt das stattliche Hühnerhaus mit der vergoldeten Wetterfahne und mit der alten Hühner-Grete. Sie ist so glücklich über ihre hübsche Wohnung; wenn sie nicht hierher gekommen wäre, hätte sie im Armenhaus enden müssen.
Die Tauben gurrten über ihr, die Kalekuten plauderten ringsumher, und die Enten schnatterten.
„Niemand kannte sie!“ sagten sie. „Angehörige hatte sie nicht. Es ist ein Werk der Barmherzigkeit, dass sie hier ist. Sie hat weder einen Entenvater noch eine Hühnermutter und keine Nachkommenschaft!“
Aber sie hatte eine Familie; sie kannte sie nur nicht, und der Küster kannte sie auch nicht, wie viel beschriebene Papiere er auch in seiner Tischshublade hatte, aber eine von den alten Krähen wusste davon, erzählte davon Sie hatte von ihrer Mutter und ihrer Großmutter von Hühner-Gretes Mutter und deren Großmutter gehört, die auch wir kennen seit der Zeit, da sie als Kind über die Zugbrücke ritt und stolz um sich sah, als gehörten die ganze Welt und alle Vogelnester ihr, wir sehen sie auf der Heide in den Dünen und zuletzt im Borrehaus. Die Enkelin, die Letzte des Geschlechts, war wieder in die Heimat zurückgekehrt, wo das alte Schloss gestanden hatte, wo die schwarzen, wilden Vögel schrieen. Aber sie saß zwischen den zahmen Vögeln, von ihnen gekannt und mit ihnen bekannt. Hühner-Grete hatte nichts mehr zu wünschen, sie war bereit zu sterben, alt genug, um zu sterben.
„Grab! Grab!“ schrieen die Krähen.
Und Hühner-Grete bekam ein schönes Grab, das niemand kennt außer der alten Krähe, wenn die nicht auch schon tot ist.
Und nun kennen wir die Geschichte von dem alten Schloss, dem alten Geschlecht und von Hühner-Gretes ganzer Familie!

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1869 veröffentlicht.

Holger Danske

Original-Übersetzung

 

Es gibt in Dänemark ein altes Schloss, das Kronborg heißt. Das hält am Öresund Wacht, wo die großen Schiffe Tag für Tag zu Hunderten vorbeisegeln, englische, russische und preußische; die grüßen mit Kanonen zu dem alten Schloss herüber: „Bum.“ und das Schloss antwortet mit Kanonen: „Bum.“ Denn so sagen die Kanonen „Guten Tag“ und „Schönen Dank.“ Im Winter segeln keine Schiffe vorbei, dann liegt bis zum schwedischen Land hinüber alles mit Eis bedeckt. Die Wasserstraße ist gleichsam eine Landstraße geworden; da weht die dänische Flagge und die schwedische Flagge, und das dänische und das schwedische Volk sagt einander: „Guten Tag.“ und „Schönen Dank“ aber nicht mit Kanonen, nein, mit freundlichem Handschlag, und der eine holt Weizenbrot und Brezeln bei dem andern; denn fremde Kost mundet am besten. Aber das Prächtigste ist doch das alte Kronborg, und dort unten, in dem tiefen finstern Keller, wohin niemand kommt, sitzt Holger Danske. Er ist in Eisen und Stahl gekleidet und stützt sein Haupt auf die starken Arme. Sein langer Bart hängt über den Marmortisch hinaus und ist darin festgewachsen. Er schläft und träumt; aber im Traume sieht er alles, was oben in Dänemark geschieht. Jeden Weihnachtsabend kommt ein Engel Gottes und sagt ihm, dass es richtig sei, was er geträumt habe, und dass er ruhig weiterschlafen könne, denn noch befinde sich Dänemark in keiner wirklichen Gefahr. Gerät es aber in Gefahr, dann wird der alte Holger Danske sich erheben, dass der Tisch berstet, wenn er den Bart herauszieht. Dann tritt er hervor und schlägt mit seinem Schwert an den Schild, dass es über alle Länder der Erde tönt.
Alles dies von Holger Danske erzählte ein alter Großvater, der bei seinem Enkel saß, und der kleine Knabe wusste, dass es wahr sei, was der Großvater erzählte. Während der Alte saß und erzählte, schnitzte er an einem großen Holzbilde, das Holger Danske vorstellen und den Bug eines Schiffes zieren sollte; denn der alte Großvater war Bildschnitzer. Das ist so ein Mann, der die Galionsfiguren ausschneidet, nach denen das Schiff benannt wird. Hier hatte er nun Holger Danske ausgeschnitten. Hoch und stolz stand er mit seinem langen Barte und hielt in der einen Hand das breite Schlachtschwert; mit der anderen stützte er sich auf das dänische Wappen.
Und der alte Großvater erzählte soviel von berühmten dänischen Männern und Frauen, dass es dem kleinen Enkelsohn zuletzt vorkam, als ob er nun ebensoviel wisse, wie Holger Danske wissen könne, der ja nur davon träumte. Und als der Kleine in sein Bett kam, dachte er soviel daran, dass er schließlich sein Kinn an die Bettdecke drückte und glaubte, nun habe er einen langen Bart, der darin festgewachsen sei.
Der alte Großvater aber blieb bei seiner Arbeit sitzen und schnitzte den letzten Teil daran fertig; das war das dänische Wappen. Als das Ganze fertig dastand und er es betrachtete, dachte er an alles, was er gelesen und gehört hatte, und was er heute Abend dem kleinen Knaben erzählt hatte; und er nickte, trocknete seine Brille ab, setzte sie wieder auf und sagte: „Ja, zu meiner Zeit kehrt Holger Danske wohl nicht wieder. Aber der Knabe dort im Bette bekommt ihn vielleicht zu sehen und ist dabei, wenn es wirklich gilt.“ Und der alte Großvater nickte, und je länger er seinen Holger Danske ansah, desto deutlicher wurde ihm bewusst, dass er da ein gutes Bild gemacht habe. Es schien sich mit Farbe zu erfüllen, der Harnisch erglänzte wie Eisen und Stahl, die Herzen im dänischen Wappen wurden rot und röter, und die Löwen mit den goldenen Kronen sprangen.
„Es ist doch das prächtigste Wappen, das man in der Welt hat“ sagte der Alte. „Die Löwen sind die Stärke und die Herzen die Milde und Liebe.“ Und er blickte auf den obersten Löwen und dachte an König Knud, der das mächtige Engelland an Dänemarks Königsstuhl fesselte; und er sah auf den zweiten Löwen und dachte an Waldemar, der Dänemark einigte und die wendischen Lande bezwang; er sah auf den dritten Löwen und dachte an Margarethe, die Dänemark, Schweden und Norwegen verband. Aber als er auf die roten Herzen sah, leuchteten sie noch stärker als zuvor; sie wurden zu roten Flammen, die sich fortbewegten, und seine Gedanken folgten ihnen.
Die erste Flamme führte ihn in ein enges, düsteres Gefängnis; dort saß eine Gefangene, ein herrliches Weib, Christians des Vierten Tochter: Eleonore Ulfeld. Und die Flamme setzte sich einer Rose gleich auf ihre Brust und blühte zugleich mit ihrem Herzen leuchtend empor, dem Herzen der edelsten und besten aller dänischen Frauen.
„Ja, das ist ein Herz in Dänemarks Wappen“ sagte der alte Großvater.
Und seine Gedanken folgten der zweiten Flamme, die ihn aufs Meer hinaus führte, wo die Kanonen donnerten, und wo Schiffe in Rauch gehüllt lagen. Und die Flamme heftete sich wie ein Ordensband auf Hvitfeldts Brust, als er zur Rettung der Flotte sich und sein Schiff in die Luft sprengte.
Die dritte Flamme führte ihn zu Grönlands elenden Hütten, wo der Prediger Hans Egede mit Liebe in Wort und Werk stand. Die Flamme leuchtete gleich einem Stern auf seiner Brust, ein Herz zum dänischen Wappen.
Und des alten Großvaters Gedanken gingen der schwebenden Flamme voran, denn sie wussten, wo die Flamme hinwollte. In der ärmlichen Stube der Bauernfrau stand Friedrich der Sechste und schrieb seinen Namen mit Kreide an einen Balken. Die Flamme auf seiner Brust bebte in seinem Herzen. In dieser Bauernstube wurde sein Herz ein Herz in Dänemarks Wappen. Der alte Großvater trocknete seine Augen, denn er hatte König Friedrich mit dem silberweißen Haar und den treuen blauen Augen gekannt und für ihn gelebt, und er faltete seine Hände und blickte still vor sich hin. Da kam des alten Großvaters Schwiegertochter und sagte, es sei schon spät, nun solle er ruhen, denn der Abendtisch sei gedeckt.
„Aber schön ist es geworden, was Du da gemacht hast, Großvater!“ sagte sie. „Holger Danske und unser ganzes altes Wappen! Mir ist gerade, als hätte ich sein Gesicht schon früher gesehen!“
„Nein, das hast Du wohl nicht gesehen!“ sagte der alte Großvater, „aber ich habe es gesehen, und ich habe mich bemüht, es ins Holz zu schneiden, so wie es mir noch vor Augen schwebt. Es war damals, als die Engländer auf der Reede lagen, am zweiten April, und wo wir bewiesen haben, dass wir noch die alten Dänen sind! Auf dem Schiff „Dänemark“, wo ich in Steen Billes Bataillon stand, hatte ich einen Mann zur Seite: es war als ob die Kugeln ihm auswichen! Lustig sang er alte Weisen und schoss und kämpfte, als sei er mehr als ein Mensch. Ich sehe noch immer sein Antlitz vor mir; aber woher er kam, wohin er ging, weiß ich nicht, weiß niemand. Ich habe oft gedacht, es müsse wohl der alte Holger Danske selbst gewesen sein, der von Kronborg herabgeschwommen war, um uns zur Stunde der Gefahr beizustehen. Das war mein Gedanke, und dort steht sein Bild.“
Das warf seinen großen Schatten über die Wand bis an die Decke, ja selbst ein Stück darüber hinweg; es sah aus, als sei es der wirkliche Holger Danske, der dahinter stehe, denn der Schatten bewegte sich; das konnte aber auch daran liegen, dass die Lichtflamme nicht ruhig brannte. Und die Schwiegertochter küsste den alten Großvater und führte ihn zu dem großen Lehnstuhl, der am Tische stand, und sie und ihr Mann, der ja des alten Großvaters Sohn und der Vater des kleinen Knaben war, der nun im Bette lag, setzten sich auch und aßen ihre Abendmahlzeit. Und der alte Großvater sprach von den dänischen Löwen und den dänischen Herzen, von der Stärke und der Milde, und bedeutsam erklärte er, dass es noch eine anders geartete Stärke gäbe, als die im Schwerte liegende, und er wies auf das Bücherbrett, wo alte Bücher lagen, alle Komödien von Holberg, die so oft schon gelesen worden waren; denn sie waren so ergötzlich, dass man meinen konnte, alle Leute darin von früheren Zeiten her zu kennen.
„Sieh, der hat auch dreinzuschlagen verstanden!“ sagte der alte Großvater. „Er hat das Rohe und Beschränkte im Volke gegeißelt, so lange er konnte!“ Und der alte Großvater nickte zum Spiegel hinüber, wo der Kalender mit dem Runden Turm stand, und er sagte: „Tycho Brahe, das war auch einer, der das Schwert brauchte, nicht um in Fleisch und Bein zu hauen, sondern um den deutlicheren Weg zwischen den Sternen des Himmels“ zu bahnen. – Und dann er, dessen Vater meinem Handwerk zugehörte, des alten Bildschnitzers Sohn, er, den wir selbst gesehen haben mit seinem weißen Haar und den starken Schultern, er, dessen Name in allen Ländern der Welt genannt wird. Ja, er konnte hauen; ich kann nur schnitzen! Ja, Holger Danske kann auf vielen Wegen kommen, so dass in allen Ländern Dänemarks Lob widerhallt! Wollen wir ein Glas auf Bertel Thorwaldsens Wohl leeren.“
Aber der kleine Knabe im Bette sah deutlich das alte Kronborg und den Öresund, den wirklichen Holger Danske, der tief unter der Erde saß, den Bart im Marmortische festgewachsen, und von allem träumte, was hier oben geschieht. Holger Danske träumte auch von der kleinen, ärmlichen Stube, wo der Bildschnitzer saß; er hörte alles, was gesprochen wurde, nickte im Traume und sagte:
„Ja, mein dänisches Volk, denkt nur an mich. Behaltet mich in Erinnerung. Ich komme in der Stunde der Not.“
Und draußen vor Kronborg leuchtete der klare Tag, und der Wind trug die Töne des Waldhorns vom Nachbarlande herüber, die Schiffe segelten vorbei und grüßten: „Bum, Bum,“ und von Kronborg antwortete es: „Bum, Bum,“ Aber Holger Danske erwachte nicht, so stark sie auch schossen, denn es hieß ja nur: „Guten Tag.“ – „Schönen Dank.“ Da muss anders geschossen werden, wenn er erwachen soll. Aber er erwacht sicher einmal, denn seine Kraft schlummert nur.

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1845 zum ersten mal in dem Buch namens ”Nye Eventyr. Første Bind. Tredie Samling. 1845” veröffentlicht.

GermanGreekEnglish