Die wilden Schwäne

Original-Übersetzung

Weit von hier, dort, wo die Schwalben hinfliegen, wenn wir Winter haben, wohnte ein König der elf Söhne und eine Tochter Elisa hatte. Die elf Brüder waren Prinzen und gingen mit dem Stern auf der Brust und dem Säbel an der Seite in die Schule. Sie schrieben mit Diamantgriffeln auf Goldtafeln und lernten ebenso gut auswendig, wie sie lasen; man konnte gleich hören, dass sie Prinzen waren. Die Schwester Elisa saß auf einem kleinen Schemel von Spiegelglas und hatte ein Bilderbuch, welches für das halbe Königreich erkauft war. Oh, die Kinder hatten es so gut; aber so sollte es nicht immer bleiben!
Ihr Vater, welcher König über das ganze Land war, verheiratete sich mit einer bösen Königin, die den armen Kindern gar nicht gut war. Schon am ersten Tag konnten sie es merken. Auf dem ganzen Schloss war große Pracht, und da spielten die Kinder „Es kommt Besuch“, aber statt dass sie, wie sonst, allen Kuchen und alle gebratenen Äpfel erhielten, die nur zu haben waren, gab sie ihnen bloß Sand in einer Teetasse und sagte, sie möchten tun, als ob etwas darin sei.
Die Woche darauf brachte sie die kleine Schwester Elisa auf das Land zu einem Bauernpaar, und lange währte es nicht, da redete sie dem König so viel von den armen Prinzen vor, dass er sich gar nicht mehr um sie kümmerte.
„Fliegt hinaus in die Welt und ernährt euch selbst!“ sagte die böse Königin. „Fliegt wie die großen Vögel ohne Stimme!“ Aber sie konnte es doch nicht so schlimm machen, wie sie gern wollte; sie wurden elf herrliche wilde Schwäne. Mit einem sonderbaren Schrei flogen sie aus den Schlossfenstern hinaus über den Park und den Wald dahin.
Es war noch ganz früh am Morgen, als sie da vorbeikamen, wo die Schwester Elisa in der Stube des Landmannes lag und schlief. Hier schwebten sie über dem Dach, drehten ihre langen Hälse und schlugen dann mit den Flügeln, aber niemand hörte oder sah es. Sie mussten wieder weiter, hoch gegen die Wolken empor, hinaus in die weiter Welt. Da flogen sie hin zu einem großen dunklen Wald, der sich bis an den Strand erstreckte.
Die arme, kleine Elisa stand in der Stube des Landmannes und spielte mit einem grünen Blatt; anderes Spielzeug hatte sie nicht. Und sie stach ein Loch in das Blatt, sah hindurch und gegen die Sonne empor, und da war es, als sähe sie ihrer Brüder klare Augen. Jedes Mal, wenn die warmen Sonnenstrahlen auf ihre Wangen schienen, gedachte sie aller ihrer Küsse.
Ein Tag verging ebenso wie der andere. Strich der Wind durch die großen Rosenhecken draußen vor dem Haus, so flüsterte er den Rosen zu: „Wer kann schöner sein als Ihr?“ Aber die Rosen schüttelten das Haupt und sangen: „Elisa ist es!“ Und saß die alte Frau am Sonntag vor der Tür und las in ihrem Gesangbuch so wendete der Wind die Blätter um und sagte zum Buch: „Wer kann frömmer sein als du?“ – „Elisa ist es!“ sagte das Gesangbuch. Und es war die reine Wahrheit, was die Rosen und das Gesangbuch sagten.
Als sie fünfzehn Jahre alt war, sollte sie nach Hause. Und als die Königin sah, wie schön sie war, wurde sie ihr gram und voll Hass. Gern hätte sie sie in einen wilden Schwan verwandelt wie die Brüder, aber das wagte sie nicht gleich, weil ja der König seine Tochter sehen wollte.
Frühmorgens ging die Königin in das Bad, welches von Marmor erbaut und mit weichen Kissen und den prächtigsten Decken geschmückt war. Und sie nahm drei Kröten, küsste sie und sagte zu der einen: „Setze dich auf Elisas Kopf, wenn sie in das Bad kommt, damit sie dumm wird wie du!“ „Setze dich auf ihre Stirn, damit sie hässlich wird wie du, so dass ihr Vater sie nicht kennt!“ „Ruhe an ihrem Herzen“, flüsterte sie der dritten zu; „lass sie einen bösen Sinn erhalten, damit sie Schmerzen davon hat!“ Dann setzte sie die Kröten in das klare Wasser, welches sogleich eine grüne Farbe erhielt, rief Elisa, zog sie aus und ließ sie in das Wasser hinabsteigen. Und indem Elisa untertauchte, setzte sich die eine Kröte ihr in das Haar, die andere auf ihre Stirn und die dritte auf die Brust. Aber sie schien es gar nicht zu merken. Sobald sie sich emporrichtete, schwammen drei rote Mohnblumen auf dem Wasser. Wären die Tiere nicht giftig gewesen und von der Hexe geküsst worden, so wären sie in rote Rosen verwandelt. Aber Blumen wurden sie doch, weil sie auf ihrem Haupt und an ihrem Herzen geruht hatten. Sie war zu fromm und unschuldig, als dass die Zauberei Macht über sie haben konnte!
Als die böse Königin das sah, rieb sie Elisa mit Walnusssaft ein, so dass sie ganz schwarzbraun wurde, bestrich ihr das hübsche Antlitz mit einer stinkenden Salbe und ließ das herrliche Haar sich verwirren. Es war unmöglich, die schöne Elisa wiederzuerkennen.
Als sie der Vater sah, erschrak er sehr und sagte, es sei nicht seine Tochter. Niemand, außer dem Kettenhund und den Schwalben, wollte sie erkennen; aber das waren arme Tiere, die nichts zu sagen hatten.
Da weinte die arme Elisa und dachte an ihre elf Brüder, die alle weg waren. Betrübt stahl sie sich aus dem Schloss und ging den ganzen Tag über Feld und Moor bis in den großen Wald hinein. Sie wusste gar nicht, wohin sie wollte, aber die fühlte sich so betrübt und sehnte sich nach ihren Brüdern. Die waren sicher auch, gleich ihr, in die Welt hinausgejagt, die wollte sie suchen und finden. Nur kurze Zeit war sie im Wald gewesen, da brach die Nacht an. Sie kam ganz vom Weg und Steg ab, darum legte sie sich auf das weiche Moos nieder, betete ihr Abendgebet und lehnte ihr Haupt an einen Baumstumpf. Es war da so still, die Luft so mild, und ringsumher im Gras und im Moos leuchteten, einem grünen Feuer gleich, Hunderte von Johanneswürmchen. Als sie einen der Zweige leise mit der Hand berührte, fielen die leuchtenden Käfer wie Sternschnuppen zu ihr nieder.
Die ganze Nacht träumte sie von ihren Brüdern. Sie spielten wieder als Kinder, schrieben mit dem Diamantgriffel auf die Goldtafel und betrachteten das herrliche Bilderbuch, welches das halbe Reich gekostet hatte. Aber auf die Tafel schrieben sie nicht, wie früher, Nullen und Striche, sondern die mutigen Taten, die sie vollführt, alles, was sie erlebt und gesehen hatten. Und im Bilderbuch war alles lebendig, die Vögel sangen, und die Menschen gingen aus dem Buch heraus und sprachen mit Elisa und ihren Brüdern. Aber wenn diese das Blatt umwendeten, sprangen sie gleich wieder zurück, damit keine Unordnung hineinkomme.
Als sie erwachte, stand die Sonne schon hoch. Sie konnte sie freilich nicht sehen, die hohen Bäume breiteten ihre Zweige dicht und fest über sie aus. Aber die Strahlen spielten dort oben gerade wie ein wehender Goldflor. Da war ein Duft von Grünem, und die Vögel setzten sich fast auf ihre Schultern. Sie hörte Wasser plätschern. Das waren viele große Quellen, die alle in einen See ausliefen, in dem der herrlichste Sandhoden war. Freilich wuchsen dort dichte Büsche ringsumher, aber an einer Stelle hatten die Hirsche eine große Lichtung gemacht, und hier ging Elisa zum Wasser hin. Dies war so klar, dass man, wenn der Wind nicht die Zweige und Büsche berührte, so dass sie sich bewegten, hätte glauben können, sie seine auf dem Boden abgemalt, so deutlich spiegelte sich dort jedes Blatt, sowohl das, welches von der Sonne beschienen, als das, welches im Schatten war.
Sobald Elisa ihr eigenes Gesicht erblickte, erschrak sie, so braun und hässlich war es. Doch als sie ihre kleine Hand benetzte und Augen und Stirne rieb, glänzte die weiße Haut wieder vor. Da entkleidete sie sich und ging in das frische Wasser hinein. Ein schöneres Königskind, als sie war, wurde in dieser Welt nicht gefunden.
Als sie sich wieder angekleidet und ihr langes Haar geflochten hatte, ging sie zur sprudelnden Quelle, trank aus der hohlen Hand und wanderte tief in den Wald hinein, ohne selbst zu wissen, wohin. Sie dachte an ihre Brüder, dachte an den lieben Gott, der sie sicher nicht verlassen würde. Gott ließ die wilden Waldäpfel wachsen, um die Hungrigen zu sättigen. Er zeigte ihr einen solchen Raum, die Zweige bogen sich unter der Last der Früchte. Hier hielt sie ihre Mittagsmahlzeit, setzte Stützen unter die Zweige und ging dann in den dunkelsten Teil des Waldes hinein.
Da war es so still, dass sie ihre eigenen Fußtritte hörte sowie jedes kleinste vertrocknete Blatt, welches sich unter ihrem Fuße bog. Nicht ein Vogel war da zu sehen, nicht ein Sonnenstrahl konnte durch die großen, dunklen Baumzweige dringen. Die hohen Stämme standen so nahe beisammen, dass es, wenn sie vor sich in sah, ganz so schien, als ob ein Balkengitter dicht beim andern sie umschlösse. Oh, hier war eine Einsamkeit, wie sie solche früher nie gekannt!
Die Nacht wurde ganz dunkel. Nicht ein einziger kleiner Johanniswurm leuchtete aus dem Moos. Betrübt legte sie sich nieder, um zu schlafen. Da schien es ihr, als ob die Baumzweige über ihr sich zur Seite bewegten und der liebe Gott mit milden Augen auf sie nieder blickte, und kleine Engel sahen über seinem Kopf und unter seinen Armen hervor.
Als sie am Morgen erwachte, wusste sie nicht, ob sie es geträumt hatte oder ob es wirklich so gewesen. Sie ging einige Schritte vorwärts, da begegneten sie einer alten Frau mit Beeren in ihrem Korb. Die Alte gab ihr einige davon. Elisa fragte, ob sie nicht elf Prinzen durch den Wald habe reiten sehen.
„Nein!“ sagte die Alte; „aber ich sah gestern elf Schwäne mit Goldkronen auf dem Haupt den Fluss hier nahebei hinabschwimmen!“
Und sie führte Elisa ein Stück weiter vor zu einem Abhang. Am Fuße desselben schlängelte sich ein Flüsschen. Die Bäume an seinen Ufern streckten ihre langen, blattreichen Zweige einander entgegen, und wo sie ihrem natürlichen Wuchse nach nicht zusammenreichen konnten, da waren die Wurzel aus der Erde losgerissen und hingen, mit den Zweigen ineinander geflochten, über das Wasser hinaus.
Elisa sagte der Alten Lebewohl und ging das Flüsschen entlang, bis wo dieses ins große, offene Meer hinausfloss.
Das ganze herrliche Meer lag vor dem jungen Mädchen, aber nicht ein Segel zeigte sich darauf, nicht ein Boot war da zu sehen. Wie sollte sie nun dort weiter fort kommen? Sie betrachtete die unzähligen kleinen Steine am Ufer, das Wasser hatte sie alle rund geschliffen. Glas, Eisen, Seine, alles, was da zusammengespült lag, hatte seine Form durch das Wasser bekommen, welches doch viel weicher war als ihre feine Hand. „Das rollt unermüdlich fort, und so ebnet sich das Harte. Ich will ebenso unermüdlich sein. Dank für eure Lehre, ihr klaren, rollenden Wogen; einst, das sagte mir mein Herz, werdet ihr mich zu meinen lieben Brüdern tragen!“
Auf dem angespülten Seegras lagen elf weiße Schwanenfedern! Sie sammelte sie zu einem Strauß. Es lagen Wassertropfen darauf – ob es Tau oder Tränen waren, konnte man nicht sehen. Einsam war es dort am Strand, aber sie fühlte es nicht, denn das Meer bot eine dauernde Abwechslung, ja mehr in nur wenigen Stunden, als die Landseen in einem ganzen Jahr aufweisen können. Kam eine große, schwarze Wolke, so war das, als ob die See sagen wollte: „Ich kann auch finster aussehen.“ Und dann blies der Wind, und die Wogen kehrten das Weiße nach außen. Schienen aber die Wolken rot und schliefen die Winde, so war das Meer einem Rosenblatt gleich; bald wurde es grün, bald weiß. Aber wie still es auch ruhte, am Ufer war doch eine leise Bewegung, das Wasser hob sich schwach wie die Brust eines schlafenden Kindes.
Als die Sonne unterzugehen im Begriff war, sah Elisa elf wilde Schwäne mit Goldkronen auf dem Kopf dem Lande zufliegen. Sie schwebten einer hinter dem anderen, es sah aus wie ein langes, weißes Band. Da stieg Elisa den Abhang hinauf und verbarg sich hinter einem Busch. Die Schwäne ließen sich nahe bei ihr nieder und schlugen mit ihren großen, weißen Schwingen.
Sobald die Sonne hinter dem Wasser war, fielen plötzlich die Schwanengefieder, und elf schöne Prinzen, ihre Brüder, standen da. Sie stieß einen lauten Schrei aus; obwohl sie sich sehr verändert hatte, wusste sie doch, dass sie es waren, fühlte sie, dass sie es sein müssten. Und sie sprang in ihre Arme und nannte sie bei Namen. Und die Prinzen fühlten sich so glücklich, als sie ihre kleine Schwester sahen, und erkannten sie, die nun groß und schön war. Sie lachten und weinten, und bald hatten sie verstanden, wie böse ihre Stiefmutter gegen sie alle gewesen war.
„Wir Brüder“, sagte der älteste, „fliegen als wilde Schwäne, solange die Sonne am Himmel steht; sobald sie untergegangen ist, erhalten wir unsere menschliche Gestalt wieder. Deshalb müssen wir immer aufpassen, beim Sonnenuntergang eine Ruhestätte für die Füße zu haben, denn fliegen wir um diese Zeit gegen die Wolken empor, so müssen wir als Menschen in die Tiefe hinunterstürzen. Hier wohnen wir nicht; es liegt ein ebenso schönes Land wie dieses jenseits der See. Aber der Weg dahin ist weit. Wir müssen über das große Meer, und es findet sich keine Insel auf unserm Wege, wo wir übernachten könnten; nur eine einsame, kleine Klippe ragt in der Mitte hervor, sie ist nicht größer, als dass wir dicht nebeneinander darauf ruhen können. Ist die See stark bewegt, so spritzt das Wasser hoch über uns; aber doch danken wir Gott für sie. Da übernachten wir in unserer Menschengestalt; ohne diese könnten wir nie unser liebes Vaterland besuchen, denn zwei der längsten Tage des Jahres brauchen wir für unseren Flug. Nur einmal im Jahr ist es uns vergönnt, unsere Heimat zu besuchen. Elf Tage dürfen wir hier bleiben und über den großen Wald hinfliegen, von wo wir das Schloss, in dem wir geboren wurden und wo unser Vater wohnt, erblicken und den hohen Kirchturm sehen können, wo die Mutter begraben ist. Hier kommt es uns vor, als seien Bäume und Büsche mit uns verwandt; hier laufen die wilden Pferde über die Steppen hin, wie wir es in unserer Kindheit gesehen; hier singt der Kohlenbrenner die alten Lieder, nach denen wir als Kinder tanzten; hier ist unser Vaterland; hierher fühlen wir uns gezogen, und hier haben wir dich, du liebe, kleine Schwester, gefunden! Zwei Tage können wir noch hier bleiben, dann müssen wir fort über das Meer, nach einem herrlichen Land, welches aber nicht unser Vaterland ist! Wie bringen wir dich fort? Wir haben weder Schiff noch Boot!“
„Auf welche Art kann ich euch erlösen?“ fragte die Schwester. Und sie unterhielten sich fast die ganze Nacht, es wurde nur einige Stunden geschlummert.
Elisa erwachte von dem Rauschen der Schwanenflügel, welche über ihr sausten, die Brüder waren wieder verwandelt. Und sie flogen in großen Kreisen und zuletzt weit weg, aber der eine von ihnen, der jüngste, blieb zurück. Und der Schwan legte den Kopf in ihren Schoß, und sie streichelte seine Flügel, den ganzen Tag waren sie beisammen. Gegen Abend kamen die andern zurück, und als die Sonne untergegangen war, standen sie in natürlicher Gestalt da.
„Morgen fliegen wir von hier weg und können vor Ablauf eines ganzen Jahres nicht zurückkehren. Aber dich können wir nicht so verlassen! Hast du Mut, mitzukommen? Mein Arm ist stark genug, dich durch den Wald zu tragen. Sollten wir da nicht alle so starke Flügel haben, um mit dir über das Meer zu fliegen?“ – – „Ja, nehmt mich mit!“ sagte Elisa.
Die ganze Nacht brachten sie damit zu, aus der geschmeidigen Weidenrinde und dem zähen Schild ein Netz zu flechten, und das wurde groß und fest. Auf dieses Netz legte sich Elisa, und als die Sonne hervortrat und die Brüder in wilde Schwäne verwandelt wurden, ergriffen sie das Netz mit ihren Schnäbeln und flogen mit ihrer lieben Schwester, die noch schlief, hoch gegen die Wolken empor. Die Sonnenstrahlen fielen ihr gerade auf das Antlitz, deshalb flog einer der Schwäne über ihrem Kopf, damit seine breiten Schwingen sie beschatten konnten.
Sie waren weit vom Land entfernt, als Elisa erwachte. Sie glaubte noch zu träumen, so sonderbar kam es ihr vor, hoch durch die Luft über das Meer getragen zu werden. An ihrer Seite lag ein Zweig mit herrlichen reifen Beeren und ein Bündel wohlschmeckender Wurzeln, die hatte der jüngste der Brüder gesammelt und ihr hingelegt. Sie lächelte ihn dankbar an, denn sie erkannte ihn, er war es, der über ihr folg und sie mit den Schwingen beschattete.
Sie waren so hoch, dass das größte Schiff, welches sie unter sich erblickten, eine weiße Möwe zu sein schien, die auf dem Wasser lag. Eine große Wolke stand hinter ihnen, das war ein ganzer Berg. Und auf diesem sah Elisa ihren eigenen Schatten und den der elf Schwäne, so riesengroß flogen sie dahin. Das war ein Gemälde, prächtiger, als sie früher je eins gesehen. Doch als die Sonne höher stieg und die Wolke weiter zurückblieb, verschwand das schwebende Schattenbild. Den ganzen Tag flogen sie fort, gleich einem sausenden Pfeil durch die Luft; aber es ging doch langsamer als sonst, denn jetzt hatten sie die Schwester zu tragen. Es zog ein böses Wetter auf, der Abend brach herein. Ängstlich sah Elisa die Sonne sinken, und noch war die einsame Klippe im Meere nicht zu erblicken. Es kam ihr vor, als machten die Schwäne stärkere Schläge mit den Flügeln. Ach, sie war Schuld daran, dass sie nicht rasch genug fortkamen. Wenn die Sonne untergegangen war, so mussten sie Menschen werden, in das Meer stürzen und ertrinken. Da betete sie aus dem Innersten des Herzens ein Gebet zum lieben Gott; aber noch erblickte sie keine Klippe. Die schwarze Wolke kam näher, die starken Windstöße verkündeten einen Sturm. Die Wolken standen in einer einzigen, großen, drohenden Welle da, welche fast wie Blei vorwärts schoss, Blitz leuchtete auf Blitz.
Jetzt war die Sonne gerade am Rande des Meeres. Elisas Herz bebte. Da schossen die Schwäne hinab, so schnell, dass sie zu fallen glaubte. Aber nun schwebten sie wieder. Die Sonne war halb unter dem Wasser, da erblickte sie erst die kleine Klippe unter sich. Sie sah nicht größer aus, als ob es ein Seehund sei, der den Kopf aus de Wasser streckte. Die Sonne sank so schnell, jetzt erschien sie nur noch wie ein Stern. Da berührte ihr Fuß den festen Grund! Die Sonne erlosch gleich dem letzten Funken im brennenden Papier. Arm in Arm sah sie die Brüder um sich stehen; aber mehr Platz, als gerade für diese und sie war auch nicht da. Die See schlug gegen die Klippe und ging wie Staubregen über sie hin. Der Himmel leuchtete in einem fortwährenden Feuer, und Schlag auf Schlag rollte der Donner. Aber Schwester und Brüder fassten sich an den Händen und sangen Psalmen, aus denen sie Trost und Mut schöpften.
In der Morgendämmerung war die Luft rein und still, Sobald die Sonne emporstieg, flogen die Schwäne mit Elisa von der Insel fort. Das Meer ging noch hoch; es sah aus, wie sie hoch in der Luft waren, als ob der weiße Schaum auf der schwarzgrünen See Millionen Schwäne seien, die auf dem Wasser schwammen.
Als die Sonne höher stieg, sah Elisa vor sich, halb in der Luft schwimmend, ein Bergland mit glänzenden Eismassen auf den Felsen. Und mitten darauf erhob sich ein meilenlanges Schloss mir einem kühnen Säulengang über dem andern; unten wogten Palmenwälder und Prachtblumen, so groß wie Mühlräder. Sie fragte, ob das das Land sei, wo sie hin wollten; aber die Schwäne schüttelten mit dem Kopf, denn das, was sie sah, war der Fata Morgana herrliches, allzeit wechselndes Wolkenschloss, in das durften sie keinen Menschen hineinbringen. Elisa starrte es an, da stürzten Berge, Wälder und Schloss zusammen, und zwanzig stolze Kirchen, alle einander gleich, mit hohen Türmen und spitzen Fenstern standen vor ihnen. Sie glaubte die Orgeln ertönen zu hören, aber es war das Meer, welches sie hörte. Nun war sie den Kirchen ganz nahe, da wurden sie zu einer ganzen Flotte, die unter ihr dahinsegelte; doch als sie hinunterblickte, waren es nur Meernebel, die über dem Wasser hinglitten. So hatte sie eine ewige Abwechslung vor den Augen, und dann sah sie das wirkliche Land, zu dem hin sie wollten. Dort erhoben sich die herrlichsten blauen Berge mit Zedernwäldern, Städten und Schlössern. Lange bevor die Sonne unterging, saß sie auf dem Felsen vor einer großen Höhle, die mit feinen grünen Schlingpflanzen bewachsen war, es sah aus, als seien es gestickte Teppiche.
„Nun wollen wir sehen, was du diese Nacht hier träumst“, sagte der jüngste Bruder und zeigte ihr die Schlafkammer.
„Gebe der Himmel, dass ich träumen möge, wie ich euch erretten kann!“ sagte sie. Und dieser Gedanke beschäftigte sie lebhaft. Sie betete recht inbrünstig zu Gott um seine Hilfe, ja, selbst im Schlafe fuhr sie fort zu beten. Da kam es ihr vor, als ob sie hoch in die Luft fliege, zu der Fata Morgana Wolkenschloss. Und die Fee kam ihr entgegen, so schön und glänzend; und doch glich sie ganz der alten Frau, die ihr Beeren im Walde gegeben und ihr von den Schwänen mit Goldkronen auf dem Kopfe erzählt hatte.
„Deine Brüder können erlöst werden!“ sagte sie; „Aber hast du Mut und Ausdauer? Wohl ist das Wasser weicher als deine feinen Hände, und doch formt es die Steine um; aber es fühlt nicht die Schmerzen, die deine Finger fühlen werden. es hat kein Herz, leidet nicht die Angst und Qual, die du aushalten musst. Siehst du die Brennnessel, die ich in meiner Hand halte? Von derselben Art wachsen viele rings um die Höhle, wo du schläfst; nur die dort und die, welche auf des Kirchhofs Gräbern wachsen, sind tauglich, merke dir das. Die musst du pflücken, obgleich sie deine Hand voll Blasen brennen werden. Brich die Nesseln mit deinen Füßen, so erhältst du einen Flachs; aus diesem musst du elf Panzerhemden mit langen Ärmeln flechten und binden. Wirf diese über die elf Schwäne, so ist der Zauber gelöst. Aber bedenke wohl, dass du von dem Augenblick, wo du diese Arbeit beginnst, bis zu dem, wo sie vollendet ist, wenn auch Jahre darüber vergehen, nicht sprechen darfst. Das erste Wort, welches du sprichst, geht als tötender Dolch in deiner Brüder Herz! An deiner Zunge hängt ihr Leben. Merke dir das alles.“
Und sie berührte zugleich ihre Hand mit der Nessel. Es war einem brennenden Feuer gleich; Elisa erwachte dadurch. Es war heller Tag, und dicht daneben, wo sie geschlafen hatte, lagt eine Nessel wie die, welche sie im Traum gesehen. Da fiel sie auf ihre Knie, dankte dem lieben Gott und ging aus der Höhle hinaus, um ihre Arbeit zu beginnen.
Mit den feinen Händen griff sie hinunter in die hässlichen Nesseln, diese waren wie Feuer. Große Blasen brannten sie an ihren Händen und Armen; aber gern wollte sie es leiden, konnte sie nur die lieben Brüder befreien. Sie brach jede Nessel mit ihren bloßen Füßen und flocht den grünen Flachs.
Als die Sonne untergegangen war, kamen die Brüder, und sie erschraken, sie so stumm zu finden. Sie glaubten, es sei ein neuer Zauber der bösen Stiefmutter. Aber als sie ihre Hände erblickten, begriffen sie, was sie ihrethalben tat. Und der jüngste Bruder weinte, und wohin seine Tränen fielen, da fühlte sie keine Schmerzen, da verschwanden die brennenden Blasen.
Die Nacht brachte sie bei ihrer Arbeit zu, denn sie hatte keine Ruhe, bevor sie die lieben Brüder erlöst hätte. Den ganzen folgenden Tag, während die Schwäne fort waren, saß sie in ihrer Einsamkeit; aber noch nie war die Zeit ihr so schnell entflohen. Ein Panzerhemd war schon fertig, nun fing sie das zweite an.
Da ertönte ein Jagdhorn zwischen den Bergen; sie wurde von Furcht ergriffen. Der Ton kam immer näher, sie hörte Hunde bellen; erschrocken floh sie in die Höhle, band die Nesseln, die sie gesammelt und gehechelt hatte, in ein Bund zusammen und setzte sich drauf.
Sogleich kam ein großer Hund aus der Schlucht hervorgesprungen, und gleich darauf wieder einer und noch einer; sie bellten laut, liefen zurück und kamen wieder vor. Es währte nur wenige Minuten, so standen alle Jäger vor der Höhle, und der schönste unter ihnen war der König des Landes. Er trat auf Elisa zu, nie hatte er ein schöneres Mädchen gesehen.
„Wie bist du hierher gekommen, du herrliches Kind?“ frage er. Elisa schüttelte den Kopf, sie durfte ja nicht sprechen; es galt ihrer Brüder Erlösung und Leben. Und sie verbarg ihre Hände unter der Schürze, damit der König nicht sehen solle, was sie leiden musste.
„Kommt mit mir!“ sagte er, „hier darfst du nicht bleiben. Bist du so gut, wie du schön bist, so will ich dich in Seide und Samt kleiden, die Goldkrone dir auf das Haupt setzen, und du sollst in meinem reichsten Schloss wohnen und hausen!“ Und dann hob er sie auf sein Pferd. Sie weinte und rang die Hände, aber der König sagte: „Ich will nur dein Glück! Einst wirst du mir dafür danken“. Und dann jagte er fort durch die Berge und hielt sie vorn auf dem Pferd, und die Jäger jagten hinterher.
Als die Sonne unterging, lag die schöne Königsstadt mit Kirchen und Kuppeln vor ihnen. Und der König führte sie in das Schloss, wo große Springbrunnen in den hohen Marmorsälen plätscherten, wo Wände und Decken mit Gemälden prangten. Aber sie hatte keine Augen dafür, sie weinte und trauerte. Willig ließ sie sich von den Frauen königliche Kleider anlegen, Perlen in ihre Haar flechten und feine Handschuhe über die verbrannten Finger ziehen. Als sie in ihrer Pracht dastand, war sie so blendend schön, dass der Hof sich noch tiefer verneigte. Und der König erkor sie zu seiner Braut, obgleich der Erzbischof den Kopf schüttelte und flüsterte, dass das schöne Waldmädchen ganz sicher eine Hexe sein, sie blende die Augen und betöre das Herz des Königs.
Aber der König hörte nicht darauf, ließ die Musik ertönen, die köstlichsten Gerichte auftragen und die lieblichsten Mädchen um sie tanzen. Und sie wurde durch duftende Gärten in prächtige Säle hineingeführt, aber nicht ein Lächeln kam auf ihre Lippen oder sprach aus ihren Augen. Wie ein Bild der Trauer stand sie da. Dann öffnete der König eine kleine Kammer dicht daneben, wo sie schlafen sollte; die war mit köstlichen grünen Teppichen geschmückt und glich ganz der Höhle, in der sie gewesen war. Auf dem Fußboden lag das Bund Flachs, welches sie aus den Nesseln gesponnen hatte, und unter der Decke hing das Panzerhemd, welches fertig gestrickt war. Alles dieses hatte ein Jäger als Kuriosität mitgenommen.
„Hier kannst du dich in deine frühere Heimat zurückträumen!“ sagte der König. „Hier ist die Arbeit, die dich dort beschäftigte. Jetzt, mitten in all deiner Pracht, wird es dich erfreuen, an jene Zeit zurückzudenken.“
Als Elisa das sah, was ihrem Herzen so nahe lag, spielte ein Lächeln um ihren Mund, und das Blut kehrte in ihre Wangen zurück. Sie dachte an die Erlösung ihrer Brüder, küsste des Königs Hand; und er drückte sie an sein Herz und ließ durch alle Kirchenglocken das Hochzeitsfest verkünden. Das schöne, stumme Mädchen aus dem Walde ward des Landes Königin.
Da flüsterte der Erzbischof böse Worte in des Königs Ohren, aber sie drangen nicht bis zu seinem Herzen. Die Hochzeit sollte stattfinden; der Erzbischof selbst musste ihr die Krone auf das Haupt setzen, und er drückte mit bösem Sinn den engen Ring fest auf ihre Stirn nieder, so dass es schmerzte. Doch ein schwererer Ring lag um ihr Herz, die Trauer um ihre Brüder. Sie fühlte nicht die körperlichen Leiden. Ihr Mund war stumm, ein einziges Wort würde ja ihren Brüdern das Leben kosten. Aber in ihren Augen sprach sich innige Liebe zu dem guten, schönen König aus, der alles tat, um sie zu erfreuen. Von ganzem Herzen gewann sie ihn von Tag zu Tag lieber; oh, dass sie nur sich ihm vertrauen und ihre Leiden klagen dürfte! Doch stumm musste sie sein, stumm musste sie ihr Werk vollbringen. Deshalb schlich sie sich des Nachts von seiner Seite, ging in die kleine Kammer, welche wie die Höhle geschmückt war, und strickte ein Panzerhemd nach dem andern fertig. Aber als sie das siebente begann, hatte sie keinen Flachs mehr.
Auf dem Kirchhof, das wusste sie, wuchsen Nesseln, die sie brauchen konnte; aber die musste sie selber pflücken. Wie sollte sie da hinaus gelangen!
„Oh, was ist der Schmerz in meinen Fingern gegen die Qual, die mein Herz erduldet!“ dachte sie. „Ich muss es wagen! Der Herr wird seine Hand nicht von mir nehmen!“ Mit einer Herzensangst, als sei es eine böse Tat, die sie vorhabe, schlich sie sich in der mondhellen Nacht in den Garten hinunter und ging durch die Alleen und durch die einsamen Straßen zum Kirchhof hinaus. Da sah sie auf einem der breitesten Grabsteine einen Kreis Lamien sitzen. Diese hässlichen Hexen nahmen ihre Lumpen ab, als ob sie sich baden wollten, und dann gruben sie mit den langen, mageren Fingern die frischen Gräber auf, holten Leichen heraus und aßen ihr Fleisch. Elisa musste nahe an ihnen vorbei, und sie hefteten ihre bösen Blicke auf sie; aber sie betete still, sammelte die brennenden Nesseln und trug sie zu dem Schlosse heim.
Nur ein einziger Mensch hatte sie gesehen: der Erzbischof. Er war munter, wenn die andern schliefen. Nun hatte er doch recht mit seiner Meinung, dass es mit der Königin nicht sei, wie es sein sollte; sie sei eine Hexe, deshalb habe sie den König und das ganze Volk betört.
Im Beichtstuhl sagte er dem König, was er gesehen hatte und was er fürchtete. Und als die harten Worte seiner Zunge entströmten, schüttelten die Heiligenbilder die Köpfe, als wenn sie sagten wollten: „Es ist nicht so! Elisa ist unschuldig!“ Aber der Erzbischof legte es anders aus, er meinte, dass sie gegen sie zeugten, dass sie über ihre Sünden die Köpfe schüttelten. Da rollten zwei schwere Tränen über des Königs Wangen herab. Er ging nach Hause mit Zweifel in seinem Herzen und stellte sich, als ob er in der Nacht schlafe. Aber es kam kein ruhiger Schlaf in seine Augen, er merkte, wie Elisa aufstand. Jede Nacht wiederholte sie dieses, und jedes Mal folgte er ihr sacht nach und sah, wie sie in ihrer Kammer verschwand.
Tag für Tag wurde seine Miene finsterer; Elisa sah es, begriff aber nicht, weshalb. Allein es ängstigte sie, und was litt sie nicht im Herzen für die Brüder. Auf den königlichen Staat und Purpur flossen ihre heißen Tränen; die lagen da wie schimmernde Diamanten, und alle, welche die reiche Pracht sahen, wünschten Königin zu sein. Inzwischen war sie bald mit ihrer Arbeit fertig, nur ein Panzerhemd fehlte noch. Aber Flachs hatte sie auch nicht mehr, nicht eine einzige Nessel. Einmal, nur dieses letzte Mal musste sie deshalb zum Kirchhof und einige Handvoll pflücken. Sie dachte mit Angst an diese einsame Wanderung und an die schrecklichen Lamien; aber ihr Wille stand fest sowie ihr Vertrauen auf den Herrn.
Elisa ging, aber der König und der Erzbischof folgten ihr. Sie sahen sie bei der Gitterpforte zum Kirchhof hinein verschwinden, und als sie sich näherten, saßen die Lamien auf dem Grabstein, wie Elisa sie gesehen hatte. Und der König wendete sich ab, denn unter ihnen dachte er sich die, deren Haupt noch diesen Abend an seiner Brust geruht hatte.
„Das Volk muss sie verurteilen!“ sagte er. Und das Volk verurteilte sie, in den roten Flammen verbrannt zu werden.
Aus den prächtigen Königssälen wurde sie in ein dunkles, feuchtes Loch geführt, wo der Wind durch das Gitter hineinpfiff. Statt Samt und Seide gab man ihr das Bund Nesseln, welches sie gesammelt hatte, darauf konnte sie ihr Haupt legen. Die harten, brennenden Panzerhemden, die sie gestrickt hatte, sollten ihre Decken sein. Aber nichts Lieberes hätte man ihr geben können; sie nahm wieder ihre Arbeit vor und betete zu ihrem Gott. Draußen sangen die Straßenbuben Spottlieder auf sie; keine Seele tröstete sie mit einem freundlichen Wort.
Da schwirrte gegen Abend dicht am Gitter ein Schwanenflügel. Das war der jüngste der Brüder. Er hatte die Schwester gefunden, und sie schluchzte laut vor Freude, obgleich sie wusste, dass die kommende Nacht wahrscheinlich die letzte sein würde, die sie zu leben hatte. Aber nun war ja auch die Arbeit fast beendigt, und ihre Brüder waren hier.
Der Erzbischof kam nun, um in der letzten Stunde bei ihr zu sein, das hatte er dem König versprochen. Aber sie schüttelte das Haupt und bat mit Blicken und Mienen, er möge gehen. In dieser Nacht musste sie ja ihre Arbeit vollenden, sonst war alles unnütz, alles, Schmerz, Tränen und die schlaflosen Nächte. Der Erzbischof entfernte sich mit bösen Worten gegen sie, aber die arme Elisa wusste, dass sie unschuldig war, und fuhr in ihrer Arbeit fort.
Die kleinen Mäuse liefen auf dem Fußboden, sie schleppten Nesseln zu ihren Füßen hin, um doch etwas zu helfen. Und die Drossel setzte sich an das Gitter des Fensters und sang die ganze Nacht so munter, wie sie konnte, damit Elisa nicht den Mut verlieren möchte.
Es dämmerte noch, erst nach einer Stunde ging die Sonne auf. Da standen die elf Brüder an der Pforte des Schlosses und verlangten, vor den König geführt zu werden. Das könne nicht geschehen, wurde geantwortet, es sei ja noch Nacht; der König schlafe und dürfe nicht geweckt werden. Sie baten, sie drohten, die Wache kam, ja selbst der König trat heraus und fragte, was das bedeute. Da ging gerade die Sonne auf, und nun waren keine Brüder zu sehen; aber über das Schloss flogen elf wilde Schwäne hin.
Aus dem Stadttor strömte das ganze Volk; es wollte die Hexe verbrennen sehen. Ein alter Gaul zog den Karren, auf dem sie saß. Man hatte ihr einen Kittel von grobem Sackleinen angezogen; ihr herrliches Haar hing aufgelöst um das schöne Haupt; ihre Wangen waren totenbleich, ihre Lippen bewegten sich leise, während die Finger den grünen Flachs zurichteten. Selbst auf dem Weg zu ihrem Tode unterbrach sie die angefangene Arbeit nicht. Die zehn Panzerhemden lagen zu ihren Füßen, an dem elften arbeitete sie. Der Pöbel verhöhnte sie.
„Sieh die rote Hexe, wie sie murmelt! Kein Gesangbuch hat sie in der Hand, nein, mit ihrer hässlichen Gaukelei sitzt sie da. Reißt sie ihr in tausend Stücke!“ Und sie drangen alle auf sie ein und wollten die Panzerhemden zerreißen. Da kamen elf wilde Schwäne geflogen, die setzten sich rings um sie auf den Karren und schlugen mit ihren großen Schwingen. Nun wich der Haufe erschrocken zur Seite.
„Das ist ein Zeichen des Himmels! Sie ist sicher unschuldig!“ flüsterten viele. Aber sie wagten nicht, es laut zu sagen.
Jetzt ergriff der Henker sie bei der Hand. Da warf sie hastig die elf Panzerhemden über die Schwäne. Und sogleich standen elf schöne Prinzen da. Aber der jüngste hatte einen Schwanenflügel statt des einen Armes, denn es fehlte ein Ärmel in seinem Panzerhemd; den hatte sie nicht fertig gebracht.
„Jetzt darf ich sprechen!“ sagte sie. „Ich bin unschuldig!“
Und das Volk, welches sah, was geschehen war, neigte sich vor ihr wie vor einer Heiligen. Aber sie sank wie leblos in der Brüder Arme, so hatten Spannung, Angst und Schmerz auf sie gewirkt.
„Ja, unschuldig ist sie“, sagte der älteste Bruder, und nun erzählte er alles, was geschehen war. Und während er sprach, verbreitete sich ein Duft wie von Millionen Rosen, denn jedes Stück Brennholz im Scheiterhaufen hatte Wurzel geschlagen und trieb Zweige. Es stand eine duftende Hecke da, hoch und groß mit roten Rosen; ganz oben saß eine Blume, weiß und glänzend, sie leuchtete wie ein Stern. Die pflückte der König und steckte sie an Elisas Brust. Da erwachte sie mit Frieden und Glückseligkeit im Herzen.
Und alle Kirchenglocken läuteten von selbst, und die Vögel kamen in großen Zügen. Es wurde ein Hochzeitszug zurück zum Schloss, wie ihn noch kein König gesehen hatte!

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1838 zum ersten mal in dem Buch namens „Märchen, erzählt für Kinder. Neue Sammlung. Erste Hefte“ von Andersen veröffentlicht.

Die Schneekönigin

Original-Übersetzung

 

Von dem Spiegel und den Scherben

Seht, nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt, denn es war ein böser Kobold! Er war einer der allerärgsten, er war der Teufel. Eines Tages war er recht bei Laune, denn er hatte einen Spiegel gemacht, der die Eigenschaft besaß, dass alles Gute und Schöne, was sich darin spiegelte, fast zu nichts zusammenschwand, aber das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, hervortrat und noch ärger wurde. Die herrlichsten Landschaften sahen wie gekochter Spinat darin aus, und die besten Menschen wurden widerlich oder standen auf dem Kopf ohne Rumpf. Die Gesichter wurden so verdreht, dass sie nicht zu erkennen waren, und hatte man eine Sommersprosse, so konnte man überzeugt sein, dass sie sich über Nase und Mund ausbreitete. Das sei äußerst belustigend, sagte der Teufel. Fuhr nun ein guter, frommer Gedanke durch einen Menschen, dann zeigte sich ein Grinsen im Spiegel, so dass der Teufel über seine künstliche Erfindung lachen musste. Die, welche die Koboldschule besuchten, – denn er hielt Koboldschule, – erzählten überall, dass ein Wunder geschehen sei; nun könnte man erst sehen, meinten sie, wie die Welt und die Menschen wirklich aussähen. Sie liefen mit dem Spiegel umher, und zuletzt gab es kein Land und keinen Menschen mehr, welcher nicht verdreht darin gesehen worden wäre. Nun wollten sie auch zum Himmel selbst auffliegen, um sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, umso mehr grinste er; sie konnten ihn kaum festhalten. Sie flogen höher und höher, Gott und Englein näher; da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, dass er ihren Händen entfiel und zur Erde fiel, wo er in hundert Millionen, Billionen und noch mehr Stücke zersprang. Und nun gerade verursachte er weit größeres Unglück als zuvor, denn einige Stücke waren kaum so groß wie ein Sandkorn. Diese flogen nun in die weite Welt, und wo jemand sie in das Auge bekam, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen alles verkehrt oder hatten nur Augen für das Verkehrte bei einer Sache; denn jede kleine Spiegelscherbe behielt dieselben Kräfte, welche der ganze Spiegel besessen hatte. Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe in das Herz, dann aber war es ganz entsetzlich: das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich. Einige Spiegelscherben waren so groß, dass sie zu Fensterscheiben verbraucht wurden; aber durch diese Scheiben taugte es nicht, seine Freunde zu betrachten. Andere Stücke kamen in Brillen, und dann ging es schlecht, wenn die Leute diese Brillen aufsetzten, um recht zu sehen und gerecht zu sein. Der Böse lachte, dass ihm der Bauch wackelte, und das kitzelte ihn so angenehm. Aber draußen flogen noch kleine Glasscherben in der Luft umher. Nun, wir werden es hören.

Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen

Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, dass dort nicht Platz genug ist, damit alle Leute einen kleinen Garten besitzen können, und wo sich deshalb die meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen müssen, waren zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten als einen Blumentopf besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich ebenso gut, als wenn sie es waren. Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern. Da, wo das Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß und die Wasserrinne zwischen den Dächern entlang lief, war in jedem Hause ein kleines Fenster; man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen Fenster zu dem andern gelangen.
Beider Eltern hatten draußen einen großen hölzernen Kasten, und darin wuchsen Küchenkräuter, die sie gebrauchten, und ein kleiner Rosenstock. In jedem Kasten stand einer; die wuchsen herrlich. Nun fiel es den Eltern ein, die Kasten quer über die Rinne zu stellen, so dass sie fast von dem einen Fenster zum andern reichten und zwei Blumenwallen ganz ähnlich sahen. Erbsenranken hingen über die Kasten herab, und die Rosenstöcke schossen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und einander entgegen bogen; es war fast einer Ehrenpforte von Blättern und Blumen gleich. Da die Kasten sehr hoch waren und die Kinder wussten, dass sie nicht hinaufkriechen durften, so erhielten sie oft die Erlaubnis, zueinander hinaus zu steigen und auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen zu sitzen. Da spielten sie dann prächtig.
Im Winter hatte dieses Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz zugefroren, aber dann wärmten sie Kupferschillinge auf dem Ofen und legten den warmen Schilling gegen die gefrorene Scheibe; dadurch entstand ein schönes Guckloch, so rund, so rund. Dahinter blitzte ein lieblich mildes Auge, eins vor jedem Fenster; das war der kleine Knabe und das kleine Mädchen. Er hieß Kay, und sie hieß Gerda. Im Sommer konnten sie mit einem Sprung zueinander gelangen, im Winter mussten sie erst die vielen Treppen herunter und die Treppen hinauf; draußen stob der Schnee.
„Das sind die weißen Bienen, die schwärmen“, sagte die alte Großmutter.
„Haben sie auch eine Bienenkönigin?“ fragte der kleine Knabe, denn er wusste, dass unter den wirklichen Bienen eine solche ist.
„Die haben sie“, sagte die Großmutter. „Sie fliegt dort, wo sie am dichtesten schwärmen. Sie ist die Größte von allen, und nie bleibt sie still auf der Erde; sie fliegt wieder in die schwarzen Wolken hinauf. Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann frieren diese so sonderbar und sehen wie Blumen aus.“
„Ja, das haben wir gesehen“, sagten beide Kinder und wussten nun, dass es wahr sei.
„Kann die Schneekönigin hier herein kommen?“ fragte das Mädchen.
„Lass sie nur kommen!“ sagte der Knabe; „dann setze ich sie auf den warmen Ofen, und sie schmilzt.“
Aber die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere Geschichten.
Am Abend, als der kleine Kay zu Hause und halb entkleidet war, kletterte er auf den Stuhl am Fenster und guckte durch das kleine Loch. Einige Schneeflocken fielen draußen, und eine, die größte, blieb auf dem Rand des einen Blumenkastens liegen. die Schneeflocke wuchs mehr und mehr und wurde zuletzt eine ganze Jungfrau, in den feinsten weißen Flor gekleidet, der aus Millionen sternartigen Flocken zusammengesetzt war. Sie war so schön und fein, aber von Eis, von blendendem, blinkendem Eis. Doch sie war lebendig; die Augen blitzten wie zwei klare Sterne, aber es war keine Ruhe und keine Rast in ihnen. Sie nickte dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle herunter; da war es, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbeiflöge.
Am nächsten Tage wurde es klarer Frost – und dann kam das Frühjahr. Die Sonne schien, das Grün keimte hervor, die Schwalben bauten Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die kleinen Kinder saßen wieder in ihrem kleinen Garten hoch oben in der Dachrinne über allen Stockwerken.
Wie prachtvoll blühten die Rosen diesen Sommer! Das kleine Mädchen hatten einen Psalm gelernt, in dem auch von Rosen die Rede war, und bei den Rosen dachte sie an ihre eigenen, und sie sang ihn dem kleinen Knaben vor, und er sang mit:
„Die Rosen sie verblühen und verwehen, Wir werden das Christkindlein sehen!“
Und die Kleinen hielten einander bei den Händen, küssten die Rosen, blickten in Gottes hellen Sonnenschein hinein und sprachen zu ihm, als ob das Jesuskind da wäre. Was waren das für herrliche Sommertage! Wie schön war es draußen bei den frischen Rosenhecken, die zu blühen nie aufhören zu wollen schienen!
Kay und Gerda sahen in das Bilderbuch mit Tieren und Vögeln, da war es – die Uhr schlug gerade fünf auf dem großen Kirchturm – als Kay sagte: „Au! es stach mich in das Herz, und mir flog etwas ins Auge!“
Das kleine Mädchen fiel ihm um den Hals. Er blinzelte mit den Augen, – nein, es war nichts zu sehen.
„Ich glaube, es ist weg!“ sagte er; aber weg war es doch nicht. Es war gerade so eins von jenen Glaskörnern, die vom Spiegel gesprungen waren, dem Zauberspiegel, – wir entsinnen uns seiner wohl, – dem hässlichen Glas, das alles Große und Gute, das sich darin abspiegelte, klein und hässlich machte, aber das Böse und Schlechte trat recht hervor, und jeder Fehler an einer Sache war gleich zu bemerken. Der arme Kay hatte auch ein Körnchen gerade in das Herz hinein bekommen. Das wird nun bald wie ein Eisklumpen werden. Nun tat es nicht mehr weh, aber das Körnchen war da.
„Weshalb weinst du?“ fragte er. „So siehst du hässlich aus! – Mir fehlt ja nichts! – Pfui!“ rief er auf einmal, „die Rose dort hat einen Wurmstich! Und sieh, diese da ist ganz schief! Im Grunde sind es hässliche Rosen! Sie gleichen dem Kasten, in welchem sie stehen.“ Und dann stieß er mit dem Fuß gegen den Kasten und riss die beiden Rosen ab.
„Kay, was machst du?“ rief das kleine Mädchen; und als er ihren Schrecken gewahrte, riss er noch eine Rose ab und sprang dann in sein Fenster hinein von der kleinen, lieblichen Gerda fort.
Wenn sie später mit dem Bilderbuch kam, sagte er, dass das für Wickelkinder sei, und erzählte die Großmutter Geschichten, so kam er immer mit einem Aber. Konnte er es möglich machen, dann ging er hinter ihr her, setzte eine Brille auf und sprach ebenso wie sie; das machte er ganz treffend, und die Leute lachten über ihn. Bald konnte er die Sprache und den Gang aller Menschen in der ganzen Straße nachahmen. Alles, was an ihnen eigentümlich und unschön war, das wusste Kay nachzuahmen. Und die Leute sagten: „Das ist sicher ein ausgezeichneter Kopf, den der Knabe hat!“ Aber es war das Glas, welches ihm im Herzen saß; daher kam es auch, dass er selbst die kleine Gerda neckte, die ihm doch von ganzem Herzen gut war.
Seine Spiele wurden nun anders als früher, sie wurden ganz verständig. – An einem Wintertag, als es schneite, kam er mit einem großen Brennglas, hielt seinen blauen Rockzipfel heraus und ließ die Schneeflocken darauf fallen.
„Sieh nur in das Glas, Gerda!“ sagte er, und jede Schneeflocke wurde viel größer und sah aus wie eine prächtige Blume oder ein zehneckiger Stern; es war schön anzusehen. „Siehst du, wie künstlich!“ sagte Kay. „Das ist weit interessanter als die wirklichen Blumen! Und es ist kein einziger Fehler daran; sie sind ganz regelmäßig. Wenn sie nur nicht schmelzen würden!“
Bald darauf kam Kay mit großen Handschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken. Er rief Gerda in die Ohren: „Ich habe die Erlaubnis erhalten, auf dem großen Platz zu fahren, wo die andern Knaben spielen!“ und weg war er.
Dort auf dem Platze banden die kecksten Knaben oft ihre Schlitten an die Wagen der Landleute fest, und dann fuhren sie ein gutes Stück Wegs mit. Das ging recht schön. Als sie im besten Spielen waren, kam ein großer Schlitten; der war ganz weiß angestrichen, und darin saß jemand in einen rauen, weißen Pelz gehüllt und mit einer rauen, weißen Mütze auf dem Kopf. Der Schlitten fuhr zweimal um den Platz herum, und Kay band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest, und nun fuhr er mit. Es ging rascher und rascher, gerade hinein in die nächste Straße. Der, welcher fuhr, drehte sich um und nickte dem Kay freundlich zu; es war, als ob sie einander kennten. Jedes Mal, wenn Kay seinen kleinen Schlitten abbinden wollte, nickte der Fahrende wieder, und dann blieb Kay sitzen. Sie fuhren zum Stadttor hinaus. Da begann der Schnee so dicht niederzufallen, dass der kleine Knabe keine Hand vor sich erblicken konnte; aber er fuhr weiter. Nun ließ er schnell die Schnur fahren, um von dem großen Schlitten loszukommen, doch das half nichts, sein kleines Fuhrwerk hing fest, und es ging mit Windeseile vorwärts. Da rief er ganz laut, aber niemand hörte ihn, und der Schnee stob, und der Schlitten flog von dannen. Mitunter gab es einen Sprung; es war, als führe er über Gräben und Hecken. Der Knabe war ganz erschrocken; er wollte sein Vaterunser beten, aber er konnte sich nur des großen Einmaleins entsinnen.
Die Schneeflocken wurden größer und größer; zuletzt sahen sie aus, wie große, weiße Hühner. Auf einmal sprangen sie zur Seite, der große Schlitten hielt, und die Person, die ihn fuhr, erhob sich. Der Pelz und die Mütze waren ganz und gar von Schnee. Es war eine Dame, hoch und schlank, glänzend weiß: Es war die Schneekönigin.
„Wir sind gut gefahren!“ sagte sie; „aber du wirst wohl frieren! Krieche unter meinen Pelz!“ Und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten und schlug den Pelz um ihn; es war, als versänke er in einem Schneetreiben.
„Friert dich noch?“ sagte sie und küsste ihn auf die Stirn. Oh, das war kälter als Eis; das ging ihm hinein bis ins Herz, das ja schon zur Hälfte ein Eisklumpen war. Es war, als sollte er sterben, aber nur einen Augenblick, dann tat es ihm recht wohl; er spürte nichts mehr von der Kälte ringsumher.
„Meinen Schlitten! Vergiss nicht meinen Schlitten!“ Daran dachte er zuerst, und der wurde an einem der weißen Hühnchen festgebunden, und dieses flog hinterher mit dem Schlitten auf dem Rücken. Die Schneekönigin küsste Kay nochmals, und da hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und alle daheim vergessen.
„Nun bekommst du keine Küsse mehr“, sagte sie, „denn sonst küsste ich dich tot!“
Kay sah sie an: Sie war so schön. Ein klügeres, lieblicheres Antlitz konnte er sich nicht denken. Nun erschien sie ihm nicht von Eis wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte; in seinen Augen war sie vollkommen; er fühlte gar keine Furcht. Er erzählte ihr, dass er kopfrechnen könne, und zwar mit Brüchen; er wisse des Landes Quadratmeilen und die Einwohnerzahl; und sie lächelte immer. Da kam es ihm vor, als wäre es doch nicht genug, was er wisse, und er blickte hinauf in den großen Luftraum. Und sie flog mit ihm hoch hinauf auf die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste; es war, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder. Unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee knisterte, über ihnen flogen die schwarzen, schreienden Krähen, aber hoch oben schien der Mond groß und klar, und dort betrachtete Kay die lange, lange Winternacht; am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.

Der Blumengarten bei der Frau, die zaubern konnte

Aber wie erging es der kleinen Gerda, als Kay nicht zurückkehrte? Wo war er geblieben? Niemand wusste es, niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, dass sie ihn seinen Schlitten an einen andern großen hätten binden sehen, der in die Straße hinein und aus dem Stadttor gefahren wäre. Niemand wusste, wo er geblieben. Viele Tränen flossen, besonders die kleine Gerda weinte sehr viel und lange; – dann sagte sie, er sei tot, er sei im Fluss ertrunken, der nahe bei der Schule vorbeifloss. Oh, das waren recht lange, finstere Wintertage!
Nun kam der Frühling mit wärmerem Sonnenschein.
„Kay ist tot und fort“, sagte die kleine Gerda. „Das glaube ich nicht“, antwortete der Sonnenschein.
„Er ist tot und fort“, sagte sie zu den Schwalben.
„Das glauben wir nicht“, erwiderten diese, und am Ende glaubte die kleine Gerda es auch nicht.
„Ich will meine neuen, roten Schuhe anziehen“, sagte sie eines Morgens, „die, welche Kay nie gesehen hat, und dann will ich zum Flusse hinunter gehen und den nach ihm fragen!“
Und es war noch sehr früh; sie küsste die alte Großmutter, die noch schlief, zog die roten Schuhe an und ging allein aus dem Stadttor nach dem Fluss.
„Ist es wahr, dass du mir meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will dir meine roten Schuhe schenken, wenn du ihn mir wiedergeben willst.“
Und es war ihr, als nickten die Wellen ganz sonderbar. Da nahm sie ihre roten Schuhe, die sie am liebsten hatte, und warf sie beide in den Fluss hinein. Aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land; es war gerade, als wollte der Fluss das Liebste, was sie hatte, nicht, weil er den kleinen Kay nicht hatte. Aber sie glaubte nun, dass sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe, und so kroch sie in ein Boot, das im Schilf lag. Sie ging bis an das äußerste Ende und warf die Schuhe von da in das Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, die sie verursachte, glitt es vom Land ab. Sie bemerkte es und beeilte sich, herauszukommen, doch ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Eile vom Land, und nun trieb es schneller von dannen.
Da erschrak die kleine Gerda sehr und fing an zu weinen; allein niemand außer den Sperlingen hörte sie, und konnten sie nicht an das Land tragen, aber sie flogen längs dem Ufer und sangen, gleichsam um sie zu trösten: „Hier sind wir, hier sind wir!“
Das Boot trieb mit dem Strom Die kleine Gerda saß ganz still nur mit Strümpfen an den Füßen; ihre kleinen roten Schuhe trieben hinter ihr her, aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte schnellere Fahrt.
Hübsch war es an beiden Ufern: schöne Blumen, Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen, aber nicht ein Mensch war zu erblicken.
„Vielleicht trägt mich der Fluss zu dem kleinen Kay hin“, dachte Gerda, und da wurde sie heiterer, erhob sich und betrachtete viele Stunden die grünen, schönen Ufer. Dann gelangte sie zu einem großen Kirschgarten, in dem ein kleines Haus mit sonderbaren roten und blauen Fenstern war; übrigens hatte es ein Strohdach, und draußen waren zwei hölzerne Soldaten, die vor der Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.
Gerda rief nach ihnen, sie glaubte, dass sie lebendig wären; aber sie antworteten natürlich nicht. Sie kam ihnen ganz nahe, denn der Fluss trieb das Boot gerade auf das Land zu.
Gerda rief noch lauter, und da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückstock stützte. Sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.
„Du armes, kleines Kind“, sagte die alte Frau, „wie bist du doch auf den großen, reißenden Strom gekommen und weit in die Welt hinausgetrieben?“ Und dann ging die alte Frau in das Wasser hinein, erfasste mit ihrem Krückstock das Boot, zog es ans Land und hob die kleine Gerda heraus.
Und Gerda war froh, wieder auf das Trockene zu gelangen, obgleich sie sich vor der fremden alten Frau ein wenig fürchtete.
„Komm doch und erzähle mir, wer du bist, und wie du hierher kommst!“ sagte sie.
Und Gerda erzählte ihr alles; und die Alte schüttelte mit dem Kopf und sagte: „Hm! Hm!“ Und als ihr Gerda alles gesagt und sie gefragt hatte, ob sie nicht den kleinen Kay gesehen habe, sagte die Frau, dass er nicht vorbeigekommen sei, aber er komme wohl noch; sie solle nur nicht betrübt sein, sondern ihre Kirschen kosten und ihre Blumen betrachten, die wären schöner als irgendein Bilderbuch; eine jede könne eine Geschichte erzählen. Dann nahm sie Gerda bei der Hand, führte sie in das kleine Haus hinein und schloss die Tür zu.
Die Fenster lagen sehr hoch, und die Scheiben waren rot, blau und gelb; das Tageslicht schien mit allen Farben sonderbar herein. Auf dem Tisch standen die schönsten Kirschen, und Gerda aß davon, so viel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Während sie aß, kämmte die alte Frau ihr das Haar mit einem goldenen Kamm, und das Haar ringelte sich und glänzte herrlich gelb rings um das kleine freundliche Antlitz, das so rund war und wie eine Rose aussah.
„Nach einem so lieben, kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt“, sagte die Alte. „Nun wirst du sehen, wie gut wir miteinander leben werden!“ Und so wie sie der kleinen Gerda Haar kämmte, vergaß diese mehr und mehr ihren Pflegebruder Kay, denn die alte Frau konnte zaubern; aber eine böse Zauberin war sie nicht, sie zauberte nur ein wenig zu ihrem Vergnügen und wollte gern die kleine Gerda behalten. Deshalb ging sie in den Garten, streckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträucher aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie doch alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, wenn Gerda die Rosen erblickte, möchte sie in ihre eigenen denken, sich dann des kleinen Kay erinnern und davonlaufen.
Nun führte sie Gerda hinaus in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und für eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen, und zwar für jede Jahreszeit, standen hier im prächtigsten Flor; kein Bilderbuch konnte bunter und schöner sein. Gerda sprang vor Freude hoch und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirchbäumen unterging; da bekam sie ein schönes Bett mit roten Seidenkissen, die waren mit Veilchen gestopft, und sie schlief und träumte da ganz herrlich.
Am nächsten Tag konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenschein spielen, und so verflossen viele Tage. Gerda kannte jede Blume; aber wie viele deren auch waren, so war es ihr doch, als ob eine fehlte, allein welche, das wusste sie nicht. Da saß sie eines Tages und betrachtete den Sonnenhut der alten Frau mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hute wegzuwischen, als sie die andern in die Erde zauberte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht beisammen hat! „Was, sind hier keine Rosen?“ sagte Gerda und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte. Ach, da war keine zu finden. Da setzte sie sich hin und weinte; aber ihre Tränen fielen gerade auf die Stelle, wo ein Rosenstrauch versunken war, und als die warmen Tränen die Erde benetzten, schoss der Strauch auf einmal empor, so blühend, wie er versunken war, und Gerda umarmte ihn, küsste die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Kay.
„Oh, wie bin ich aufgehalten worden!“ sagte das kleine Madchen. „Ich wollte ja den kleinen Kay suchen! – Wisst ihr nicht, wo er ist?“ fragte sie die Rosen. „Glaubt ihr, er ist tot?“
Tot ist er nicht“, antworteten die Rosen. „Wir sind ja in der Erde gewesen; dort sind alle Toten, aber Kay war nicht da.“
„Ich danke euch!“ sagte die kleine Gerda und ging zu den andern Blumen hin, sah in deren Kelch hinein und fragte: „Wisst ihr nicht, wo der kleine Kay ist?“
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen; davon hörte Gerda so viele, viele, aber keine wusste etwas von Kay.
Und was sagte die Feuerlilie?
„Hörst du die Trommel: bum! bum! Es sind nur zwei Töne; immer, bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang, höre den Ruf der Priester. – In ihrem langen, roten Mantel steht das Hinduweib auf dem Scheiterhaufen. Die Flammen lodern um sie und ihren toten Mann empor, aber das Hinduweib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer als die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?“
„Das verstehe ich nicht“, sagte die kleine Gerda.
„Das ist mein Märchen!“ sagte die Feuerlilie.
Was sagte die Winde?
„Über dem schmalen Fußweg hängt eine alte Ritterburg. Das dichte Immergrün wächst um die morschen, roten Mauern empor, Blatt an Blatt, um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und steht den Weg entlang. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen als sie; keine Apfelblüte, wenn der Wind sie dem Baume entführt, schwebt leichter dahin als sie. Wie rauschte das prächtige Seidengewand! „Kommt er noch nicht?“
„Ist es Kay, den du meinst?“ fragte die kleine Gerda.
„Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traum“, erwiderte die Winde.
Was sagte die kleine Schneeblume?
„Zwischen den Bäumen hängt an Seilen das lange Brett; das ist eine Schaukel. Zwei niedlich kleine Mädchen – die Kleider sind weiß wie der Schnee, und lange, dünne Seidenbänder flattern von den Hüten – sitzen darauf und schaukeln sich. Der Bruder, welcher größer ist als sie, steht in der Schaukel. Er hat den Arm um das Seil geschlungen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hat er eine kleine Schale, in der an dem eine Tonpfeife; er bläst Seifenblasen. Die Schaukel fliegt, und die Blasen steigen mit schönen, wechselnden Farben; die letzte hängt noch am Pfeifenstiel und wiegt sich im Winde. Die Schaukel schwebt; der kleine schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüßen und will mit in die Schaukel; sie fliegt, der Hund fällt, bellt und ist böse; er wird geneckt, die Blasen platzen. – Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!“
„Es ist möglich, dass es hübsch ist, was du erzählst, aber du sagst es so traurig und erwähnst den kleinen Kay nicht.“
Was sagten die Hyazinthen?
„Es waren drei schöne Schwestern, durchsichtig und fein. Der einen Kleid war rot, der andern Kleid blau, der dritten Kleid weiß; Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im hellen Mondschein. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es so süß, und die Mädchen verschwanden im Wald. Der Duft wurde stärker; drei Särge, darin lagen die schönen Mädchen, glitten von des Waldes Dickicht über den See dahin; die Johanneswürmchen flogen leuchtend ringsumher, wie kleine schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen oder sind sie tot? – Der Blumenduft sagt, sie sind Leichen; die Abendglocke läutet den Grabgesang!“
„Du machst mich ganz betrübt“, sagte die kleine Gerda. „Du duftest so stark; ich muss an die toten Mädchen denken! Ach, ist denn der kleine Kay wirklich tot? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen und sagen: Nein!“
„Kling, Klang!“ läuteten die Hyazinthenglocken. „Wir läuten nicht für den kleinen Kay, wir kennen ihn nicht; wir singen nur unser Lied, das einzige, das wir wissen.“
Und Gerda ging zur Butterblume, die aus den glänzenden, grünen Blättern hervorschien.
„Du bist eine kleine, helle Sonne“, sagte Gerda. „Sage mir, weißt du, wo ich meinen Gespielen finden kann?“
Und die Butterblume glänzte so schön und sah wieder auf Gerda. Welches Lied konnte wohl die Butterblume singen? Es handelte auch nicht von Kay.
„In einem kleinen Hofe schien die liebe Gottessonne am ersten Frühlingstage so warm. Die Strahlen glitten an des Nachbarhauses weißen Wänden herab. Dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte golden in den warmen Sonnenstrahlen. Die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhl; die Enkelin, ein armes, schönes Dienstmädchen, kehrte von einem kurzen Besuche heim: sie küsste die Großmutter; es war Gold, Herzensgold in dem gesegneten Kuss. Gold im Mund, Gold im Grund, Gold in der Morgenstund! Sieh, das ist meine kleine Geschichte!“ sagte die Butterblume.
„Meine arme alte Großmutter!“ seufzte Gerda. „Ja, sie sehnt sich gewiss nach mir und grämt sich um mich, ebenso wie sie es um den kleinen Kay tat. Aber ich komme bald wieder nach Hause, und dann bringe ich Kay mit. – Es nützt nichts, dass ich die Blumen frage, die wissen nur ihr eigenes Lied, sie geben mir keinen Bescheid!“ Und dann band sie ihr kleines Kleid auf, damit sie rascher laufen könne. Aber die Pfingstlilie schlug an ihr Bein, indem sie darüber hinsprang; da blieb sie stehen, betrachtete die lange gelbe Blume und fragte: „Weißt du vielleicht etwas?“ Und sie bog sich ganz zur Pfingstlilie hinab; und was sagte die?
„Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!“ sagte die Pfingstlilie. „Oh, oh, wie ich rieche! – Oben in dem kleinen Erkerzimmer steht halb angekleidet, eine kleine Tänzerin. Sie steht bald auf einem Bein, bald auf beiden; sie tritt die ganze Welt mit Füßen; sie ist nichts als Augentäuschung. Sie gießt Wasser aus dem Teetopf auf ein Stück Zeug aus, welches sie hält: Es ist der Schnürleib. – Reinlichkeit ist eine schöne Sache; das weiße Kleid hängt am Haken; das ist auch im Teetopf gewaschen und auf dem Dach getrocknet; sie zieht es an und schlägt das safrangelbe Tuch um den Hals; nun scheint das Kleid noch weißer. Das Bein ausgestreckt! Sieh, wie sie auf einem Stiel prangt! Ich kann mich selbst erblicken. Ich kann mich selbst sehen!“
„Darum kümmere ich mich gar nicht!“ sagte Gerda. „Das brauchst du mir nicht zu erzählen!“ – und dann lief sie bis an das Ende des Gartens.
Die Tür war verschlossen, aber sie drückte auf die verrostete Klinke; so dass diese losbrach. Die Tür ging auf, und die kleine Gerda sprang mit nackten Füßen in die weite Welt hinaus. Sie blickte dreimal zurück, aber niemand war da, der sie verfolgte. Zuletzt konnte sie nicht mehr laufen und setzte sich auf einen großen Stein. Und als sie sich umsah, war es mit dem Sommer vorbei; es war Spätherbst; das konnte man in dem schönen Garten gar nicht bemerken, wo immer Sonnenschein und Blumen aller Jahreszeiten waren.
„Gott, wie habe ich mich verspätet!“ sagte die kleine Gerda. „Es ist ja Herbst geworden!“ Und sie erhob sich, um zu gehen.
Oh, wie waren ihre kleinen Füße so wund und müde! Ringsumher sah es kalt und rau aus. Die langen Weidenblätter waren ganz gelb, und der Tau tröpfelte als Wasser nieder; ein Blatt nach dem andern fiel ab; nur der Schlehdorn trug noch Früchte, die waren aber herb und zogen den Mund zusammen. Oh, wie war es grau und kalt in der weiten Welt!

Prinz und Prinzessin

Gerda musste wieder ausruhen. Da hüpfte dort auf dem Schnee, der Stelle, wo sie saß, gerade gegenüber, eine große Krähe; die hatte lange gesessen, sie betrachtet und mit dem Kopfe gewackelt. Nun sagte sie:
„Krah! Krah! – Gu’Tag! Gu’Tag!“ Besser konnte sie es nicht herausbringen, aber sie meinte es gut mit dem kleinen Mädchen und fragte, wohin sie so allein in die weite Welt hinausginge. Das Wort allein verstand Gerda sehr wohl und fühlte recht, wie viel darin lag; und sie erzählte der Krähe ihr ganzes Leben und Schicksal und fragte, ob sie Kay nicht gesehen habe.
Und die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: „Das könnte sein! Das könnte sein!“
„Wie? Glaubst du?“ rief das kleine Mädchen und hatte fast die Krähe tot gedrückt, so küsste sie diese.
„Vernünftig, vernünftig!“ sagte die Krähe. „Ich glaube, ich weiß; – ich glaube, es kann sein; der kleine Kay – aber nun hat er dich sicher über der Prinzessin vergessen!“
„Wohnt er bei einer Prinzessin?“ fragte Gerda.
„Ja, höre!“ sagte die Krähe. „Aber es fällt mir so schwer, deine Sprache zu sprechen. Verstehst du die Krähensprache? Dann will ich besser erzählen.“
„Nein, die habe ich nicht gelernt“, sagte Gerda; „aber die Großmutter verstand sie, und auch sprechen konnte sie diese Sprache. Hätte ich sie nur gelernt!“
„Tut gar nichts!“ sagte die Krähe. „Ich werde erzählen, so gut ich kann; aber schlecht wird es gehen.“ Dann erzählte sie, was sie wusste.
„In dem Königreich, in dem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist ganz unbändig klug; aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt gibt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie. Neulich saß sie auf dem Thron, und das ist doch nicht so angenehm, wie man sagt; da fing sie an, ein Lied zu singen, und das war dieses: ‚Weshalb sollte ich mich nicht verheiraten?‘ Höre, das ist etwas daran“, sagte die Krähe, „und so wollte sie sich verheiraten. Aber sie wollte einen Mann haben, der zu antworten verstehe, wenn man mit ihm spreche, einen, der nicht bloß dastehe und vornehm aussehe, denn das sei zu langweilig. Nun ließ sie alle Hofdamen zusammentrommeln, und als diese hörten, was sie wollte, wurden sie sehr vergnügt. Du kannst glauben, dass jedes Wort wahr ist“, fügt die Krähe hinzu. „Ich habe eine zahme Geliebte, die geht frei im Schlosse umher, und die hat mir alles erzählt.“
Die Geliebte war natürlich auch eine Krähe. Denn eine Krähe sucht die andere, und es bleibt immer eine Krähe.
„Die Zeitungen kamen sogleich mit einem Rand von Herzen und der Prinzessin Namenszug heraus. Man konnte darin lesen, dass es einem jeden jungen Mann, der gut aussehe, freistehe, auf das Schloss zu kommen und mit der Prinzessin zu sprechen; und derjenige, welcher so spreche, dass man hören könne, er sei dort zu Hause, und der am besten spreche, den wolle die Prinzessin zum Manne nehmen. – Ja, ja“, sprach die Krähe, „du kannst es mir glauben, es ist so gewiss wahr, wie ich hier sitze. Junge Männer strömten herzu, es war ein Gedränge und ein Laufen: aber es glückte weder am ersten, noch am zweiten Tag. Sie konnten alle gut sprechen, wenn sie auf der Straße waren, aber wenn sie in das Schlosstor traten und die Gardisten in Silber sahen und die Treppen hinauf die Lakaien in Gold und die großen erleuchteten Säle, dann wurden sie verwirrt. Und standen sie gar vor dem Thron, wo die Prinzessin saß, dann wussten sie nichts zu sagen, als das letzte Wort, das sie gesprochen hatte; und das noch einmal zu hören, dazu hatte sie keine Lust. Es war, als ob die Leute drinnen Schnupftabak auf den Magen bekommen hätten und in den Schlaf gefallen wären, bis sie wieder auf die Straße kamen, dann erst konnten sie wieder sprechen. Da stand eine Reihe vom Stadttor an bis zum Schloss. – Ich war selbst drinnen, um es zu sehen!“ sagte die Krähe! „Sie wurden hungrig und durstig, aber im Schloss erhielten sie nicht einmal ein Glas Wasser. Zwar hatten einige der Klügsten Butterbrot mitgenommen, aber sie teilten nicht mit ihrem Nachbarn; sie dachten: Lass ihn hungrig aussehen, dann nimmt ihn die Prinzessin nicht!“
„Aber Kay, der kleine Kay!“ fragte Gerda. „Warum kam der? War er unter der Menge?“
„Warte, warte! Jetzt sind wir bei ihm! Es war am dritten Tag, da kam eine kleine Person, ohne Pferd und Wagen, fröhlich gerade auf das Schloss zu marschiert; seine Augen glänzten wie deine, er hatte schönes langes Haar, aber sonst ärmliche Kleider.“
„Das war Kay!“ jubelte Gerda. „Oh, dann habe ich ihn gefunden!“ und sie klatschte in die Hände. „Er hatte ein kleines Ränzel auf dem Rücken“, sagte die Krähe.
„Nein, das war sicher sein Schlitten“, sagte Gerda, „denn mit dem Schlitten ging er fort!“
„Das kann wohl sein“, sagte die Krähe, „ich sah nicht so genau danach! Aber das weiß ich von meiner zahmen Geliebten, dass, als er in das Schlosstor kam und die Leibgardisten in Silber sah und die Treppe hinauf die Lakaien in Gold, er nicht im mindesten verlegen wurde. Er nickte und sagte zu ihnen: ‚Das muss langweilig sein, auf der Treppe zu stehen; ich gehe lieber hinein!‘ Da glänzten die Säle von Lichtern, Geheimräte und Exzellenzen gingen mit entblößten Füßen und trugen Goldgefäße: Man konnte wohl andächtig werden! Seine Stiefel knarrten gewaltig laut, aber ihm wurde doch nicht bange.“
„Das ist ganz gewiss Kay!“ sagte Gerda. „Ich weiß, er hat neue Stiefel an; ich habe sie in der Großmutter Stube knarren hören.“
„Ja freilich knarrten sie!“ sagte die Krähe. „Und frischen Muts ging er gerade zur Prinzessin hinein, die auf einer großen Perle saß, die so groß wie ein Spinnrad war, und alle Hofdamen mit ihren Jungfern und den Jungfern der Jungfern, und alle Kavaliere mit ihren Dienern und den Dienern der Diener, die wieder einen Burschen hielten, standen ringsherum aufgestellt, und je näher sie der Tür standen, desto stolzer sahen sie aus. Des Dieners Dieners Burschen, der immer in Pantoffeln geht, darf man kaum anzusehen wagen, – so stolz steht er in der Tür!“
„Das muss gräulich sein!“ sagte die kleine Gerda. „Und Kay hat doch die Prinzessin erhalten?“
„Wäre ich nicht eine Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, selbst dessen ungeachtet, dass ich verlobt bin. Er soll ebenso gut gesprochen haben wie ich, wenn ich die Krähensprache spreche: Das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich. Er war nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören; und die fand er gut und sie fand ihn wieder gut.“
„Ja sicher, das war Kay!“ sagte Gerda. „Er war so klug: Er konnte im Kopfe mit Brüchen rechnen. – Oh, willst du mich nicht auf dem Schloss einführen?“
„Ja, das ist leicht gesagt!“ antwortete die Krähe. „Aber wie machen wir das? Ich werde es mit meiner zahmen Geliebten besprechen, sie kann uns wohl Rat erteilen; denn das muss ich dir sagen: So ein kleines Mädchen, wie du bist, bekommt nie die Erlaubnis, hineinzukommen.“
„Ja, die erhalte ich!“ sagte Gerda. „Wenn Kay hört, dass ich da bin, kommt er gleich heraus und holt mich.“
„Erwarte mich dort am Gitter!“ sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopfe und flog davon.
Erst als es spät am Abend war, kehrte die Krähe wieder zurück. Krah, krah!“ sagte sie. „Ich soll dich vielmals von ihr grüßen, und hier ist ein kleines Brot für dich. Sie nahm es aus der Küche, dort ist Brot genug, und du bist gewiss hungrig. – Es ist nicht möglich, dass du in das Schloss hineinkommen kannst: Du bist ja barfuss. Die Gardisten in Silber und die Lakaien in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht, du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine schmale Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiß, wie sie den Schlüssel erhalten kann.“
Sie gingen in den Garten hinein, in die große Allee, wo ein Blatt nach dem andern abfiel. Und als auf dem Schloss die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem andern, führte die Krähe die kleine Gerda zu einer Hintertür, die nur angelehnt war.
Oh, wie Gerdas Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war, als ob sie etwas Böses tun wollte, und sie wollte ja doch nur wissen, ob es der kleine Kay sei. Ja, er musste es sein. Sie gedachte so lebendig seiner klugen Augen, seines langes Haares; sie konnte sehen, wie er lächelte wie damals, als sie daheim unter den Rosen saßen. Er würde sicher froh sein, sie zu erblicken, zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt, zu wissen, wie betrübt sie alle daheim gewesen seien, als er nicht wiederkam. Oh, das war eine Furcht und eine Freude!
Nun waren sie auf der Treppe, da brannte eine kleine Lampe auf dem Schrank. Mitten auf dem Fußboden stand die zahme Krähe und wendete den Kopf nach allen Seiten und betrachtete Gerda, die sich verneigte, wie die Großmutter sie gelehrt hatte.
„Mein Verlobter hat mir so viel Gutes von Ihnen gesagt, mein kleines Fräulein“, sagte die zahme Krähe. „Ihr Lebenslauf, wie man es nennt, ist auch sehr rührend. Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorangehen. Wir gehen hier den geraden Weg, denn da begegnen wir niemand.“
„Es ist mir, als käme jemand hinter uns her“, sagte Gerda, und es sauste an ihr vorbei. Es war wie Schatten an der Wand: Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.
„Das sind nur Träume“, sagte die Krähe, „die kommen und holen der hohen Herrschaften Gedanken zur Jagd ab. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bett betrachten. Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehren und Würden gelangen, werden Sie ein dankbares Herz zeigen.“
„Das versteht sich von selbst“, sagte die Krähe vom Walde.
Nun kamen sie in den ersten Saal, der war aus rosenrotem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinauf. Hier sausten an ihnen schon die Träume vorbei, aber sie ritten so schnell, dass Gerda die hohen Herrschaften nicht zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere; ja, man konnte wohl verdutzt werden. Nun waren sie im Schlafgemach. Hier glich die Decke einer großen Palme mit Blättern von kostbarem Glas, und mitten auf dem Fußboden hingen an einem dicken Stängel aus Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah. Die eine war weiß, in der lag die Prinzessin; die andere war rot, und in dieser sollte Gerda den kleinen Kay suchen. Sie bog eins der roten Blätter zur Seite, da sah sie einen braunen Nacken. – Oh, das war Kay! – Sie rief laut seinen Namen, hielt die Lampe nach ihm hin – die Träume sausten zu Pferde wieder in die Stube hinein – er erwachte, drehte den Kopf um, und es war nicht der kleine Kay.
Der Prinz glich ihm nur im Nacken, aber jung und hübsch war er. Und aus dem weißen Lilienblatt blinzelte die Prinzessin hervor und fragte, wer da wäre. Da weinte die kleine Gerda und erzählte ihre ganze Geschichte und alles, was die Krähen für sie getan hatten.
„Du armes Kind“!“ sagten der Prinz und die Prinzessin, und sie lobten die Krähen und sagten, dass sie nicht böse auf sie seien, aber sie sollten es ja nicht öfter tun; übrigens sollten sie eine Belohnung erhalten.
„Wollt ihr frei fliegen?“ fragte die Prinzessin. „Oder wollt ihr feste Anstellung als Hofkrähen haben mit allem, was in der Küche abfällt?“
Und beide Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung, denn sie gedachten des Alters und sagten: „Es wäre schön, etwas für die alten Tage zu haben“, wie sie es nannten.
Und der Prinz stand aus seinem Bett auf und ließ Gerda darin schlafen, mehr konnte er nicht tun. Sie faltete ihre kleinen Hände und dachte: „Wie gut sind doch die Menschen und die Tiere!“ – Dann schloss sie ihre Augen und schlief sanft. Alle Träume kamen wieder hereingeflogen, sie sahen wie Engel Gottes aus und zogen einen kleinen Schlitten, auf dem Kay saß und nickte; aber das Ganze war nur ein Traum, und deshalb war es auch wieder fort, sobald sie erwachte.
Am folgenden Tage wurde sie vom Kopf bis zu den Füßen in Seide und Samt gekleidet. Es wurde ihr angeboten, auf dem Schlosse zu bleiben und gute Tage zu genießen, aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferd und um ein Paar Stiefelchen, dann wollte sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Kay suchen.
Und sie erhielt sowohl Stiefelchen als auch Muff und wurde niedlich gekleidet. Als sie fort wollte, hielt vor der Tür eine neue Kutsche aus reinem Gold. Des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte daran wie ein Stern, Kutscher, Diener und Vorreiter – denn es waren auch Vorreiter da – saßen mit Goldkronen auf dem Kopf zu Pferde. Der Prinz und die Prinzessin halfen ihr selbst in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Die Waldkrähe, welche nun verheiratet war, begleitete sie die ersten drei Meilen; sie saß ihr zur Seite, denn sie konnte nicht vertragen, rückwärts zu fahren. Die andere Krähe stand in der Tür und schlug mit den Flügeln; sie kam nicht mit, denn sie litt an Kopfschmerzen, seitdem sie eine feste Anstellung und zu viel zu essen erhalten hatte. Inwendig war die Kutsche mit Zuckerbrezeln gefüttert, und im Sitze waren Früchte und Pfeffernüsse.
„Lebe wohl! Lebe wohl!“ rief der Prinz und die Prinzessin, und die kleine Gerda weinte, und die Krähe weinte. – So ging es die ersten drei Meilen, da sagte auch die Krähe Lebewohl und das war der schwerste Abschied. Sie flog auf einen Baum und schlug mit ihren schwarzen Flügeln, solange sie den Wagen, der wie der helle Sonnenschein glänzte, erblicken konnte.

Das kleine Räubermädchen

Sie fuhren durch den dunklen Wald, aber die Kutsche leuchtete wie eine Fackel. Das stach den Räubern in die Augen, das konnten sie nicht ertragen.
„Das ist Gold, das ist Gold!“ riefen sie, stürzten hervor, ergriffen die Pferde, schlugen die kleinen Jockeys, den Kutscher und die Diener tot und zogen dann die kleine Gerda aus dem Wagen.
„Sie ist fett, sie ist niedlich, sie ist mit Nusskernen gefüttert“, sagte das alte Räuberweib, das einen langen, struppigen Bart und Augenbrauen hatte, die ihr über die Augen herabhingen.
„Sie ist so gut wie ein kleines, fettes Lamm; wie soll die schmecken!“ Und dann zog sie ihr blankes Messer heraus, das glänzte, dass es grässlich war.
„Au!“ sagte das Weib zu gleicher Zeit; sie wurde von der eigenen Tochter, die gar wild und unartig auf ihrem Rücken hing, in das Ohr gebissen. „Du hässliches Balg!“ sagte die Mutter und hatte nicht Zeit, Gerda zu schlachten.
„Sie soll mit mir spielen“, sagte das kleine Räubermädchen. „Sie soll mir ihren Muff, ihr hübsches Kleid geben, bei mir in meinem Bett schlafen.“ Und dann biss sie wieder, dass das Räuberweib in die Höhe sprang und sich ringsherum drehte. Und alle Räuber lachten und sagten: „Sieh, wie es mit seinem Kalb tanzt!“
„Ich will in den Wagen hinein“, sagte das kleine Räubermadchen. Sie musste und wollte ihren Willen haben, denn sie war ganz verzogen und sehr hartnäckig. Sie und Gerda saßen drinnen und fuhren über Stock und Stein tiefer in den Wald hinein. Das kleine Räubermädchen war so groß wie Gerda, aber stärker, breitschultriger und von dunkler Haut; die Augen waren schwarz und sahen fast traurig aus. Sie fasste die kleine Gerda um den Leib und sagte: „Sie sollen dich nicht schlachten, solange ich dir nicht böse werde. Du bist wohl eine Prinzessin?“
„Nein“, sagte Gerda und erzählte alles, was sie erlebt hatte, und wie sehr sie den kleinen Kay lieb hätte.
Das Räubermädchen betrachtete sie ganz ernsthaft, nickte ein wenig mit dem Kopf und sagte: „Sie sollen dich nicht schlachten, selbst wenn ich dir böse werde; dann werde ich es schon selbst tun!“ Und dann trocknete sie Gerdas Augen und steckte ihre beiden Hände in den schönen Muff, der weich und warm war.
Nun hielt die Kutsche: Sie waren mitten auf dem Hofe eines Räuberschlosses. Dieses war von oben bis unten geborsten. Raben und Krähen flogen aus den offenen Löchern, und die großen Bullenbeißer, von denen jeder aussah, als könne er einen Menschen verschlingen, sprangen hoch empor, aber sie bellten nicht, denn das war verboten.
In dem großen, alten, verräucherten Saal brannte mitten auf dem steinernen Fußboden ein helles Feuer. Der Rauch zog unter der Decke hin und musste sich selbst den Ausweg suchen. Ein großer Braukessel mit Suppe kochte, Hasen und Kaninchen wurden am Spieß gebraten.
„Du sollst diese Nacht mit mir bei allen meinen kleinen Tieren schlafen“, sagte das Räubermädchen. Sie bekamen zu essen und zu trinken Lind gingen dann nach einer Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Oben darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die alle zu schlafen schienen, sich aber noch ein wenig drehten, als die beiden kleinen Mädchen kamen.
„Die gehören alle mir“, sagte das kleine Räubermädchen und ergriff rasch eine der nächsten, hielt sie bei den Füßen und schüttelte sie, dass sie mit den Flügeln schlug. „Küsse sie!“ rief sie und schlug sie Gerda ins Gesicht. „Da sitzen die Waldkanaillen“, fuhr sie fort und zeigte hinter eine Anzahl Stäbe, die vor einem Loch oben in die Mauer eingeschlagen waren. „Das sind Waldkanaillen, die beiden; die fliegen gleich fort, wenn man sie nicht recht verschlossen hält. Und hier steht mein alter Liebster, Bä!“ Und sie zog ein Renntier am Geweih hervor, das einen blanken kupfernen Ring um den Hals trug und angebunden war. „Den müssen wir auch in der Klemme halten, sonst springt er von uns fort. An jedem Abend kitzele ich ihn mit meinem scharfen Messer am Hals, davor fürchtet er sich sehr.“ Und das kleine Mädchen zog ein langes Messer aus einer Spalte in der Mauer und ließ es über des Renntiers Hals hingleiten. Das arme Tier schlug mit den Beinen aus, das kleine Räubermädchen lachte und zog dann Gerda mit in das Bett hinein.
„Willst du das Messer behalten, wenn du schläfst?“ fragte Gerda und blickte etwas furchtsam nach diesem hin.
„Ich schlafe immer mit dem Messer“, sagte das kleine Räubermädchen. „Man weiß nie, was vorfallen kann. Aber erzähle mir nun wieder, was du mir vorhin von dem kleinen Kay erzähltest, und weshalb du in die weite Welt hinausgegangen bist.“ Und Gerda erzählte wieder von vorn, und die Waldtauben gurrten oben im Käfig, aber die andern Tauben schliefen. Das kleine Räubermädchen legte seinen Arm um Gerdas Hals, hielt das Messer in der andern Hand und schlief, dass man es hören konnte. Aber Gerda konnte ihre Augen durchaus nicht schließen; sie wusste nicht, ob sie leben oder sterben sollte. Die Räuber saßen rings um das Feuer, sangen und tranken, und das Räuberweib überpurzelte sich. Oh, dies mit anzusehen, war ganz grässlich für das kleine Mädchen.
Da sagten die Waldtauben: „Gurre! Gurre! Wir haben den kleinen Kay gesehen. Ein weißes Huhn trug seinen Schlitten; er saß im Wagen der Schneekönigin, der dicht über den Wald hinfuhr, als wir im Nest lagen. Sie blies auf uns junge Tauben, und außer uns beiden starben alle. Gurre! Gurre!“
„Was sagt ihr dort oben?“ rief Gerda. „Wohin reiste die Schneekönigin? Wisst ihr etwas davon?“
„Sie reiste wahrscheinlich nach Lappland, denn dort ist immer Schnee und Eis. Frage das Renntier, das am Strick angebunden steht.“
„Dort ist Eis und Schnee, dort ist es herrlich und gut!“ sagte das Renntier. „Dort springt man frei umher in den großen glänzenden Tälern. Dort hat die Schneekönigin ihr Sommerzeit, aber ihr bestes Schloss ist oben, gegen den Nordpol hin, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird.“
„O Kay, kleiner Kay!“ seufzte Gerda.
„Du musst still liegen“, sagte das Räubermädchen, „sonst stoße ich dir das Messer in den Leib!“
Am Morgen erzählte Gerda ihr alles, was die Waldtauben gesagt hatten, und das kleine Räubermädchen sah ernsthaft aus, nickte mit dem Kopf und sagte: „Das ist einerlei! Das ist einerlei! – Weißt du, wo Lappland ist? Frage das Renntier!“
„Wer könnte es wohl besser wissen als ich?“ sagte das Tier, und die Augen funkelten ihm im Kopf. „Dort bin ich geboren und erzogen; dort bin ich auf den Schneefeldern umhergesprungen.“
„Höre“, sagte das Räubermädchen zu Gerda, „du siehst, alle unsere Mannsleute sind fort; nur die Mutter ist noch hier, und die bleibt. Aber gegen Mittag trinkt sie aus der großen Flasche und schlummert nachher ein wenig, – dann werde ich etwas für dich tun.“ Nun sprang sie aus dem Bett, fuhr der Mutter um den Hals, zog sie am Bart und sagte:
„Mein einzig lieber Ziegenbock, guten Morgen!“ Und die Mutter gab ihr Nasenstüber, dass die Nase rot und blau wurde, und das geschah alles aus lauter Liebe.
Als die Mutter dann aus ihrer Flasche getrunken hatte und darauf einschlief, ging das Räubermädchen zum Renntier hin und sagte: „Ich könnte große Freude daran haben, dich noch manches Mal mit dem scharfen Messer zu kitzeln, denn dann bist du so possierlich, aber es ist einerlei. Ich will deine Schnur lösen und dir hinaushelfen, damit du nach Lappland laufen kannst; aber du musst tüchtig Beine machen und dieses kleine Mädchen zum Schloss der Schneekönigin bringen, wo ihr Spielkamerad ist. Du hast wohl gehört, was sie erzählte, denn sie sprach laut genug, und du horchtest.“
Das Renntier sprang vor Freuden hoch auf. Das Räubermädchen hob die kleine Gerda hinauf und hatte die Vorsicht, sie festzubinden, ja, ihr sogar ihr kleines Kissen als Sitz mitzugeben. „Da hast du auch deine Pelzstiefel“, sagte sie, „denn es wird kalt; aber den Muff behalte ich, der ist zu niedlich. Darum sollst du aber doch nicht frieren. Hier hast du meiner Mutter große Fausthandschuhe, die reichen dir gerade bis zu den Ellbogen hinauf. Kriech hinein! – Nun siehst du an den Händen ebenso aus wie meine hässliche Mutter.“
Und Gerda weinte vor Freude.
„Ich kann nicht leiden, dass du grinsest“, sagte das kleine Räubermädchen. „Jetzt musst du gerade recht froh aussehen! Und hier hast du zwei Brote und einen Schinken, nun wirst du nicht hungern.“ Beides wurde hinten auf das Renntier gebunden. Das kleine Räubermädchen öffnete die Tür, lockte alle die großen Hunde herein, durchschnitt dann den Strick mit dem scharfen Messer und sagte zum Renntier: „Lauf nun! Aber gib recht auf das kleine Mädchen acht!“
Und Gerda streckte die Hände mit den großen Fausthandschuhen gegen das Räubermädchen aus und sagte: „Lebewohl!“ Dann jagte das Renntier über Stock und Stein davon, durch den großen Wald, über Sümpfe und Steppen, so schnell es nur konnte. Die Wölfe heulten und die Raben schrieen. – „Fut! Fut!“ ging es am Himmel. Es war, als sprühe der Himmel Feuer.
„Das sind meine alten Nordlichter“, sagte das Renntier, „sieh wie sie leuchten!“ Und nun lief es noch schneller davon, Tag und Nacht. Die Brote wurden verzehrt, der Schinken auch – und dann waren sie in Lappland.

Die Lappin und die Finnin

Bei einem kleinen Hause hielten sie an. Es war sehr armselig, das Dach hing bis zur Erde herab, und die Tür war so niedrig, dass die Familie kriechen musste, wenn sie heraus oder hinein wollte. Hier war außer einer alten Lappin, die bei einer Tranlampe Fische kochte, niemand im Hause. Das Renntier erzählte Gerdas ganze Geschichte, aber zuerst seine eigene, denn diese schien ihm weit wichtiger; und Gerda war so angegriffen von der Kälte, dass sie nicht sprechen konnte.
„Ach, ihr Armen!“ sagte die Lappin, „da habt ihr noch weit zu laufen. Ihr müsst über hundert Meilen in Finnmarken hinein, denn da wohnt die Schneekönigin auf dem Lande und brennt jeden Abend bengalische Flammen. Ich werde einige Worte auf einen trockenen Stockfisch schreiben – Papier habe ich nicht – den werde ich euch für die Finnin dort oben mitgeben, sie kann euch besser Bescheid geben als ich.“
Und als Gerda nun erwärmt war und zu essen und zu trinken bekommen hatte, schrieb die Lappin einige Worte auf einen trockenen Stockfisch, bat Gerda, wohl darauf zu achten, band sie wieder auf dem Renntier fest, und dieses sprang davon. „Fut, Fut!“ ging es oben in der Luft; die ganze Nacht brannten die schönsten blauen Nordlichter – und dann kamen sie nach Finnmarken und klopften an den Schornstein der Finnin, denn sie hatte nicht einmal eine Tür.
Da drinnen war eine Hitze, dass die Finnin fast nackt ging; sie war klein und schmutzig. Gleich löste sie die Kleider der kleinen Gerda und zog ihr die Fausthandschuhe und Stiefel aus, den sonst wäre es ihr zu heiß geworden, legte dem Renntier ein Stück auf den Kopf und las dann, was auf dem Stockfisch geschrieben stand. Sie las es dreimal, da wusste sie es auswendig und steckte den Fisch in den Suppenkessel, denn er konnte ja gegessen werden, und sie verschwendete nie etwas.
Nun erzählte das Renntier zuerst seine Geschichte, dann die der kleinen Gerda, und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber nichts.
„Du bist sehr klug“, sagte das Renntier; „ich weiß, du kannst alle Winde der Welt mit einem Zwirnsfaden zusammenbinden. Wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht er scharf, und löst er den dritten und vierten, so stürmt es, dass die Wälder umfallen. Willst du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, dass sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?“
„Zwölf-Männer-Kraft?“ sagte die Finnin. „Ja, das würde viel helfen!“ Dann ging sie nach einem Bett, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben, und die Finnin las, dass ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.
Aber das Renntier bat wieder so sehr für die kleine Gerda, und Gerda blickte die Finnin mit so bittenden Augen voll Tränen an, dass sie abermals mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Renntier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:
„Der kleine Kay ist freilich bei der Schneekönigin und findet dort alles nach seinem Geschmack und Gefallen und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt. Aber das kommt daher, dass er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat. Die müssen erst heraus, sonst wird er nie wieder ein Mensch, und die Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten.“
„Aber kannst du nicht der kleinen Gerda etwas eingeben, dass sie Gewalt über das Ganze erhält?“
„Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt. Siehst du nicht, wie groß die ist? Siehst du nicht, wie Menschen und Tiere ihr dienen müssen, wie sie mit nackten Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann nicht von uns ihre Macht erhalten, die besitzt sie in ihrem Herzen; die besteht darin, dass sie ein liebes, unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Kay bringen, dann können wir nicht helfen. Zwei Meilen von hier beginnt der Garten der Schneekönigin, dahin kannst du das kleine Mädchen tragen. Setze sie beim großen Busch ab, der mit roten Beeren im Schnee steht; halte keinen Gevatterklatsch, sondern spute dich, hierher zurückzukommen!“ Und dann hob die Finnin die kleine Gerda auf das Renntier, das lief, was er konnte.
„Oh, ich habe meine Stiefel nicht! Ich habe meine Fausthandschuhe nicht!“ rief die kleine Gerda. Das merkte sie in der schneidenden Kälte, aber das Renntier wagte nicht anzuhalten, es lief, bis es zu dem Busch mit den roten Beeren gelangte. Da setzte es Gerda ab und küsste sie auf den Mund, und es liefen große, blanke Tränen über des Tieres Backen; und dann lief es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand die arme Gerda ohne Schuhe, ohne Handschuhe, mitten in dem fürchterlichen, eiskalten Finnmarken.
Sie lief vorwärts, so schnell sie nur konnte. Da kam ein Regiment Schneeflocken, aber die fielen nicht vom Himmel herab, der war hell und glänzte von Nordlichtern. Die Schneeflocken liefen gerade auf der Erde hin, und ja näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gerda erinnerte sich noch, wie groß und künstlich die Schneeflocken damals ausgesehen hatten, als sie dieselben durch ein Brennglas betrachtete. Aber hier waren sie freilich noch größer und fürchterlicher, sie lebten, sie waren der Schneekönigin Vorposten. Sie hatten die sonderbarsten Gestalten: einige sahen aus wie hässliche, große Stachelschweine, andere wie Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorstreckten, noch andre wie kleine, dicke Bären, auf denen das Haar sich sträubte; alle waren glänzend weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.
Da betete die kleine Gerda ihr Vaterunser. Die Kälte war so groß, dass sie ihren eigenen Atem sehen konnte, er ging ihr wie Rauch aus dem Mund. Der Atem wurde dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten; und alle hatten Helme auf dem Kopf und Spieße und Schilde in den Händen. Ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gerda ihr Vaterunser beendet hatte, war eine ganze Legion um sie. Sie stachen mit ihren Spießen gegen die gräulichen Schneeflocken, so dass diese in hundert Stücke zersprangen, und die kleine Gerda ging sicher und frohen Mutes vorwärts. Die Engel streichelten ihre Hände und Füße, da empfand sie weniger, wie kalt es war, und eilte nach der Schneekönigin Schloss.
Aber nun müssen wir doch erst sehen, was Kay macht. Er dachte freilich nicht an die kleine Gerda, am wenigsten, dass sie draußen vor dem Schloss stehe.

Von dem Schloss der Schneekönigin, und was sich später darin zutrug

Des Schlosses Wände waren gebildet aus treibendem Schnee und Fenster und Türen aus den schneidenden Winden. Es waren über hundert Säle darin, alle, wie sie der Schnee zusammenwehte. Der größte erstreckte sich mehrere Meilen weit. Das glänzende Nordlicht beleuchtete sie alle, und wie groß und leer, wie eisig kalt und glänzend waren sie! Nie gab es hier Lustbarkeiten, nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm hätte aufspielen und wobei die Eisbären hätten auf den Hinterfüßen gehen und ihre feinen Manieren zeigen können; nie eine kleine Spielgesellschaft mit Haschen und Tatzenschlag; nie einen kleinen Kaffeeklatsch von Weißen-Fuchs-Fräulein: Leer, groß und kalt war es in der Schneekönigin Sälen. Die Nordlichter flammten so genau, dass man zählen konnte, wann sie am höchsten und wann sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren, unendlichen Schneesaal war ein zugefrorener See, der war in tausend Stücke zersprungen, aber jedes Stück war dem andern gleich, dass es ein vollkommenes Kunstwerk war. Mitten auf dem See saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war; dann sagte sie, dass sie im Spiegel des Verstandes säße, und dass dieser der einzige und der beste in der Welt sei.
Der kleine Kay war blau vor Kälte, ja fast schwarz, aber er merkte es doch nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer weggeküsst, und sein Herz glich einem Eisklumpen. Er schleppte einige scharfe, flache Eisstücke hin und her, die er auf alle mögliche Weise aneinander fügte, denn er wollte damit etwas herausbringen. Es war, als ob wir kleine Tafeln haben und diese zu Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Kay tat dies auch und legte Figuren, und zwar die künstlichsten. Das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ausgezeichnet und von der höchsten Vollendung: das machte das Glaskörnchen, das ihm im Auge saß! Er legte vollständige Figuren, die ein geschriebenes Wort waren, aber nie konnte er es dahin bringen, das Wort zu legen, das er haben wollte, das Wort Ewigkeit. Die Schneekönigin hatte gesagt: „Kannst du diese Figur ausfindig machen, dann sollst du dein eigener Herr sein, und ich schenke dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe.“ Aber er konnte es nicht.
„Nun sause ich fort nach den warmen Ländern“, sagte die Schneekönigin. „Ich will hinfahren und in die schwarzen Töpfe hineinsehen.“ – Das waren die feuerspeienden Berge Ätna und Vesuv, wie man sie nennt. „Ich werde sie ein wenig weiß machen. Das gehört dazu, das tut den Zitronen und Weintrauben gut!“ Und die Schneekönigin flog davon, und Kay saß allein in dem viele Meilen großen, leeren Eissaal, betrachtete die Eisstücke und dachte so scharf, dass es in ihm knackte. Steif und still saß er: Man hätte glauben sollen, er wäre erfroren.
Da geschah es, dass die kleine Gerda durch das große Tor in das Schloss trat. Hier herrschten schneidende Winde. Sie trat in die großen, leeren, kalten Säle hinein – da erblickte sie Kay. Sie erkannte ihn, flog ihm um den Hals, hielt ihn fest und rief: „Kay! lieber kleiner Kay! Da habe ich dich endlich gefunden!“
Aber er saß still, steif und kalt. Da weinte die kleine Gerda heiße Tränen, die fielen auf seine Brust; sie drangen in sein Herz, tauten den Eis- klumpen auf und verzehrten das kleine Spiegelstück darin. Er betrachtete sie und sie sang:

„Rosen, die blühen und verwehen:
Wir werden das Christkindlein sehen!“

Da brach Kay in Tränen aus: Er weinte so, dass das Spiegelkörnchen aus dem Auge schwamm. Nun erkannte er sie und jubelte: „Gerda! Liebe kleine Gerda! Wo bist du so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?“ Und er blickte rings um sich her. „Wie kalt ist es hier! Wie ist es hier weit und leer!“ Und erklammerte sich an Gerda an. und sie lachte

und weinte vor Freuden. Das war so herrlich, dass selbst die Eisstücke vor Freuden ringsherum tanzten, und als sie müde waren und sich niederlegten, lagen sie in den Buchstaben, von denen die Schneekönigin gesagt hatte, dass er sie ausfindig machen solle, dann wäre er sein eigener Herr und sie wolle ihm die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe geben.
Und Gerda küsste seine Wangen, und sie wurden blühend; sie küsste seine Augen, und sie leuchteten gleich den ihrigen; sie küsste seine Hände und Füße, und er war gesund und munter. Die Schneekönigin mochte nun nach Hause kommen: sein Freibrief stand da mit glänzenden Eisstücken geschrieben.
Und sie fassten einander bei den Händen und wanderten aus dem großen Schloss heraus. Sie sprachen von der Großmutter und von den Rosen oben auf dem Dach, und wo sie gingen, ruhten die Winde, und die Sonne brach hervor; und als sie den Busch mit den roten Beeren erreichten, stand das Renntier da und wartete. Er brachte noch ein anderes junges Renntier mit, dessen Euter voll war, und dieses gab den Kleinen seine warme Milch und küsste sie auf den Mund. Dann trugen sie Kay und Gerda zuerst zur Finnin, wo sie sich in der heißen Stube aufwärmten und über die Heimreise Bescheid erhielten, dann zur Lappin, die ihnen neue Kleider genäht und ihren Schlitten instand gesetzt hatte.
Das Renntier und das Junge sprangen zur Seite und folgten bis zur Grenze des Landes; dort sprosste das erste Grün hervor. Da nahmen sie Abschied von den Renntieren und von der Lappin. „Lebt wohl!“ sagten alle. Und die ersten kleinen Vögel begannen zu zwitschern, der Wald hatte grüne Knospen, und aus ihm kam auf einem prächtigen Pferd, das Gerda kannte, – es war vor die goldene Kutsche gespannt gewesen, – ein junges Mädchen geritten, mit einer glänzend roten Mütze auf dem Kopfe und Pistolen in der Halfter; das war das kleine Räubermädchen, das es satt hatte, zu Hause zu sein, und nun erst gegen Norden und später, wenn ihr das nicht zusagte, nach einer andern Weltgegend hin wollte. Sie erkannte Gerda sogleich, und Gerda erkannte sie auch: Das war eine Freude!
„Du bist ein schöner Patron mit deinem Herumschweifen!“ sagte sie zum kleinen Kay. „Ich möchte wissen, ob du verdienst, dass man deinethalben bis an das Ende der Welt läuft!“ Aber Gerda streichelte ihr die Wangen und fragte nach dem Prinzen und der Prinzessin.
„Die sind nach fremden Ländern gereist“, sagte das Räubermädchen.
„Aber die Krähe?“ sagte Gerda.
„Ja, die Krähe ist tot“, erwiderte sie. „Die zahme Geliebte ist Witwe geworden und geht mit einem Endchen schwarzen wollenen Garns um das Bein; sie klagt jämmerlich und Geschwätz ist das Ganze. – Aber erzählt mir nun, wie es dir ergangen ist, und wie du ihn erwischt hast.“
Und Gerda und Kay erzählten.
„Snipp-Snapp-Surre-Purre-Basselurre!“ sagte das Räubermädchen, nahm beide bei den Händen und versprach, dass, wenn sie je durch ihre Stadt kommen sollte, sie hinaufkommen wolle, sie zu besuchen. Und damit ritt sie in die weite Welt hinein.
Aber Gerda und Kay gingen Hand in Hand, und wo sie gingen, war es herrlicher Frühling mit Blumen und Grün. Die Kirchenglocken läuteten, und sie erkannten die hohen Türme, die große Stadt: es war die, in der sie wohnten. Und sie gingen hinein und hin zur Tür der Großmutter, die Treppe hinauf, in die Stube hinein, wo alles wie früher auf derselben Stelle stand. Und die Uhr ging: Tick! Tack! und die Zeiger drehten sich; aber als sie durch die Tür gingen, bemerkten sie, dass sie erwachsene Menschen geworden waren. Die Rosen aus der Dachrinne blühten zum offenen Fenster herein, und da standen die kleinen Kinderstühle, und Kay und Gerda setzten sich ein jedes auf den seinigen und hielten einander bei den Händen. Die kalte, leere Herrlichkeit bei der Schneekönigin hatten sie wie einen schweren Traum vergessen. Die Großmutter saß in Gottes hellem Sonnenschein und las laut aus der Bibel: „Werdet ihr nicht wie die Kinder, so werdet ihr das Reich Gottes nicht schauen!“
Und Kay und Gerda sahen einander in die Augen und verstanden auf einmal den alten Gesang:

„Rosen, die blühen und verwehen:
Wir werden das Christkindlein sehen!“

Da saßen sie beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen; und es war Sommer, warmer wohltuender Sommer.

 

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1844 zum ersten mal in dem Buch namens “ Neue Märchen. Erste Sammlung. Zweite Hefte“ von Andersen veröffentlicht.

Der Reisekamerad

Original-Übersetzung

 

Der arme Johannes war tief betrübt, denn sein Vater war sehr krank und hatte nur noch Stunden zu leben. Niemand außer den beiden war in der kleinen Stube. Die Lampe auf dem Tisch war dem Erlöschen nahe, und es war schon später Abend.
„Du warst mir ein guter Sohn, Johannes!“ sagte der kranke Vater, „der liebe Gott wird dir schon weiterhelfen im Leben!“ Und er sah mit ernsten, milden Augen auf ihn, holte noch einmal tief Luft und starb; es war gerade, als ob er schliefe. Aber Johannes weinte, denn nun hatte er niemanden in der ganzen Welt, weder Vater noch Mutter, weder Schwester noch Bruder mehr. Der arme Johannes! Er lag vor dem Bette auf seinen Knien und küsste des toten Vaters Hand und weinte viel salzige Tränen; aber zuletzt schlossen sich seine Augen, und er schlief ein, den Kopf auf der harten Bettkante.
Da träumte er einen sonderbaren Traum, er sah, wie Sonne und Mond sich vor ihm neigten, und er sah seinen Vater frisch und gesund wieder und hörte ihn lachen, wie er immer gelacht hatte, wenn er recht froh war. Ein liebliches Mädchen, mit goldener Krone auf dem langen, schönen Haar, reichte Johannes die Hand, und sein Vater sagte, „siehst du, was für eine Braut du bekommen hast? Sie ist die Schönste in der ganzen Welt!“ Da erwachte er, und all das Schöne war verschwunden, sein Vater lag tot und kalt im Bette, und niemand war bei ihm; der arme Johannes!
Die Woche darauf wurde der Tote begraben; Johannes ging dicht hinter dem Sarge. Niemals sollte er den guten Vater wiedersehen, der ihn so liebgehabt hatte; er hörte, wie sie Erde auf den Sarg warfen, sah noch die letzte Ecke davon, aber mit der nächsten Schaufel Erde, die hinunter geworfen wurde, war auch sie verschwunden; da war es ihm, als sollte sein Herz zerbrechen, so traurig war er. Dann wurde noch ein Psalm gesungen. Der klang so schön, dass die Tränen in Johannes Augen kamen, er weinte, und das tat ihm wohl in seinem Schmerz. Die Sonne schien freundlich auf die grünen Bäume, gerade, als wollte sie sagen:
Wie schön blau der Himmel ist. Dort oben ist nun dein Vater und bittet den lieben Gott, dass es dir all Wohlergehen möge!
„Ich will immer gut sein!“ sagte Johannes, „dann komme ich auch zu meinem Vater in den Himmel, und was wird das für eine Freude sein, wenn wir einander wiedersehen! Wie viel werde ich ihm da zu erzählen haben, und was wird er mir alles zeigen. Und wie viel Herrliches wird er mich lehren im Himmel, gerade, wie er es auf Erden tat. Ach, wird das eine Freude sein!“
Johannes sah das so deutlich vor sich, dass er lächelte, während die Tränen ihm noch über die Backen liefen. Die kleinen Vögel saßen oben in den Kastanienbäumen und zwitscherten „quivit, quivit!“. Sie waren so fröhlich, obgleich sie ja bei einem Begräbnis waren, aber sie wussten wohl, dass der tote Mann oben im Himmel war und Flügel hatte, weit schöner und größer als die ihren, dass er nun glücklich war, weil er hier auf Erden gut gewesen war, und darüber waren sie fröhlich. Johannes sah, wie sie von dem grünen Baum fort in die Welt hinaus flogen und bekam Lust, mitzufliegen. Aber erst schnitzte er ein großes hölzernes Kreuz, um es auf seines Vaters Grab zu setzen, und als er es am Abend hinaustrug, war das Grab mit Sand und Blumen geschmückt. Das hatten fremde Menschen getan, denn sie hatten den lieben Vater, der nun tot war, auch gern gehabt.
Zeitig am nächsten Morgen packte Johannes sein kleines Bündel zusammen und verwahrte in seinem Gürtel sein ganzes Erbteil, das aus 50 Reichstalern und ein paar Silberschillingen bestand. Damit wollte er in die Welt hinaus wandern. Aber erst ging er auf den Kirchhof zu seines Vaters Grab, sprach ein Vaterunser und sagte: „Leb wohl, du lieber Vater! Ich will immer ein guter Mensch sein. Bitte beim lieben Gott für mich, dass es mir gut gehen möge!“
Draußen auf dem Felde, wo Johannes ging, standen alle Blumen frisch und schön in dem warmen Sonnenschein, und sie nickten im Winde, als wollten sie sagen: „Willkommen im Grünen! Ist es hier nicht schön?“
Aber Johannes wandte sich noch einmal zurück, um die alte Kirche zu sehen, wo er als kleines Kind getauft worden war, wo er jeden Sonntag mit seinem alten Vater gewesen war und fromme Lieder gesungen hatte. Da sah er hoch oben in einem der Turmlöcher den guten kleinen Kirchen-Kobold stehen mit seinem roten spitzen Hütchen; er schirmte sein Gesicht mit dem gebeugten Arm, da ihm sonst die Sonne in die Augen stach. Johannes nickte ihm Lebewohl zu, und der kleine Kobold schwang sein rotes Hütchen, legte die Hand aufs Herz und warf viele Kusshände, um zu zeigen, wie viel Gutes er ihm wünsche und dass er recht glücklich reisen möge.
Johannes dachte daran, wie viel Schönes er nun in der großen, prächtigen Welt zu sehen bekommen werde und ging weiter und weiter, so weit, wie er nie zuvor gekommen war; er kannte weder die Städte, durch die er kam, noch die Menschen, die er traf. Nun war er in der Fremde.
Die erste Nacht musste er sich auf einen Heuschober auf dem Felde schlafen legen, ein anderes Bett hatte er nicht. Aber das war gerade schön, meinte er, der König konnte es nicht besser haben. Das ganze Feld mit dem Bach, dem Heuschober und dem blauen Himmel darüber, das war doch eine schöne Schlafkammer. Das grüne Gras mit den kleinen roten und weißen Blumen war der Teppich, die Holunderbüsche und wilden Rosenhecken waren Blumensträuße, und als Waschschüssel hatte er den ganzen Bach mit seinem klaren, frischen Wasser, wo das Schilf sich neigte und ihm guten Morgen und guten Abend bot. Der Mond war eine große Nachtlampe hoch oben unter der blauen Decke, und der konnte auch wenigstens die Gardinen nicht in Brand stecken. Johannes konnte ganz beruhigt schlafen, und das tat er auch und erwachte erst wieder, als die Sonne aufging und all die kleinen Vögel rings umher ihr „Guten Morgen, guten Morgen! Bist du noch nicht auf?“ sangen.
Die Glocken läuteten zur Kirche; es war Sonntag; die Leute gingen, um die Predigt zu hören und Johannes folgte ihnen, sang die Lieder mit und hörte Gottes Wort, und es war ihm, als wäre er in seiner eigenen Kirche, wo er getauft war und mit seinem Vater gesungen hatte.
Draußen auf dem Kirchhofe waren so viele Gräber, und auf einigen wuchs hohes Gras. Da dachte Johannes an seines Vaters Grab, das auch einmal so aussehen würde wie diese, nun er es nicht besorgen und schmücken konnte. Deshalb setzte er sich nieder und riss das Gras ab, richtete die Holzkreuze auf, die umgefallen waren, und legte die Kränze, die der Wind von den Gräbern gerissen hatte, wieder an ihre Stelle, während er dachte, vielleicht tut jemand das gleiche an meines Vaters Grab, nun ich es nicht tun kann!
Draußen vor der Kirchhofstür stand ein alter Bettler und stützte sich auf seine Krücke. Johannes gab ihm die Silberschillinge, die er besaß und ging dann glücklich und froh weiter in die weite Welt hinaus.
Gegen Abend wurde es schrecklich schlechtes Wetter. Johannes beeilte sich, um unter Dach und Fach zu kommen, aber es wurde rasch finstere Nacht; da erreichte er endlich eine kleine Kirche, die ganz einsam auf einem Hügel lag, die Tür stand zum Glück nur an gelehnt, und er schlüpfte hinein; hier wollte er bleiben, bis sich das schlechte Wetter gelegt hatte.
„Hier will ich mich in eine Ecke setzen!“ sagte er, „ich bin so müde und könnte wohl ein wenig Ruhe gebrauchen,“ dann setzte er sich nieder, faltete seine Hände und betete sein Abendgebet, und ehe er es wusste, schlief und träumte er, während es draußen blitzte und donnerte.
Als er wieder erwachte, war es tiefe Nacht, aber das böse Wetter war vorübergezogen, und der Mond schien zu den Fenstern zu ihm herein. Mitten in der Kirche stand ein offener Sarg mit einem toten Mann darin, denn er war noch nicht begraben. Johannes fürchtete sich nicht, denn er hatte ein gutes Gewissen, und er wusste wohl, dass die Toten niemandem etwas zuleide tun; die lebenden bösen Leute sind es, die einem Böses zufügen. Zwei solcher lebenden Bösewichte standen dicht bei dem toten Mann, den man hier in die Kirche gesetzt hatte, bevor er beerdigt werden sollte; sie wollten ihm etwas Böses tun, ihn nicht in seinem Sarge liegen lassen, sondern ihn vor die Kirchentür werfen, den armen toten Mann.
„Warum wollt Ihr das tun?“ fragte Johannes, „das ist böse und schlecht, lasst ihn ruhen in Jesu Namen!“
„Ach, Schnickschnack!“ sagten die beiden hässlichen Menschen, „er hat uns an der Nase herumgeführt! Er schuldete uns Geld und konnte es nicht wiedergeben; nun ist er obendrein gestorben und wir bekommen keinen Schilling. Darum wollen wir uns nun rächen, er soll wie ein Hund draußen vor der Kirchentür liegen!“
„Ich habe nicht mehr als fünfzig Reichstaler!“
sagte Johannes, „das ist mein ganzes Erbteil, aber das will ich Euch gerne geben, wenn Ihr mir ehrlich versprechen wollt, den armen toten Mann in Frieden ruhen zu lassen. Ich werde schon ohne das Geld durchkommen; ich habe gesunde, starke Glieder, und der liebe Gott wird mir schon helfen.“
„Ja“, sagten die hässlichen Menschen, „wenn du wirklich seine Schuld bezahlen willst, werden wir ihm gewiss nichts tun, darauf kannst du dich verlassen!“ und so nahmen sie das Geld, das ihnen Johannes gab, lachten ganz laut über seine Gutmütigkeit und gingen ihrer Wege; aber Johannes legte die Leiche wieder im Sarge zurecht, faltete ihr die Hände, nahm Abschied und ging zufriedenen Gemütes durch den großen Wald.
Ringsumher, wo der Mond durch die Bäume scheinen konnte, sah er die niedlichen kleinen Elfen lustig spielen; sie ließen sich nicht stören, sie wussten wohl, dass er ein guter, unschuldiger Mensch war, denn nur die bösen Menschen dürfen die Elfen nicht sehen. Einige von ihnen waren nicht größer als ein Finger, und ihre langen blonden Haare hatten sie mit einem Goldkamm aufgesteckt; sie schaukelten zwei und zwei auf den großen Tautropfen, die auf den Blättern und dem hohen Grase lagen. Manchmal rollte ein Tautropfen hinab, dann fielen sie hinunter zwischen die langen Grashalme, und es gab Lachen und Lärmen unter dem kleinen Volke. Es war ein gar niedlicher Anblick! Sie sangen, und Johannes erkannte deutlich all die hübschen Weisen, die er als kleiner Knabe gelernt hatte. Große bunte Spinnen mit silbernen Kronen auf dem Kopfe mussten von der einen Hecke zu der anderen lange Hängebrücken und Paläste spinnen, die, als der feine Tau darauf fiel, wie scheinendes Glas im klaren Mondenschein schimmerten. So währte es fort, bis die Sonne aufging. Dann krochen die kleinen Elfen in die Blumenknospen, und der Wind führte ihre Brücken und Schlösser mit sich fort, dass sie in der Luft dahin segelten, wie große Spinneweben.
Johannes war gerade aus dem Walde herausgekommen, als eine starke Männerstimme hinter ihm rief: „Holla, Kamerad! wohin geht die Reise?“
„In die weite Welt hinaus!“ sagte Johannes. „Ich habe weder Vater noch Mutter, bin ein armer Bursche, aber der liebe Gott wird mir schon helfen!“
„Ich will auch in die weite Welt hinaus!“ sagte der fremde Mann. „Wollen wir zwei uns zusammentun?“
„Jawohl!“ sagte Johannes, und so gingen sie zusammen weiter. Bald wurden sie gute Freunde, denn sie waren beide gute Menschen. Aber Johannes merkte wohl, dass der Fremde viel klüger war als er; er hatte fast die ganze Welt gesehen und wusste von allem Möglichen zu erzählen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie sich unter einen großen Baum setzten, um ihr Frühstück zu verzehren. Da kam eine alte Frau des Weges. Oh, wie alt und krumm sie war. Sie stützte sich auf einen Krückstock und trug ein Bündel Brennholz auf dem Rücken, das sie sich im Walde zusammengelesen hatte. Ihre Schürze war aufgerafft, und Johannes sah, dass drei große Ruten von Farnkraut und Weidenzweigen daraus hervorsahen. Als sie nun ganz nahe herangekommen war, glitt ihr Fuß aus, sie fiel um und gab einen lauten Schrei von sich, denn sie hatte ihr Bein gebrochen, die arme, alte Frau.
Johannes sagte sogleich, dass sie sie nach Hause in ihre Wohnung tragen wollten, aber der Fremde öffnete sein Ränzel, holte ein Krüglein daraus hervor und sagte, dass er hier eine Salbe habe, die sogleich ihr Bein wieder heil und gesund machen könne, so dass sie allein heimgehen könne und zwar, als ob sie niemals ihr Bein gebrochen habe. Aber dafür wolle er auch, dass sie ihm die drei Ruten schenke, die sie in ihrer Schürze habe.
„Das ist gut bezahlt!“ sagte die Alte und nickte ganz wunderlich mit dem Kopfe; sie wollte nicht so gerne ihre Ruten hergeben. Aber es war auch kein Vergnügen, mit gebrochenem Bein dazuliegen. So gab sie ihm denn die Ruten, und kaum hatte er ihr das Bein mit der Salbe eingerieben, als sich die alte Mutter auch schon aufrichtete und viel besser lief als zuvor. Das hatte die Salbe getan. Aber die war auch in keiner Apotheke zu haben.
„Was willst du mit den Ruten?“ fragte Johannes nun seinen Reisekameraden.
„Das sind drei schöne Kräuterbesen!“ sagte er, „auf so etwas bin ich ganz versessen; denn ich bin ein komischer Kerl!“
So gingen sie noch ein gutes Stück weiter.
„Sieh“ was da heraufzieht!“ sagte Johannes, und zeigte geradeaus; „das sind ja schrecklich dicke Wolken!“.
„Nein,“ sagte der Reisekamerad, „das sind keine Wolken, das sind Berge. Die herrlichen großen Berge, wo man über die Wolken hinaus in die frische Luft kommt! Glaube mir, das ist prächtig! Morgen werden wir gewiss dort sein!“
„Aber es war nicht so nahe, wie es aussah; sie mussten noch einen ganzen Tag wandern, bevor sie zu den Bergen kamen, wo die schwarzen Wälder gegen den Himmel emporstrebten und wo es Felsen gab, groß wie eine ganze Stadt. Das würde einige Anstrengung kosten, da hinüber zu kommen, deshalb gingen auch Johannes und der Reisekamerad vorher in ein Wirtshaus, um sich gut auszuruhen und Kräfte zum morgigen Marsch zu sammeln.
Unten in der großen Schankstube im Wirtshaus waren viele Menschen versammelt, denn da war ein Mann, der ein Puppenspiel aufführte; er hatte gerade sein kleines Theater aufgebaut, und die Leute saßen rings umher, um die Komödie zu sehen. Aber in der vordersten Reihe hatte ein alter dicker Schlächter seinen Platz, und zwar den allerbesten. Sein großer Bullenbeißer – hu, wie grimmig glotzte der umher! – saß neben ihm und machte große Augen, gerade wie alle die anderen.
Nun begann das Stück, und es war ein hübsches Stück, mit einem König und einer Königin; die saßen auf einem prächtigen Thron, hatten goldene Kronen auf dem Haupte und lange Schleppen an den Kleidern, denn sie konnten sich das leisten. Die niedlichsten Holzpuppen mit Glasaugen und großen Knebelbärten standen an allen Türen und machten sie auf und zu, damit frische Luft in die Zimmer kommen konnte. Es war tatsächlich ein schönes Stück und gar nicht traurig, aber, gerade als die Königin sich erhob und über den Fußboden hinging, so – ja Gott mag wissen, was der große Bullenbeißer dachte, aber, da der Schlächter ihn nicht festhielt, setzte er mit einem Sprung ins Theater, packte die Königin mitten um ihren zarten Leib – „knick! knack!“ sagte es. Es war schrecklich!
Der arme Mann, dem die Puppen gehörten, war ganz erschreckt und betrübt über seine Königin, denn sie war die allerhübscheste Puppe, die er besaß, und nun hatte der hässliche Bullenbeißer ihr den Kopf abgebissen. Als nun die Leute alle gegangen waren, sagte der Fremde, der mit Johannes gekommen war, dass er die Puppe schon wieder instand setzen wolle; und so zog er sein Krüglein hervor und schmierte die Puppe mit der Salbe, mit der er der armen alten Frau geholfen hatte, als sie das Bein gebrochen hatte. Sobald die Puppe geschmiert war, war sie gleich wieder ganz, ja, sie konnte sogar allein alle ihre Glieder bewegen, man brauchte sie gar nicht mehr an Schnüren zu ziehen. Die Puppe war wie ein lebender Mensch, nur dass sie nicht sprechen konnte. Der Mann, dem das kleine Puppentheater gehörte, wurde ganz froh; nun brauchte er die Puppe gar nicht mehr zu halten, die konnte ja von selbst tanzen. Das konnte keine von den anderen.
Als es Nacht geworden war, und alle Leute im Wirtshause zu Bett gegangen waren, da fing es auf einmal an, tief zu seufzen, und es hörte gar nicht auf zu seufzen, bis alle aufstanden, um zu sehen, wer das sein könne. Der Puppenspieler ging zu seinem kleinen Theater, denn von dort kam das Seufzen. Alle Holzpuppen, der König und seine Trabanten, lagen durcheinander, und sie waren es, die so jämmerlich seufzten und mit ihren großen Glasaugen starrten, denn sie wollten so gerne ebenso wie die Königin ein bisschen geschmiert werden, damit sie sich auch von selbst bewegen konnten. Die Königin warf sich auf ihre Knie nieder, sie hielt ihre herrliche Goldkrone hoch, und bat: „Nimm mir diese, aber schmiere meinen Gemahl und meine Hofleute!“ Da konnte der arme Mann, dem das Theater und alle die Puppen gehörten, nicht anders, er musste weinen, denn es tat ihm so leid für sie; er versprach dem Reisekamerad sogleich, ihm alles Geld zu geben, das er am nächsten Abend für sein Spiel bekommen würde, wenn er nur vier, fünf von seinen schönsten Puppen schmieren wollte. Aber der Reisekamerad sagte, dass er nichts weiter verlange, als den großen Säbel, den der andere an seiner Seite trug, und als er ihn erhielt, schmierte er sechs Puppen, die sogleich tanzen konnten und zwar so niedlich, dass alle Mädchen, die lebendigen Menschenmädchen, die zusahen, mittanzen mussten. Der Kutscher und das Küchenmädchen tanzten, der Kellner und das Stubenmädchen, alle Gäste, und auch die Feuerschaufel und die Feuerzange, aber diese beiden fielen gleich um, als sie die ersten Sprünge machten – ja, das war eine lustige Nacht. Am nächsten Morgen gingen Johannes und sein Reisekamerad fort von ihnen allen zu den hohen Bergen hinauf und durch die großen Tannenwälder. Sie kamen so hoch hinauf, dass die Kirchtürme tief unter ihnen zuletzt wie kleine rote Beeren in all dem Grünen da unten aussahen, und sie konnten weit ins Land hinaussehen, viele, viele Meilen, wohin sie noch nie gekommen waren! – Soviel Schönes von der herrlichen Welt hatte Johannes nie vorher auf einmal erblickt, und die Sonne schien so warm durch die frische, blaue Luft, und er hörte zwischen den Bergen die Jäger das Waldhorn blasen, das klang so schön und wohltönend, dass ihm das Wasser vor Freude in die Augen stieg, und er musste sagen: „Du guter, lieber Gott! Ich möchte dich küssen, weil du so gut zu uns allen bist und uns all die Herrlichkeit, die in der Welt ist, gegeben hast!“
Der Reisekamerad stand auch mit gefalteten Händen und sah hinaus über die Wälder und Städte in den warmen Sonnenschein. Da erklang es auf einmal wunderbar süß über ihren Häuptern. Sie blickten empor: ein großer, weißer Schwan schwebte in der Luft; der war so schön und sang, wie sie niemals vorher einen Vogel hatten singen hören. Aber der Gesang wurde schwächer und schwächer; er beugte sein Haupt, der schöne Vogel, und sank ganz langsam zu ihren Füßen nieder, wo er tot liegen blieb.
„Zwei so prächtige Flügel,“ sagte der Reisekamerad, „so weiß und groß, wie sie der Vogel hier hat, sind Geld wert. Die will ich mitnehmen! Siehst du nun, wie gut es war, dass ich den Säbel bekam!“ und so hieb er mit einem Schlage die beiden Flügel des toten Schwanes ab und nahm sie mit.
Sie reisten nun viele, viele Meilen weiter über die Berge, bis sie zuletzt eine große Stadt vor sich sahen mit über hundert Türmen, die wie Silber im Sonnenschein glänzten. Mitten in der Stadt war ein prächtiges Marmorschloss, das war gedeckt mit reinem Golde, und hier wohnte der König.
Johannes und der Reisekamerad wollten nicht gleich in die Stadt hineingehen, sondern blieben in einem Wirtshause draußen vor dem Tore, um sich zurechtzumachen, denn sie wollten hübsch aussehen, wenn sie durch die Straßen kamen. Der Wirt erzählte ihnen, dass der König so ein guter Mann wäre, der keinem Menschen etwas zuleide tun könne, aber seine Tochter, ja, Gott bewahre uns, das wäre eine böse Prinzessin. An Schönheit besäße sie zwar genug, niemand könne so hübsch und liebreizend sein, wie sie, aber was hülfe das, sie wäre eine schlimme, böse Hexe, die Schuld daran trüge, dass so viele prächtige Prinzen ihr Leben verloren hatten. Allen Menschen hätte sie gestattet, sich um sie zu bewerben. Jeder könnte kommen, ob er ein Prinz oder Bettler wäre, wäre ihr ganz einerlei, er sollte nur drei Dinge erraten, die sie ihn fragte, könnte er das, so wolle sie sich mit ihm verheiraten, und er sollte König über das ganze Land sein, wenn ihr Vater stürbe. Könnte er aber die drei Dinge nicht erraten, so ließe sie ihn hängen oder ihm den Hals abschlagen, so schlimm und böse wäre die schöne Prinzessin. Ihr Vater, der alte König, wäre tief betrübt darüber, aber er könnte es ihr nicht verbieten so böse zu sein, denn er hätte einmal gesagt, er wolle nie auch nur das geringste mit ihren Freiern zu tun haben, sie könne selbst tun und lassen, was sie wolle.
Jedes Mal, wenn nun ein Prinz komme und raten solle, um die Prinzessin zu erringen, so könne er sich nicht aus der Schlinge ziehen, und dann würde er gehängt oder geköpft; er wäre ja beizeiten gewarnt worden und hätte das Freien lassen können. Der alte König wäre so betrübt über all das Leid und Elend, dass er in jedem Jahre einen ganzen Tag lang mit allen seinen Soldaten auf den Knien liege und bete, dass die Prinzessin gut werden möge, aber das wollte sie gar nicht. Die alten Weiber, die Branntwein tränken, färbten ihn ganz schwarz, bevor sie ihn tränken, so traurig wären sie, mehr könnten sie doch nicht tun.
„Die hässliche Prinzessin!“ sagte Johannes, „sie sollte wirklich die Rute fühlen, das könnte ihr nur gut tun. Wäre ich nur der alte König, sie sollte mir windelweich geklopft werden!“
In demselben Augenblick hörten sie draußen das Volk Hurra rufen. Die Prinzessin kam vorbei, und sie war wirklich so wunderschön, dass alle Leute vergaßen, wie schlecht sie war, darum riefen sie Hurra. Zwölf schöne Jungfrauen, alle in weißen seidenen Kleidern und mit einer goldenen Tulpe in der Hand, ritten auf kohlschwarzen Pferden ihr zur Seite; die Prinzessin selbst hatte ein schneeweißes Pferd, geschmückt mit Diamanten und Rubinen, ihr Reitkleid war aus purem Golde, und die Peitsche, die sie in der Hand trug, sah aus, als sei sie ein Sonnenstrahl. Die goldene Krone auf ihrem Haupte schimmerte gerade wie die kleinen Sterne oben am Himmel, und der Mantel war aus über tausend prächtigen Schmetterlingsflügeln zusammengenäht; aber sie selbst war noch schöner als alle ihre Kleider.
Als Johannes sie erblickte, ward sein Antlitz so rot, wie von Blut übergossen, und er konnte kaum ein einziges Wort sagen. Die Prinzessin sah ja ganz genau aus, wie das wunderschöne Mädchen mit der goldenen Krone, von der er in der Nacht, als sein Vater gestorben war, geträumt hatte. Er fand sie so liebreizend, dass er nicht anders konnte, er musste sie lieben. Das sei bestimmt nicht wahr, sagte er, dass sie eine böse Hexe sein könne, die die Leute hängen oder köpfen ließ, wenn sie nicht erraten konnten, was sie von ihnen verlangte.
„Es steht ja jedem frei, sich um sie zu bewerben, auch dem elendsten Bettler. Ich will auch auf das Schloss gehen, ich kann es nicht lassen!“
Alle sagten sie, er solle das nicht tun, es würde ihm bestimmt so ergehen, wie allen anderen. Auch der Reisekamerad riet ihm davon ab, aber Johannes meinte, es würde schon alles gut gehen, und er bürstete seine Schuhe und seine Kleider, wusch Gesicht und Hände, kämmte sein schönes blondes Haar und ging dann ganz allein in die Stadt hinein auf das Schloss.
„Herein!“ sagte der alte König, als Johannes an die Türe klopfte. Johannes öffnete, und der alte König, im Schlafrock und gestickten Pantoffeln, kam ihm entgegen. Die Goldkrone hatte er auf dem Kopf, das Zepter in der einen Hand und den Reichsapfel in der anderen. „Warte ein bisschen!“ sagte er, und nahm den Apfel unter den Arm, damit er Johannes die Hand reichen konnte. Aber kaum hörte er, dass Johannes ein Freier war, fing er so bitterlich an zu weinen, dass sowohl Zepter wie Reichsapfel auf die Erde fielen und er die Augen an seinem Schlafrock trocknen musste. Der arme, alte König!
„Lass es sein!“ sagte er, „es ergeht dir übel, wie allen den anderen auch. Du wirst es ja sehen!“ Dann führte er Johannes in den Lustgarten der Prinzessin hinaus. Dort sah es schrecklich aus! Oben in jedem Baume hingen drei, vier Königssöhne, die um die Prinzessin gefreit hatten, die Dinge, die ihnen die Prinzessin aufgegeben hatte, aber nicht hatten erraten können. Jedes Mal, wenn der Wind wehte, klapperten die Gebeine, so dass die kleinen Vögel erschraken und niemals mehr in den Garten zu kommen wagten; alle Blumen waren mit Menschenknochen aufgebunden, und in den Blumentöpfen standen Totenköpfe und grinsten. Das war ein seltsamer Garten für eine Prinzessin.
„Da kannst du selbst sehen!“ sagte der alte König, „es wird dir ergehen, wie allen den anderen, die du hier siehst, darum lass es lieber sein. Du machst mich wirklich unglücklich, denn so etwas geht mir sehr nahe!“
Johannes küsste dem guten, alten König die Hand und sagte, es werde schon alles glücken, denn er liebe die schöne Prinzessin so sehr.
Da kam die Prinzessin selbst mit allen ihren Damen in den Schlosshof geritten; sie gingen zu ihr hinaus und sagten guten Tag. Sie war so lieblich und reichte Johannes die Hand, und er konnte sie noch besser leiden, als zuvor. Sie konnte doch unmöglich eine so grausame und böse Hexe sein, wie die Leute ihr nachsagten! Dann gingen sie in den Saal hinauf, und die kleinen Edelknaben präsentierten Eingezuckertes und Pfeffernüsse, aber der alte König war so betrübt, dass er gar nichts essen konnte; die Pfeffernüsse waren ihm auch zu hart.
Es wurde nun bestimmt, dass Johannes am nächsten Morgen wieder auf das Schloss kommen sollte, dann sollten die Richter und der ganze Rat versammelt sein und hören, wie er mit dem Raten fertig würde. Käme er gut davon, so sollte er noch zweimal wiederkommen, aber bisher habe es noch niemand gegeben, der die erste Frage richtig geraten hätte, und so mussten sie ihr Leben lassen.
Johannes war gar nicht besorgt darum, wie es ihm ergehen würde; er war ganz vergnügt, dachte nur an die schöne Prinzessin und glaubte ganz fest, dass der liebe Gott ihm schon beistehen werde, aber wie, das wusste er freilich nicht und wollte auch lieber gar nicht daran denken. Er tanzte fast die Landstraße entlang, als er zum Wirtshause zurückging, wo der Reisekamerad auf ihn wartete.
Johannes konnte nicht aufhören zu erzählen, wie lieb und nett die Prinzessin zu ihm gewesen wäre, und wie wunderschön sie sei; er sehnte bereits heftig den nächsten Tag herbei, wo er auf das Schloss sollte, um es mit dem Raten zu versuchen.
Aber der Reisekamerad schüttelte mit dem Kopfe und war ganz betrübt. „Ich habe dich so lieb!“ sagte er, „wir hätten noch lange zusammenbleiben können, und nun soll ich dich schon verlieren! Du armer, lieber Johannes, ich könnte weinen, aber ich will am letzten Abend, den wir vielleicht zusammen sind, deine Freude nicht stören. Wir wollen lustig sein, recht lustig, morgen, wenn du fort bist, werde ich noch genug weinen können!“
Alle Leute in der Stadt hatten sofort erfahren, dass ein neuer Freier für die Prinzessin sich eingefunden habe, und es herrschte darob große Betrübnis. Das Theater wurde geschlossen, alle Kuchenfrauen banden schwarzen Flor um ihre Zuckerferkel, und der König und die Priester lagen in der Kirche auf den Knien. Alle Welt trauerte, denn es konnte Johannes ja nicht besser gehen, als es allen anderen Freiem ergangen war.
Gegen Abend bereitete der Reisekamerad eine große Flasche Punsch und sagte zu Johannes: „Nun wollen wir recht lustig sein und auf das Wohl der Prinzessin trinken.“ Als aber Johannes zwei Glas getrunken hatte, wurde er so schläfrig, dass es ihm nicht mehr möglich war, die Augen offen zu halten, er fiel in tiefen Schlaf. Der Reisekamerad hob ihn ganz sachte vom Stuhle auf und legte ihn ins Bett, und als es dann finstere Nacht geworden war, nahm er die beiden großen Schwingen, die er dem Schwan abgehauen hatte, band sie fest an seine Schultern; die größte Rute, die er von der alten Frau bekommen hatte, die gefallen war und das Bein gebrochen hatte, steckte er in seine Tasche, schloss das Fenster auf und flog über die Stadt gerade in das Schloss, wo er sich in eine Ecke dicht unter das Fenster setzte, wo die Prinzessin ihre Schlafkammer hatte.
Es war ganz totenstill in der ganzen Stadt; nun schlug die Uhr dreiviertelzwölf. Das Fenster ging auf, und die Prinzessin flog in einem großen, weißen Mantel und mit langen, schwarzen Flügeln über die Stadt hin, hinaus zu einem großen Berge. Aber der Reisekamerad machte sich unsichtbar, so dass sie ihn nicht sehen konnte, flog hinter ihr her und peitschte die Prinzessin mit seiner Rute, so dass tüchtig Blut floss, wo er hinschlug. Hu! war das eine Fahrt durch die Luft! Der Wind fing sich in ihrem Mantel, so dass er sich nach allen Seiten ausbreitete wie ein großes Schiffssegel, und der Mond schien durch den Mantel hindurch.
„Wie es hagelt! Wie es hagelt!“ sagte die Prinzessin bei jedem Rutenschlag, und das geschah ihr recht. Endlich langte sie draußen bei dem Berge an und pochte. Es tönte wie Donnerrollen, als der Berg sich öffnete. Die Prinzessin ging hinein und der Reisekamerad ging ihr nach, denn niemand konnte ihn sehen, er war unsichtbar. Es ging durch einen großen, langen Gang, in dem die Wände ganz absonderlich schimmerten. Es waren über tausend glühende Spinnen, die die Mauer auf und nieder liefen und wie Feuer leuchteten. Nun kamen sie in einen großen Saal, aus Gold und Silber erbaut. Blumen, groß wie Sonnenblumen, rot und blau, schimmerten von den Wänden. Aber niemand konnte die Blumen pflücken, denn die Stiele waren hässliche, giftige Schlangen, und die Blumen waren Feuer, das ihnen aus dem Rachen flammte. Die ganze Decke war mit leuchtenden Johanniswürmchen und himmelblauen Fledermäusen bedeckt, die mit ihren dünnen Flügeln schlugen; es sah ganz wundersam aus. Mitten auf dem Fußboden stand ein Thron, der von vier Pferdegerippen getragen wurde, die Zaumzeug aus roten Feuerspinnen hatten. Der Thron selbst war aus milchweißem Glas, und die Sitzkissen waren kleine, schwarze Mäuse, die einander in den Schwanz bissen. Oben darüber war ein Dach aus rosenroten Spinnenweben, besetzt mit den niedlichsten kleinen, grünen Fliegen, die wie Edelsteine schimmerten. Mitten auf dem Thron saß ein alter Zauberer, mit einer Krone auf dem hässlichen Kopf und einem Zepter in der Hand. Er küsste die Prinzessin auf die Stirn, ließ sie an seiner Seite auf dem kostbaren Thron sitzen, und nun begann die Musik. Große schwarze Heuschrecken spielten Mundharmonika, und die Eule schlug sich auf den Bauch, denn sie hatte keine Trommel. Es war ein komisches Konzert. Kleine, schwarze Kobolde mit einem Irrlicht auf der Kappe, tanzten im Saal herum. Niemand konnte den Reisekameraden sehen. Er hatte sich gerade hinter den Thron gestellt und sah und hörte alles, was vorging. Die Hofleute, die nun auch hereinkamen, waren sehr schön und vornehm, aber wer genau hinsah, merkte wohl, wie es mit ihnen bestellt war. Sie waren nichts anderes, als Besenstiele mit Kohlköpfen darauf, in die der Zauberer Leben gehext, und denen er gestickte Kleider gegeben hatte. Aber das war ja auch gleich, sie wurden nur zum Staat gebraucht.
Nachdem nun etwas getanzt worden war, erzählte die Prinzessin dem Zauberer, dass sich ein neuer Freier eingefunden habe und fragte deshalb, woran sie wohl denken sollte, um ihn am anderen Morgen danach zu fragen, wenn er ins Schloss käme.
„Höre“, sagte der Zauberer, „nun will ich dir etwas sagen! Du musst etwas recht leichtes nehmen, denn darauf kommt er sicher nicht. Denk an deinen einen Schuh. Das rät er nicht. Lass ihm dann den Kopf abschlagen; aber vergiss nicht, wenn du morgen wieder zu mir heraus kommst, mir seine Augen mitzubringen, denn die will ich essen!“
Die Prinzessin verneigte sich ganz tief und sagte, sie wolle die Augen nicht vergessen. Der Zauberer schloss nun den Berg auf, und sie flog wieder nach Hause, aber der Reisekamerad folgte ihr nach und prügelte sie so heftig mit der Rute, dass sie tief über das starke Hagelwetter seufzte und sich beeilte, was sie nur konnte, um wieder durch das Fenster in ihre Schlafkammer zu kommen. Der Reisekamerad flog wieder zurück zu dem Wirtshause, wo Johannes noch schlief, löste seine Flügel ab und legte sich dann auch auf das Bett, denn er durfte wohl müde sein.
Es war ganz zeitig am Morgen, als Johannes erwachte. Der Reisekamerad stand ebenfalls auf und erzählte, dass er heute Nacht einen ganz wunderlichen Traum geträumt habe von der Prinzessin und ihrem Schuh und er bat ihn daher, doch ja zu fragen, ob die Prinzessin nicht an ihren einen Schuh gedacht habe! Denn das war es ja, was er von dem Zauberer in dem Berge gehört hatte, aber er wollte Johannes nichts davon erzählen. So bat er Johannes nur, zu fragen, ob sie an ihren einen Schuh gedacht habe.
„Ich kann gerade so gut das wie etwas anderes fragen“, sagte Johannes. „Es kann doch vielleicht ganz richtig sein, was du geträumt hast, denn ich vertraue allezeit auf den lieben Gott, der wird mir schon helfen! Aber ich will dir doch Lebewohl sagen, denn rate ich falsch, so bekomme ich dich nie mehr zu sehen!“
Dann küssten sie einander, und Johannes ging in die Stadt hinein auf das Schloss. Der ganze Saal war voll von Menschen; die Richter saßen in ihren Lehnstühlen und hatten Eiderdaunenkissen unter dem Kopfe, denn sie hatten soviel zu denken. Der alte König stand auf und trocknete seine Augen mit einem weißen Taschentuch. Nun trat die Prinzessin ein. Sie war noch viel schöner als gestern und grüßte alle gar lieblich, aber Johannes gab sie die Hand und sagte: „Guten Morgen, du!“
Nun sollte Johannes erraten, an was sie gedacht hatte. Gott, wie sah sie ihn so freundlich an! Aber kaum hörte sie ihn das eine Wort: „Schuh“ aussprechen, da ward sie kreideweiß im Gesicht und zitterte am ganzen Körper, aber das konnte ihr nichts helfen, denn er hatte richtig geraten!
Heil wie wurde der alte König da froh! Er schlug Purzelbäume, dass es ein Vergnügen war, und alle Leute klatschten in die Hände für ihn und Johannes, der nun das erste Mal richtig geraten hatte.
Der Reisekamerad war auch sehr froh, als er erfuhr, wie gut es abgelaufen war; aber Johann faltete seine Hände und dankte dem lieben Gott, der ihm sicherlich auch die beiden anderen Male helfen würde. Am nächsten Tage schon sollte wieder geraten werden.
Der Abend verging ebenso wie der gestrige. Als Johannes schlief, flog der Reisekamerad hinter der Prinzessin her zum Berge hinaus und prügelte sie noch stärker, als das vorige Mal, denn nun hatte er zwei Ruten genommen. Niemand bekam ihn zu sehen, und er hörte alles. Die Prinzessin wollte an ihren Handschuh denken, und er erzählte das Johannes, als ob es ein Traum gewesen sei. Nun konnte Johannes wohl richtig raten, und im Schlosse herrschte eitel Freude. Der ganze Hof schlug Purzelbäume, wie man es vom Könige das erste Mal gesehen hatte; aber die Prinzessin lag auf dem Sofa und mochte nicht ein einziges Wort sagen. – Nun kam es darauf an, ob Johannes auch das dritte Mal richtig raten konnte. Ging es gut ab, so sollte er ja die schöne Prinzessin haben und das ganze Königreich erben, wenn der alte König starb. Riet er verkehrt, so sollte er sein Leben lassen und der Zauberer würde seine schönen blauen Augen essen.
Am Abend vorher ging Johannes zeitig zu Bett, sprach sein Abendgebet und schlief dann ganz ruhig; aber der Reisekamerad band seine Flügel an den Rücken, schnallte den Säbel an die Seite, nahm alle drei Ruten mit und flog dann zum Schlosse.
Es war stockfinstere Nacht, und es stürmte, dass die Dachziegel von den Häusern flogen, und die Bäume im Garten wo die Gerippe hingen, schwankten wie Schilf im Winde. Es blitzte jeden Augenblick, und der Donner grollte, als ob es nur ein einziger Schlag sei, die ganze Nacht hindurch. Nun schlug das Fenster auf, und die Prinzessin flog heraus. Sie war so bleich wie der Tod, aber sie lachte des bösen Wetters, ihr schien es noch nicht wild genug; ihr weißer Mantel wirbelte durch die Luft wie ein großes Schiffssegel, aber der Reisekamerad peitschte sie mit seinen drei Ruten, dass das Blut auf die Erde nieder tröpfelte, und sie zuletzt kaum mehr weiter fliegen konnte. Endlich langte sie doch beim Berge an.
„Es hagelt und stürmt“, sagte sie, „noch nie bin ich bei solchem Wetter aus gewesen.“
„Man kann auch des Guten zuviel bekommen!“ sagte der Zauberer. Nun erzählte sie ihm, dass Johannes auch das zweite Mal richtig geraten habe; täte er morgen dasselbe, so habe er gewonnen und sie könne niemals wieder zu dem Berge heraus kommen, und auch nie wieder ihre Zauberkünste üben, wie bisher; darüber sei sie ganz betrübt.
„Er soll es nicht raten können!“ sagte der Zauberer, „ich werde schon etwas herausfinden, worauf er nie verfallen wird! Oder aber er müsste ein größerer Zauberer sein als ich. Und nun wollen wir lustig sein“. Damit nahm er die Prinzessin bei beiden Händen und sie tanzten zwischen allen den kleinen Kobolden und Irrlichtern, die im Saale waren, herum; die roten Spinnen sprangen an den Wänden ebenso lustig auf und nieder, es sah aus, als ob Feuerblumen sprühten. Die Eulen schlugen die Trommel, die Heimchen zirpten, und die schwarzen Heuschrecken bliesen die Harmonika. Es war ein lustiger Ball. –
Als sie nun genug getanzt hatten, musste die Prinzessin nach Hause denn sonst konnte sie im Schlosse vermisst werden. Der Zauberer sagte, dass er sie auf dem Wege begleiten wolle, dann könnten sie wenigstens noch so lange zusammen sein.
Dann flogen sie in dem bösen Wetter davon, und der Reisekamerad zerschlug seine drei Ruten, auf ihrem Rücken. Nie war der Zauberer in solch einem Hagelwetter ausgewesen. Vor dem Schlosse draußen sagte er der Prinzessin Lebewohl und flüsterte ihr dabei zu: „Denk an meinen Kopf!“ Aber der Reisekamerad hörte es doch, und in demselben Augenblick, als die Prinzessin durch das Fenster in ihre Schlafkammer schlüpfte und der Zauberer wieder umkehren wollte, griff er ihn an seinem langen, schwarzen Barte und hieb ihm mit dem Säbel seinen garstigen Zaubererkopf bis zu den Schultern herunter ab, so dass der Zauberer ihn nicht einmal selbst zu sehen bekam. Den Körper warf er hinaus in die See zu den Fischen, aber den Kopf tauchte er nur in das Wasser und band ihn dann in sein seidenes Taschentuch, nahm ihn mit sich heim ins Wirtshaus und legte sich schlafen.
Am nächsten Morgen gab er Johannes das Taschentuch, sagte aber, dass er es nicht eher aufknüpfen dürfe, bevor die Prinzessin fragte, woran sie gedacht habe.
Es waren so viele Menschen in dem großen Saale auf dem Schloss, dass sie so dicht standen wie Radieschen, die zum Bündel gebunden sind. Der Rat saß in seinen Stühlen mit den weichen Kopfkissen, und der alte König hatte neue Kleider an, die goldene Krone und das Zepter waren poliert, alles war feiertäglich; aber die Prinzessin war sehr bleich und hatte ein kohlschwarzes Kleid an, als ob sie zum Begräbnis gehen sollte.
„An was habe ich gedacht? sagte sie zu Johannes, und sogleich band er das Taschentuch auf, war aber selbst erschrocken, als er das scheußliche Zaubererhaupt erblickte. Ein kalter Schauder überlief alle die Menschen im Saal, denn es war entsetzlich anzusehen. Aber die Prinzessin saß gerade wie ein Steinbild und konnte kein einziges Wort hervorbringen. Zuletzt erhob sie sich und reichte Johannes die Hand, denn er hatte ja richtig geraten. Sie wandte den Blick ab und seufzte ganz laut: „Nun bist du mein Herr! Heute Abend wollen wir Hochzeit halten!“
„So gefällt es mir!“ sagte der alte König, „und so wollen wir es halten!“ Alle Leute riefen Hurra, die Wachtparade machte Musik in den Straßen, die Glocken läuteten, und die Kuchenfrauen nahmen den schwarzen Flor von ihren Zuckerferkeln, denn nun herrschte Freude! Drei ganze gebratene Ochsen, mit Enten und Hühnern gefüllt, wurden mitten auf den Markt gesetzt, und ein jeder konnte sich ein Stück abschneiden. In den Springbrunnen sprudelte der herrlichste Wein, und kaufte man einen Schillingskringel beim Bäcker, so bekam man sechs große Pfannkuchen als Zugabe und noch dazu mit Rosinen darin.
Am Abend war die ganze Stadt illuminiert, die Soldaten schossen mit Kanonen und die Knaben mit Knallerbsen, und auf dem Schlosse wurde gegessen und getrunken, angestoßen und gesprungen, all die vornehmen Herren und schönen Fräulein tanzten miteinander, und man konnte weit hinaus hören, wie sie sangen:

„Hier sind viele hübsche Mädchen,
Die ein Tänzchen haben wolle.
Küss mich! Dreh dich wie ein Rädchen,
Schmuckes Mädchen! Nur nicht schmollen!
Dreh dich um mich, wie die Sonn um die Welt
und bis von den Schühlein die Sohle fällt!“

Aber die Prinzessin war ja noch eine Hexe und hatte Johannes gar nicht lieb. Das überlegte der Reisekamerad, und darum gab er Johannes drei Federn aus den Schwanenflügeln und eine kleine Flasche mit einigen Tropfen darin, und sagte zu Ihm, er solle vor das Brautbett ein großes Fass, mit Wasser gefüllt, setzen lassen, und wenn dann die Prinzessin in das Bett steigen wolle, so solle er ihr einen kleinen Stoß geben, dass sie in das Wasser hinunterfalle, wo er sie dreimal untertauchen solle, nachdem er zuvor die Federn und die Tropfen hineingetan hätte, dann würde sie von dem Zauber befreit werden und ihn recht lieb haben.

Johannes tat alles, was der Reisekamerad ihm geraten hatte; die Prinzessin schrie ganz laut, als er sie unter das Wasser tauchte und zappelte ihm unter den Händen als ein großer, kohlschwarzer Schwan mit funkelnden Augen. Als sie das zweite Mal aus dem Wasser hervorkam, war der Schwan weiß bis auf einen einzigen schwarzen Ring um den Hals. Johannes betete fromm zu Gott und ließ das Wasser zum dritten Male über dem Vogel zusammenschlagen, und im selben Augenblick verwandelte er sich in die schönste Prinzessin. Sie war noch liebreizender als zuvor und dankte ihm mit Tränen in den schönen Augen, dass er den Zauber von ihr genommen habe.
Am nächsten Morgen kam der alte König mit seinem ganzen Hofstaat, und da gab es ein Gratulieren bis lang in den Tag hinein. Zu allererst kam der Reisekamerad, er hatte den Stock in der Hand und das Ränzel auf dem Rücken. Johannes küsste ihn immer wieder und sagte, er dürfe nicht fortreisen, er solle doch bleiben, denn er wäre ja die Ursache seines ganzen Glückes. Aber der Reisekamerad schüttelte den Kopf und sagte mild und freundlich: „Nein, nun ist meine Zeit um. Ich habe nur meine Schuld bezahlt. Kannst du dich noch an den toten Mann erinnern, dem schlechte Menschen Böses zufügen wollten? Du gabst alles, was dein war, dahin, damit er Ruhe in seinem Grabe haben konnte. Der Tote bin ich!“
Im demselben Augenblicke war er verschwunden.
Die Hochzeit währte einen ganzen Monat lang. Johannes und die Prinzessin liebten einander innig, und der alte König erlebte noch viele frohe Tage und ließ ihre kleinen Kinder auf seinen Knien reiten und mit seinem Zepter spielen. Johannes aber wurde König über das ganze Reich.

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1835 zum ersten mal in dem Buch namens „Märchen, erzählt für Kinder. Erste Sammlung. Zweite Hefte“ von Andersen veröffentlicht.

Der fliegende Koffer

Original-Übersetzung

 

Es war einmal ein Kaufmann, der war so reich, dass er die ganze Straße und fast noch eine kleine Gasse mit Silbergeld pflastern konnte; aber das tat er nicht, er wusste sein Geld anders anzuwenden, und gab er einen Groschen aus, so bekam er einen Taler wieder, ein so kluger Kaufmann war er – bis er starb.
Der Sohn bekam nun all dieses Geld, und er lebte lustig, ging jeden Tag einem anderen Vergnügen nach, machte Papierdrachen von Talerscheinen und warf in das Wasser mit Goldstücken anstatt mit einem Steine. So konnte das Geld wohl zu Ende gehen. Zuletzt besaß er nicht mehr als vier Groschen und hatte keine anderen Kleider als ein Paar Schuhe und einen alten Schlafrock. Nun kümmerten sich seine Freunde nicht mehr um ihn, da sie ja nicht zusammen auf die Straße gehen konnten; aber einer von ihnen, der gutmütig war, sandte ihm einen alten Koffer mit der Bemerkung: „Packe ein!“ Ja, das war nun ganz gut, aber er hatte nichts einzupacken, darum setzte er sich selbst in den Koffer.
Das war ein merkwürdiger Koffer. Sobald man an das Schloss drückte, konnte der Koffer fliegen. Das tat nun der Mann, und sogleich flog er mit dem Koffer durch den Schornstein hoch über die Wolken hinauf, weiter und weiter fort; sooft aber der Boden ein wenig krachte, war er sehr in Angst, dass der Koffer in Stücke gehe, denn alsdann hätte er einen ganz tüchtigen Luftsprung gemacht. So kam er nach dem Lande der Türken. Den Koffer verbarg er im Walde unter verdorrten Blättern und ging dann in die Stadt hinein; das konnte er auch recht gut, denn bei den Türken gingen ja alle so wie er in Schlafrock und Pantoffeln. Da begegnete er einer Amme mit einem kleinen Kinde. „Höre du, Türkenamme“, fragte er, „was ist das für ein großes Schloss hier dicht bei der Stadt, wo die Fenster so hoch sitzen?“
„Da wohnt die Tochter des Königs!“ erwiderte die Frau. „Es ist prophezeit, dass sie über einen Geliebten sehr unglücklich werden würde, und deshalb darf niemand zu ihr kommen, wenn nicht der König und die Königin mit dabei sind!“
„Ich danke!“ sagte der Kaufmannssohn, ging hinaus in den Wald, setzte sich in seinen Koffer, flog auf das Dach des Schlosses und kroch durch das Fenster zur Prinzessin.
Sie lag auf dem Sofa und schlief; sie war so schön, dass der Kaufmannssohn sie küssen musste; sie erwachte und erschrak gewaltig, aber er sagte, er sei der Türkengott, der durch die Luft zu ihr heruntergekommen sei, und das gefiel ihr.
So saßen sie beieinander, und er erzählte ihr Geschichten von ihren Augen; das waren die herrlichsten, dunklen Seen, und da schwammen die Gedanken gleich Meerweibchen; und er erzählte von ihrer Stirn, die war ein Schneeberg mit den prächtigsten Sälen und Bildern; und er erzählte vom Storch, der die lieblichen, kleinen Kinder bringt.
Ja, das waren schöne Geschichten! Dann freite er um die Prinzessin, und sie sagte sogleich ja!
„Aber Sie müssen am Sonnabend herkommen“, sagte sie, „da sind der König und die Königin bei mir zum Tee! Sie werden sehr stolz darauf sein, dass ich den Türkengott bekomme, aber sehen Sie zu, dass Sie ein recht hübsches Märchen wissen, denn das lieben meine Eltern ganz außerordentlich; meine Mutter will es erbaulich und vornehm und mein Vater belustigend haben, so dass man lachen kann!“
„Ja, ich bringe keine andere Brautgabe als ein Märchen!“ sagte er, und so schieden sie, aber die Prinzessin gab ihm einen Säbel, der war mit Goldstocken besetzt, und die konnte er gerade gebrauchen.
Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock und saß dann draußen im Walde und dichtete ein Märchen; das sollte bis zu Sonnabend fertig sein, und das ist nicht leicht.
Es wurde fertig, und da war es Sonnabend.
Der König, die Königin und der ganze Hof warteten mit dem Tee bei der Prinzessin. Der Kaufmannssohn wurde freundlich empfangen.
„Wollen Sie uns nun ein Märchen erzählen“, sagte die Königin, „eins, das tiefsinnig und belehrend ist?“
„Aber worüber man, auch wenn es viel Weisheit enthält, doch noch lachen kann!“ sagte der König.
„Jawohl!“ erwiderte er und erzählte; da muss man nun gut aufpassen.
„Es war einmal ein Bund Streichhölzer, die waren außerordentlich stolz auf ihre hohe Herkunft; ihr Stammbaum, das heißt, die große Fichte, wovon sie jedes ein kleines Hölzchen waren, war ein großer, alter Baum im Walde gewesen. Die Streichhölzer lagen nun in der Mitte zwischen einem alten Feuerzeuge und einem alten, eisernen Topfe, und diesem erzählten sie von ihrer Jugend. ‚Ja, als wir noch im Baum waren‘, sagten sie, ‚da waren wir wirklich auf einem grünen Zweig! Jeden Morgen und Abend gab es Diamanttee, das war der Tau. Den ganzen Tag hatten wir Sonnenschein, wenn die Sonne da war, und alle die kleinen Vögel mussten uns Geschichten erzählen. Wir konnten wohl merken, dass wir auch reich waren, denn die Laubbäume waren nur im Sommer bekleidet, aber unsere Familie hatte Mittel zu grünen Kleidern sowohl im Sommer als im Winter. Doch da kam der Holzhauer, und unsere Familie wurde zersplittert; der Stammherr erhielt Platz als Hauptmast auf einem prächtigen Schiffe, das die Welt umsegeln konnte, wenn es wollte, die anderen Zweige kamen nach anderen Orten, und wir haben nun das Amt, der Menge das Licht anzuzünden; deshalb sind wir vornehmen Leute hier in die Küche gekommen.‘
‚Mein Schicksal gestaltete sich auf eine andere Weise!‘ sagte der Eisentopf, an dessen Seite die Streichhölzer lagen. ‚Vom Anfang an, seit ich in die Welt kam, bin ich vielmal gescheuert und gewärmt worden; ich sorge für das Dauerhafte und bin der Erste hier im Hause. Meine einzige Freude ist, nach Tische rein und sauber auf meinem Platze zu liegen und ein vernünftiges Gespräch mit den Kameraden zu führen. Wenn ich den Wassereimer ausnehme, der hin und wieder einmal zum Hof hinunterkommt, so leben wir immer innerhalb der Türen. Unser einziger Neuigkeitsbote ist der Marktkorb, aber der spricht zu unruhig über die Regierung und das Volk. Ja, neulich war da ein alter Topf, der vor Schreck darüber niederfiel und sich in Stücke schlug; der war gut gesinnt, sage ich euch!‘ – ‚Nun sprichst du zuviel!‘ fiel das Feuerzeug ein, und der Stahl schlug gegen den Feuerstein, dass es sprühte. ‚Wollen wir uns nicht einen lustigen Abend machen?‘
‚Ja, lasst uns davon sprechen, wer der vornehmste ist!‘ sagten die Streichhölzer.
‚Nein, ich liebe es nicht, von mir selbst zu reden‘, wendete der Tontopf bescheiden ein. ‚Lasst uns eine Abendunterhaltung veranstalten. Ich werde anfangen, ich werde etwas erzählen, was ein jeder erlebt hat; da kann man sich leicht darein finden, und es ist sehr erfreulich! An der Ostsee bei den Buchen -‚
‚Das ist ein hübscher Anfang!‘ sagten die Teller. ‚Das wird sicher eine Geschichte, die uns gefällt!‘
‚Ja, da verlebte ich meine Jugend bei einer stillen Familie; die Möbel wurden geputzt, die Fußböden gescheuert, und alle vierzehn Tage wurden neue Vorhänge aufgehängt!‘
‚Wie gut Sie erzählen!‘, sagte der Haarbesen. ‚Man kann gleich hören, dass ein Frauenzimmer erzählt; es geht etwas Reines hindurch!‘
‚Ja, das fühlt man!‘ sagte der Wassereimer und machte vor Freude einen kleinen Sprung, so dass es auf dem Fußboden klatschte.
Der Topf fuhr zu erzählen fort, und das Ende war ebenso gut wie der Anfang.
Alle Teller klapperten vor Freude, und der Haarbesen zog grüne Petersilie aus dem Sandloche und bekränzte den Topf, denn er wusste, dass es die andern ärgern werde. ‚Bekränze ich ihn heute‘, dachte er, ’so bekränzt er mich morgen.‘
‚Nun will ich tanzen!‘ sagte die Feuerzange und tanzte. Ja, Gott bewahre uns, wie konnte sie das eine Bein in die Höhe strecken! Der alte Stuhlbezug dort im Winkel platzte, als er es sah. ‚Werde ich nun auch bekränzt?‘ fragte die Feuerzange, und das wurde sie.
‚Das ist das gemeine Volk!‘ dachten die Streichhölzer.
Nun sollte die Teemaschine singen, aber sie sagte, sie sei erkältet, sie könne nicht, wenn sie nicht koche; doch das war bloß Vornehmtuerei; sie wollte nicht singen, wenn sie nicht drinnen bei der Herrschaft auf dem Tische stand.
Im Fenster saß eine alte Feder, womit das Mädchen zu schreiben pflegte; es war nichts Bemerkenswertes an ihr, außer dass sie gar zu tief in die Tinte getaucht worden, aber darauf war sie nun stolz. ‚Will die Teemaschine nicht singen‘, sagte sie, ’so kann sie es unterlassen; draußen hängt eine Nachtigall im Käfig, die kann singen; die hat zwar nichts gelernt, aber das wollen wir diesen Abend dahingestellt sein lassen!‘
‚Ich finde es höchst unpassend‘, sagte der Teekessel – er war Küchensänger und Halbbruder der Teemaschine -, ‚dass ein fremder Vogel gehört werden soll! Ist das Vaterlandsliebe? Der Marktkorb mag darüber richten!‘
‚Ich ärgere mich nur‘, sagte der Marktkorb, ‚ich ärgere mich so, wie es sich kein Mensch denken kann! Ist das eine passende Art, den Abend hinzubringen? Würde es nicht vernünftiger sein, Ordnung herzustellen? Ein jeder müsste auf seinen Platz kommen, und ich würde das ganze Spiel leiten. Das sollte etwas anderes werden!‘
‚Lasst uns Lärm machen!‘ sagten alle. Da ging die Tür auf. Es war das Dienstmädchen, und da standen sie still. Keiner bewegte sich; aber da war nicht ein Topf, der nicht gewusst hätte, was er zu tun vermöge und wie vornehm er sei. ‚Ja, wenn ich gewollt hätte‘, dachte jeder, ’so hätte es ein recht lustiger Abend werden sollen!‘
Das Dienstmädchen nahm die Streichhölzer und zündete sich Feuer damit an. Wie sie sprühten und in Flammen gerieten!
‚Nun kann doch ein jeder sehen‘, dachten sie, ‚dass wir die Ersten sind. Welchen Glanz wir haben, welches Licht!‘ Damit waren sie ausgebrannt.
„Das war ein herrliches Märchen!“ sagte die Königin. „Ich fühle mich ganz in die Küche versetzt zu den Streichhölzern, ja, nun sollst du unsere Tochter haben.“
„Jawohl!“ sagte der König, „du sollst unsere Tochter am Montag haben!“
Denn nun sagten sie du zu ihm, da er ja nun fortan sowieso zur Familie gehören sollte.
Die Hochzeit war nun bestimmt, und am Abend vorher wurde die ganze Stadt beleuchtet, Zwieback und Brezeln wurden ausgeteilt, die Straßenbuben riefen hurra und pfiffen auf den Fingern, es war außerordentlich prachtvoll.
‚Ja, ich muss wohl auch etwas tun!‘ dachte der Kaufmannssohn und kaufte Raketen, Knallerbsen und alles Feuerwerk, was man erdenken konnte, legte es in seinen Koffer und flog damit in die Luft.
Das war kein kleiner Lärm!
Alle Türken hüpften dabei in die Höhe, dass ihnen die Pantoffeln um die Ohren flogen; solche Lufterscheinungen hatten sie noch nie gesehen. Nun konnten sie begreifen, dass es der Türkengott selbst war, der die Prinzessin haben sollte.
Sobald der Kaufmannssohn wieder mit seinem Koffer herunter in den Wald kam, dachte er: ‚Ich will doch in die Stadt hineingehen, um zu erfahren, wie es sich ausgenommen hat‘; es war ganz natürlich, dass er Lust dazu hatte.
Was doch die Leute erzählten! Ein jeder, den er danach fragte, hatte es auf seine Weise gesehen, aber schön hatten es alle gefunden.
„Ich sah den Türkengott selbst“, sagte der eine, „er hatte Augen wie glänzende Sterne und einen Bart wie schäumendes Wasser!“
„Er flog in einem Feuermantel“, sagte ein anderer. „Die lieblichsten Engelskinder blickten aus den Falten hervor!“
Ja, das waren herrliche Sachen, die er hörte, und am folgenden Tage sollte er Hochzeit haben.
Nun ging er nach dem Walde zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen – aber wo war der? Der Koffer war verbrannt. Ein Funken des Feuerwerks war zurückgeblieben, der hatte Feuer gefangen, und der Koffer lag in Asche. Nun konnte der Kaufmannssohn nicht mehr fliegen, nicht mehr zu seiner Braut gelangen.
Sie stand den ganzen Tag auf dem Dache und wartete; sie wartet noch, aber er durchwandert die Welt und erzählt Märchen, doch sind sie nicht mehr so lustig wie das Märchen von den Streichhölzern, das er als Türkengott erzählte.

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1839 zum ersten mal in dem Buch namens „Märchen, erzählt für Kinder. Neue Sammlung. Zweite Hefte“ von Andersen veröffentlicht.

Die Blumen der kleinen Ida

Original-Übersetzung

 

„Meine armen Blumen sind ganz verwelkt!“ sagte die kleine Ida. „Sie waren so schön gestern Abend, und nun hängen alle Blätter vertrocknet! Warum tun sie das?“ fragte sie den Studenten, der im Sofa saß; denn auf seine Meinung gab sie etwas. Er kannte die allerherrlichsten Geschichten und schnitt so lustige Bilder aus: Herzen mit kleinen Dämchen darin, die tanzten, Blumen und große Schlösser, deren Türen man aufmachen konnte; es war ein lustiger Student. „Warum sehen die Blumen heute so traurig aus?“ fragte sie ihn wieder und zeigte ihm einen großen Strauß, der ganz verwelkt war.
„Ja, weißt du, was ihnen fehlt?“ sagte der Student, „die Blumen sind heute nacht zum Ball gewesen, darum lassen sie die Köpfe hängen.“
„Aber die Blumen können doch nicht tanzen!“ sagte die kleine Ida.
„Aber ja“, sagte der Student, „wenn es dunkel wird und wir anderen schlafen, dann springen sie lustig umher; fast jede Nacht halten sie Ball!“
„Können Kinder nicht mit auf den Ball kommen?“
„Ja“, sagte der Student, „ganz kleine Gänseblümchen und Maiglöckchen!“
„Wo tanzen die schönsten Blumen?“ fragte die kleine Ida.
„Bist du nicht oft vor dem Tore bei dem großen Schloss gewesen, wo der König im Sommer wohnt und der prächtige Garten mit den vielen Blumen ist? Du hast ja die Schwäne gesehen, die zu dir heranschwimmen, wenn du ihnen Brotkrumen geben willst. Dort draußen ist wirklich Ball, das kannst du glauben!“
„Ich war erst gestern mit meiner Mutter draußen im Garten!“ sagte Ida, „aber alle Blätter waren schon von den Bäumen herunter, und es waren gar keine Blumen mehr da! Wo sind sie? Im Sommer sah ich so viele!“
„Sie sind drinnen im Schloss!“ sagte der Student. „Du musst wissen, sobald der König und alle Hofleute hierher in die Stadt ziehen, laufen die Blumen gleich vom Garten in das Schloss und sind lustig. Das solltest du sehen! Die zwei allerschönsten Rosen setzen sich auf den Thron, und dann sind sie König und Königin. All die roten Hahnenkämme stellen sich an den Seiten auf und stehen und verbeugen sich. Das sind die Kammerjunker. – Dann kommen die niedlichsten Blumen, und dann ist großer Ball. Die blauen Veilchen stellen kleine Seekadetten vor; sie tanzen mit Hyazinthen und Krokus, die sie Fräulein nennen. Die Tulpen und die großen gelben Lilien sind die alten Damen, die aufpassen, dass hübsch getanzt wird, und dass es ordentlich zugeht.“
„Aber“, fragte die kleine Ida, „ist niemand da, der den Blumen etwas tut, weil sie auf des Königs Schlosse tanzen?“
„Es weiß eigentlich niemand etwas davon!“ sagte der Student. „Nachts kommt freilich zuweilen der alte Schlossverwalter, der da draußen aufpassen soll; er hat immer ein großes Bund Schlüssel bei sich. Sobald die Blumen nun die Schlüssel rasseln hören, sind sie ganz stille, verstecken sich hinter den langen Gardinen und stecken den Kopf heraus. ‚Ich rieche genau, dass hier Blumen im Saal sind!‘ sagt der alte Schlossverwalter, aber er kann sie nicht sehen.“
„Doch, natürlich“ sagte der Student, „denke nur daran, wenn du wieder heraus kommst, dass du durch die Fenster hineinguckst, dann wirst du sie schon sehen. Ich habe es heute auch getan; da lag eine lange, gelbe Osterblume im Sofa und streckte sich, das war eine Hofdame!“
„Können auch die Blumen aus dem Botanischen Garten da heraus kommen? Können sie den weiten Weg machen?“
„Ja freilich!“ sagte der Student, „denn wenn sie wollen, können sie auch fliegen. Du hast doch gewiss die schönen Schmetterlinge gesehen, die roten, gelben und weißen, die fast wie Blumen aussehen. Und das sind sie auch gewesen. Sie sind von ihrem Stängel hoch in die Luft hinauf gesprungen und haben mit den Blättern geschlagen, als ob es kleine Flügel wären, und dann flogen sie wirklich, und da sie sich gut aufführen, durften sie auch am Tage fliegen, brauchten nicht wieder nach Hause und auf ihrem Stängel stillzusitzen, und so wurden die Blätter zuletzt zu wirklichen Flügeln. Das hast du ja selbst gesehen! Es kann übrigens gut möglich sein, dass die Blumen aus dem Botanischen Garten noch nie auf des Königs Schlosse gewesen sind oder auch nur wissen, dass es dort nachts so lustig hergeht. Deshalb will ich dir etwas sagen – der botanische Professor, der hier nebenan wohnt, du kennst ihn doch, wird nicht wenig erstaunt sein! Wenn du in seinen Garten gehst, sollst du einer von den Blumen erzählen, dass großer Ball dort draußen auf dem Schlosse ist, dann sagt sie es allen den anderen weiter, und dann fliegen sie von dannen. Kommt nun der Professor in den Garten hinaus, so ist da nicht eine einzige Blume, und er kann gar nicht verstehen, wo sie geblieben sind.“
„Aber wie kann die Blume es den anderen erzählen? Blumen können doch nicht sprechen!“
„Nein, das können sie freilich nicht!“ antwortete der Student: „aber sie machen sich Zeichen! Hast du nicht schon gesehen, wie die Blumen nicken und all ihre grünen Blätter bewegen, wenn es ein wenig weht? Das ist ebenso deutlich, als ob sie sprächen!“
„Kann der Professor denn ihre Zeichensprache verstehen?“ fragte Ida.
„Ja, gewiss! Eines Morgens kam er in seinen Garten hinunter und sah, wie eine große Brennnessel einer wunderschönen roten Nelke mit den Blättern Zeichen gab; sie sagte: ‚Du bist so hübsch, und ich habe dich so lieb!‘ Aber so etwas konnte der Professor nicht ausstehen, und er schlug schnell der Brennnessel über die Blätter, denn das sind ihre Finger, aber da brannte er sich, und seit der Zeit mag er keine Brennnessel mehr anrühren.“
„Das war drollig!“ sagte die kleine Ida und lachte.
„Wie kann man einem Kinde so etwas einreden!“ sagt der langweilige Kanzleirat, der zu Besuch gekommen war und im Sofa saß; er konnte den Studenten gar nicht leiden und brummte immer, wenn er ihn die komischen bunten Bilder ausschneiden sah: bald war es ein Mann, der am Galgen hing und ein Herz in der Hand hielt, denn er war ein Herzensdieb, bald war es eine alte Hexe, die auf einem Besen ritt und ihren Mann auf der Nase trug; das konnte der Kanzleirat nicht leiden, und dann sagte er, wie eben jetzt: „Wie kann man einem Kinde so etwas einreden! Das ist dumme Phantasterei!“
Aber der kleinen Ida schien es so hübsch, was der Student von ihren Blumen erzählte, dass sie immer wieder daran denken musste. Die Blumen ließen die Köpfe hängen, denn sie waren müde, weil sie die ganze Nacht getanzt hatten; sie waren gewiss krank. Da ging sie mit ihnen zu all den anderen Spielsachen, die auf einem niedlichen Tischchen standen, und das ganze Schubfach war voller Putz. Im Puppenbett lag ihre Puppe Sophie und schlief, aber die kleine Ida sagte zu ihr: „Du musst nun aufstehen Sophie, und für heute Nacht mit dem Schubfach als Lager vorlieb nehmen. Die armen Blumen sind krank, und da müssen sie in deinem Bett liegen, vielleicht werden sie dann gesund!“ Und sie nahm die Puppe heraus, aber die sah ganz mürrisch aus und sagte nicht ein einziges Wort, denn sie war böse, dass sie nicht ihr Bett behalten sollte.
Nun legte Ida die Blumen in das Puppenbett, zog die kleine Decke ganz weit über sie und sagte, nun sollten sie hübsch stille liegen, sie wollte Tee für sie kochen, dass sie wieder gesund würden und morgen wieder aufstehen könnten. Und sie zog die Gardinen dicht um das kleine Bett herum, damit die Sonne ihnen nicht in die Augen scheinen konnte.
Den ganzen Abend über musste sie daran denken, was der Student ihr erzählt hatte. Und als sie nun selbst zu Bett musste, schlich sie sich erst noch hinter die Gardinen, die vor den Fenstern herunterhingen, wo die herrlichen Blumen ihrer Mutter, Tulpen und Hyazinthen, standen, und sie flüsterte ihnen ganz leise zu: „ich weiß es ja, Ihr sollt heute nacht zum Ball!“ Aber die Blumen taten, als ob sie nichts verständen und rührten kein Blatt, aber die kleine Ida wusste doch, was sie wusste.
Als sie im Bett war, lag sie noch lange und dachte, wie hübsch es sein müsste, die prächtigen Blumen draußen auf des Königs Schloss tanzen zu sehen. „Ob meine Blumen wirklich mit dabei waren?“ Aber da schlief sie schon. In der Nacht erwachte sie wieder, sie hatte von den Blumen und dem Studenten geträumt, den der Kanzleirat ausgescholten hatte, weil er ihr etwas hatte einreden wollen. Es war ganz still in der Schlafkammer, in der Ida lag. Die Nachtlampe brannte auf dem Tisch, und Vater und Mutter schliefen.
„Ob meine Blumen jetzt noch in Sophies Bett liegen?“ sagte sie bei sich selbst, „wie gern ich das doch wüsste!“ Sie richtete sich ein wenig empor und sah auf die Tür, die einen Spalt offen stand. Drinnen lagen die Blumen und all ihr Spielzeug;. Sie lauschte, und auf einmal kam es ihr vor, als ob sie drinnen in der Stube auf dem Klavier spielen hörte, aber ganz leise und so niedlich, wie sie es niemals früher gehört hatte.
„Nun tanzen gewiss alle Blumen da drinnen!“ sagte sie, „ach Gott, wie gern möchte ich das sehen!“ Aber sie getraute sich nicht, aufzustehen, denn damit weckte sie den Vater und die Mutter. „Wenn sie doch nur hier herein kommen wollten!“ sagte sie; aber die Blumen kamen nicht, und die Musik spielte immer weiter so hübsch, dass sie es nicht mehr aushalten konnte, denn es war gar zu schön. Sie kroch aus ihrem kleinen Bett, ging ganz leise zur Tür hin und guckte in die Stube hinein. Nein, war das hübsch, was sie zu sehen bekam!
Es brannte gar keine Nachtlampe drinnen, aber trotzdem war es ganz hell, der Mond schien durch das Fenster mitten auf den Fußboden. Es war gleichsam tageshell. Alle Hyazinthen und Tulpen standen in zwei langen Reihen auf dem Boden. Gar keine einzige war mehr am Fenster, da standen leere Töpfe. Unten am Boden tanzten die Blumen so niedlich um einander herum, machten ordentlich Kette und hielten einander an den langen grünen Blättern, wenn sie sich herumschwenkten. Aber dort am Klavier saß eine große gelbe Lilie, die die kleine Ida bestimmt schon im Sommer gesehen hatte, denn sie erinnerte sich genau, dass der Student gesagt hatte: „Sieht sie nicht genau wie Fräulein Line aus?“ aber da hatten sie ihn alle ausgelacht. Nun jedoch schien es der kleinen Ida auch, dass die lange gelbe Blume dem Fräulein gleiche. Sie hatte auch dieselbe Art zu spielen, bald legte sie ihr langgezogenes gelbes Gesicht auf die eine Seite, bald auf die andere und nickte den Takt zu der herrlichen Musik. Keiner bemerkte die kleine Ida. Nun sah sie einen großen blauen Krokus mitten auf den Tisch hüpfen, auf dem die Spielsachen standen, gerade auf das Puppenbett zugehen und die Gardinen beiseite ziehen. Da lagen die kranken Blumen, sie richteten sich aber gleich auf und nickten zu den anderen hinunter, dass sie auch mittanzen wollten. Der alte Mann von der Räucherdose, dem die Unterlippe abgebrochen war, stand auf und verneigte sich vor den schönen Blumen. Sie sahen gar nicht mehr krank aus, sondern hüpften zu den anderen hinunter und waren recht munter.
Es war gerade, als ob etwas vom Tische herunter fiele. Ida sah dahin: es war die Fastnachtsrute, die herunter sprang. Es schien, dass sie auch mit zu den Blumen gehörte. Sie sah auch sehr hübsch aus, und oben mitten in ihrer Spitze thronte eine kleine Wachspuppe, die just denselben breiten Hut auf dem Kopfe trug, wie ihn der Kanzleirat hatte. Die Fastnachtsrute hüpfte auf ihren drei roten Holzbeinen mitten zwischen die Blumen und stampfte ganz laut, denn es wurde Mazurka getanzt, und den Tanz konnten die anderen Blumen nicht so gut, weil sie zu leicht waren und nicht aufstampfen konnten. Die Wachspuppe auf der Fastnachtsrute wurde mit einem Male groß und lang, kreiselte über den Papierblumen rund herum und rief ganz laut: „Wie kann man dem Kind so etwas einreden! Das ist dumme Phantasterei!“ und dabei glich die Wachspuppe ganz genau dem Kanzleirat mit dem breiten Hut und sah ebenso gelb und verdrießlich aus; aber die Papierblumen schlugen ihm um die dünnen Beine, und da kroch er wieder in sich zusammen und wurde eine ganz kleine Wachspuppe. Das war zu drollig anzusehen! Die kleine Ida konnte das Lachen nicht verbeißen.. Die Fastnachtsrute tanzte weiter, und der Kanzleirat musste mittanzen, es half ihm nichts, ob er sich groß und lang machte, oder die kleine gelbe Wachspuppe mit dem großen schwarzen Hut blieb. Da baten die anderen Blumen für ihn, vor allem die, die im Puppenbett gelegen hatten, und dann ließ ihn die Fastnachtsrute in Ruh. Im selben Augenblick klopfte es ganz stark von innen aus dem Kasten, wo Idas Puppe, Sophie, zusammen mit vielen anderen Spielsachen lag; das Räuchermännlein lief bis an die Tischkante, legte sich lang auf den Bauch und zog den Kasten ein wenig auf. Da richtete sich Sophie in die Höhe und sah sich ganz verwundert um. „Hier scheint Ball zu sein!“ sagte sie, „warum hat mir das niemand gesagt!“
„Willst du mit mir tanzen?“ sagte das Räuchermännlein.
„Ja, du scheinst mir der Richtige zum Tanzen!“ sagte sie und wandte ihm den Rücken zu. Dann setzte sie sich auf den Kasten und dachte, dass schon eine von den Blumen kommen würde, um sie aufzufordern, aber es kam keine. Da hustete sie hm, hm, hm! aber es wollte trotzdem keine kommen. Das Räuchermännlein tanzte ganz allein und gar nicht schlecht!
Weil nun keine der Blumen Sophie zu sehen schien, ließ sie sich vom Kasten gerade auf den Fußboden fallen, so dass es einen großen Lärm machte. Die Blumen kamen auch von allen Seiten herbeigelaufen und fragten sie, ob sie sich auch nicht weh getan hätte und alle waren nett zu ihr, ganz besonders die Blumen, die in ihrem Bett gelegen hatten; aber sie hatte sich gar nichts getan, und Idas Blumen bedankten sich für das schöne Bett und waren sehr lieb zu ihr. Sie nahmen sie mit hin zu der Stelle, wo der Mond auf den Fußboden schien und tanzten mit ihr, und alle anderen Blumen schlossen einen Kreis rings um sie. Nun war Sophie vergnügt, sie sagte, die anderen dürften gern ihr Bett behalten, und es mache ihr gar nichts aus, in der Schublade zu liegen.
Aber die Blumen sagten: „Allerschönsten Dank dafür, aber wir leben nicht mehr lange. Morgen sind wir tot; aber sage doch der kleinen Ida, dass sie uns draußen im Garten begräbt, wo der Kanarienvogel liegt, dann wachsen wir im Sommer wieder aus der Erde und sind noch viel schöner!“
„Nein, Ihr sollt nicht sterben!“ sagte Sophie und küsste die Blumen; da ging die Saaltür auf, und eine ganze Schar herrlicher Blumen kam tanzend herein. Ida konnte gar nicht begreifen, von wo sie gekommen waren. Es konnten nur die Blumen draußen von des Königs Schloss sein. Als erste kamen zwei prächtige Rosen, die hatten kleine Goldkronen auf. Das war ein König und eine Königin, dann kamen die reizendsten Levkojen und Nelken und grüßten nach allen Seiten. Sie hatten Musik bei sich. Große Mohnblumen und Päonien bliesen auf Erbsenschoten, dass sie schon einen ganz roten Kopf bekommen hatten. Die blauen Glockenblumen und die kleinen weißen Schneeglöckchen klingelten, gerade als ob sie Schellen trügen. Das war eine lustige Musik. Dann kamen noch viele andere Blumen, und sie tanzten allesamt, die blauen Veilchen und die roten Tausendschönchen, die Gänseblumen und Maiglöckchen. Und alle Blumen küssten einander, das war ein allerliebster Anblick!
Zuletzt sagten die Blumen einander gute Nacht, und auch die kleine Ida schlich sich in ihr Bett, wo sie träumte von allem, was sie gesehen hatte.
Als sie am nächsten Morgen aufstand, ging sie geschwind zu dem kleinen Tisch hin, um zu sehen, ob die Blumen noch da waren. Sie zog die Gardinen vor dem kleinen Bett beiseite, ja, da lagen sie alle, aber sie waren ganz verwelkt, viel mehr als gestern. Sophie lag im Kasten, wo sie sie hingelegt hatte und sah sehr verschlafen aus.
„Weißt du noch, was du mir sagen solltest?“ sagte die kleine Ida, aber Sophie sah ganz dumm aus und sagte kein einziges Wort.
„Das ist nicht schön von dir“, sagte Ida, „und sie haben doch alle mit dir getanzt.“ Dann nahm sie eine kleine Pappschachtel, worauf niedliche Vögel gemalt waren, machte sie auf und legte die toten Blumen hinein. „Das soll Euer hübscher Sarg sein,“ sagte sie, „und wenn nachher die norwegischen Vettern kommen, dann sollen sie bei Eurem Begräbnis draußen im Garten dabei sein, und im Sommer könnt Ihr wieder aus der Erde herauskommen und noch viel schöner werden!“
Die norwegischen Vettern waren zwei frische Jungen. Sie hießen Jonas und Adolf. Ihr Vater hatte ihnen zwei neue Flitzbogen geschenkt, und die hatten sie mitgebracht, um sie Ida zu zeigen. Sie erzählte ihnen von den armen Blumen, die nun tot waren, und dann durften sie sie begraben. Beide Knaben gingen voran, die Flitzbogen geschultert, und die kleine Ida folgte mit den toten Blumen in der hübschen Schachtel. Draußen im Garten wurde ein kleines Grab gegraben. Ida küsste erst die Blumen, setzte sie dann mit der Schachtel in die Erde, und Adolf und Jonas schossen mit den Flitzbogen über das Grab, denn sie hatten keine Gewehre oder Kanonen.

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1835 zum ersten mal in dem Buch namens „Märchen, erzählt für Kinder. Erste Sammlung. Erste Hefte“ von Andersen veröffentlicht.

Der unartige Knabe

Original-Übersetzung

 

Es war einmal ein alter Dichter, ein richtiger guter, alter Dichter. Eines abends, als er zu Hause saß, zog ein schreckliches Unwetter draußen herauf. Der Regen strömte hernieder, aber der alte Dichter saß warm und gut an seinem Kachelofen, wo das Feuer brannte und die Äpfel brutzelten.
„An den Armen, die in diesem Wetter draußen sind, bleibt kein Faden trocken!“ sagte er, denn er war ein guter Dichter.
„O, mach mir auf! Mich friert, und ich bin ganz nass!“ rief ein kleines Kind draußen. Es weinte und klopfte an die Tür, während der Regen strömte und der Sturm an allen Fenstern rüttelte.
„Du armer Kleiner!“ sagte der alte Dichter und ging, um die Tür zu öffnen. Da stand ein kleiner Knabe; er war ganz nackend, und das Wasser triefte aus seinen langen, gelben Haaren. Er zitterte vor Kälte, und wäre er nicht hereingekommen, hätte er sicherlich in dem bösen Wetter umkommen müssen.
„Du armer Kleiner!“ sagte der alte Dichter und nahm ihn bei der Hand. „Komm nur zu mir, ich werde dich schon wärmen! Wein und einen Apfel sollst du auch bekommen, denn du bist ein prächtiger Junge!“
Das war er auch wirklich! Seine Augen sahen wie zwei klare Sterne aus, und ob auch das Wasser aus deinen gelben Haaren floss, ringelten sie sich doch. Er sah wie ein kleines Engelskind aus, war aber bleich vor Kälte und zitterte über den ganzen Körper. In der Hand hatte er einen herrlichen Flitzbogen, aber der war ganz vom Regen verdorben; alle Farben von den schönen Pfeilen liefen ineinander bei dem nassen Wetter.
Der alte Dichter setzte sich an den Kachelofen, nahm den kleinen Knaben auf den Schoß, drückte das Wasser aus seinem Haar, wärmte seine Hände in seinen und kochte ihm süßen Wein. Da kam er wieder zu sich, sprang auf den Fußboden hinunter und tanzte um den alten Dichter herum.
„Du bist ein lustiger Knabe!“ sagte der Alte. „Wie heißt du?“
„Ich heiße Amor!“ antwortete er, „kennst du mich nicht? Da liegt mein Flitzbogen! Mit dem schieße ich, musst du wissen! Sieh, nun wird es gut Wetter draußen. Der Mond scheint!“
„Aber dein Flitzbogen ist verdorben!“ sagte der alte Dichter.
„Das wäre schlimm!“ sagte der kleine Knabe, nahm ihn auf und betrachtete ihn. „O, der ist schon wieder trocken, der hat keinen Schaden gelitten! Die Sehne sitzt ganz stramm! Nun werde ich ihn probieren!“ Dann spannte er ihn, legte einen Pfeil auf, zielte und schoss dem guten, alten Dichter mitten ins Herz. „Da kannst du sehen, dass mein Bogen nicht verdorben war“ sagte er, lachte ganz laut und lief davon. Der unartige Knabe! So auf den alten Dichter zu schießen, der ihn in seine warme Stube genommen hatte, so gut zu ihm gewesen war und ihm den herrlichsten Wein und die besten Äpfel gegeben hatte.
Der gute Dichter lag auf dem Fußboden und weinte. Er war wirklich gerade ins Herz getroffen, und so sagte er: „Pfui! Ist der Amor ein unartiger Knabe! Das will ich allen guten Kindern erzählen, damit sich in acht nehmen können und nie mit ihm spielen, sonst spielt er ihnen übel mit!“
Alle guten Kinder, Mädchen und Knaben, denen er es erzählte, nehmen sich gar sehr in acht vor dem schlimmen Amor, aber er lässt sie doch an seinem Narrenseil tanzen, denn er ist ein durchtriebener Schelm! Wenn die Studenten von den Vorlesungen kommen, läuft er neben ihnen in einem schwarzen Rock mit einem Buch unter dem Arm. Sie erkennen ihn nicht, gehen mit ihm Hand in Hand und glauben, dass er auch ein Student sei, aber dann sticht er ihnen einen Pfeil in die Brust. Wenn die Mädchen vom Prediger kommen, oder wenn sie im Kirchengange stehen, so ist er auch hinter ihnen. Ja, zu allen Zeiten ist er hinter den Leuten her! Er sitzt in dem großen Kronenleuchter im Theater und brennt lichterloh, und die Leute glauben, es sei eine Lampe, aber später merken sie etwas ganz anderes. Er läuft in des Königs Garten umher und auf den Wällen! Ja, er hat sogar einmal deinen Vater und deine Mutter mitten ins Herz geschossen! Frag sie nur danach, dann wirst du schon hören, was sie sagen. Ja, er ist ein schlimmer Knabe, dieser Amor. Du solltest lieber nichts mit ihm zu tun haben! Er ist hinter allen her. Denke nur einmal, er schoss sogar einmal mit einem Pfeil auf die alte Großmutter; aber das ist lange her, seit es geschah, doch vergisst sie es nie. Pfui, der schlimme Amor! Aber nun kennst du ihn und weißt, was für ein unartiger Knabe er ist.

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1835 zum ersten mal in dem Buch namens „Märchen, erzählt für Kinder. Neue Sammlung. Zweite Hefte“ von Andersen veröffentlicht.

Das ist wirklich wahr

Original-Übersetzung

„Das ist ja eine schreckliche Geschichte“ sagte ein Huhn, und zwar an dem Ende des Dorfes, wo die Geschichte nicht passiert war. „Das ist ja eine schreckliche Geschichte im Hühnerhaus. Ich getraue mich gar nicht, heute nacht allein zu schlafen! Es ist nur gut, dass wir so viele im Stalle sind“ – Und dann erzählte es, dass sich den anderen Hühnern die Federn sträubten und der Hahn den Kamm sinken ließ. Es ist wirklich wahr.
Aber wir wollen von Anfang anfangen, und der war am anderen Ende des Dorfes in einem Hühnerhaus. Die Sonne ging unter und die Hühner flogen auf. Eins von ihnen, es war weißgefiedert und kurzbeinig, legte seine vorgeschriebene Anzahl Eier und war, als Huhn, in jeder Weise respektabel. Als es die Leiter hinaufstieg, krause es sich mit dem Schnabel, und dabei fiel ihm eine kleine Feder aus.
„Hin ist hin!“ sagte es. „Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!“ Das war scherzhaft hingesprochen; denn es war das lustigste unter den Hühnern, im übrigen war es, wie gesagt, sehr respektabel; und dann schlief es ein.
Ringsum war es dunkel, Huhn an Huhn saß auf der Stange; aber das, was am nächsten dabei gesessen hatte, schlief noch nicht. Es hörte halb, halb hörte es nicht, wie man es ja in dieser Welt handhaben soll, um seine Gemütsruhe zu bewahren. Aber seiner anderen Nachbarin musste es doch noch schnell zuflüstern: „Hast Du gehört, was hier gesprochen worden ist? Ich nenne keinen Namen, aber es gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schön auszusehen! Wenn ich ein Hahn wäre, würde ich es verachten.“
Gerade gegenüber den Hühnern saß die Eule mit ihrem Eulenmann und den Eulenkindern; in dieser Familie hat man scharfe Ohren, sie hörten jedes Wort, was das Nachbarhuhn sagte. Und sie rollten mit den Augen und die Eulenmutter fächelte sich mit den Flügeln: „Hört nur nicht hin! Aber Ihr habt es wohl doch gehört, was dort drüben gesprochen wurde? Ich hörte es mit meinen eigenen Ohren, und man hört ja viel ehe sie abfallen! Da ist eins unter den Hühnern, was in einem solchen Grade vergessen hat, was sich für ein Huhn schickt, dass es sitzt und sich alle Federn vom Leibe zupft und es den Hahn mit ansehen lässt!“
„Prenez garde aux enfants!“ sagte der Eulenvater, „das ist nichts für die Kinder.“
„Ich will es doch der Nachbareule erzählen! Das ist eine so ehrenwerte Eule im Umgang!“ damit flog die Mutter fort.
„Hu-Hu! uhuh!“ tuteten die beiden gerade in den gegenüberliegenden Taubenschlag zu den Tauben hinein. „Habt Ihr schon gehört? uhuh! Da ist ein Huhn, dass sich alle Federn ausgerupft hat wegen des Hahns. Es wird tot frieren, wenn es nicht schon tot ist, uhuh!“ „Wo? Wo?“ gurrten die Tauben.
„Im Nachbarhofe! Ich habe es so gut wie selbst gesehen. Es ist zwar eine etwas unanständige Geschichte, aber es ist wirklich wahr!“
„Glaubt nur, glaubt nur jedes einzige Wort“ sagten die Tauben und gurrten zu ihrem Hühnerstall hinab: „Da ist ein Huhn, ja, einige sagen sogar, es seien zwei, die sich alle Federn ausgerupft haben, um nicht wie die anderen auszusehen und dadurch die.
Aufmerksamkeit des Hahns zu erregen. Das ist ein gewagtes Spiel, man kann sich dabei erkälten und am Fieber sterben, nun sind sie beide tot!“
„Wacht auf! Wacht auf! krähte der Hahn und flog auf den Zaun. Der Schlaf saß ihm noch in den Augen, aber er krähte trotzdem: „Es sind drei Hühner aus unglücklicher Liebe zu einem Hahn gestorben! Sie haben sich alle Federn ausgerupft! Das ist eine hässliche Geschichte, ich will sie nicht für mich behalten, lasst sie weitergehen!“
„Lasst sie weitergehen!“ pfiffen die Fledermäuse, und die Hühner gluckten und der Hahn krähte: „Lasst sie weitergehen! Lasst sie weitergehen!“ Und so eilte die Geschichte von Hühnerhaus zu Hühnerhaus und endete zuletzt bei der Stelle, von wo sie ausgegangen war.
„Da sind fünf Hühner,“ hieß es, „die sich alle die Federn ausgerupft haben, um zu zeigen, welches von ihnen am magersten vor Liebeskummer um den Hahn geworden wäre, und sie hackten auf einander los, bis das Blut floss und fielen tot zur Erde, ihrer Familie zu Schimpf und Schande und dem Besitzer zu großem Verlust.“
Das Huhn, das die lose, kleine Feder verloren hatte, erkannte sich natürlich in der Geschichte nicht wieder, und da es ein respektables Huhn war, sagte es: „Diese Hühner verachte ich. Aber es gibt mehr von dieser Art. So etwas soll man nicht vertuschen, ich will jedenfalls das meinige dazu tun, dass die Geschichte in die Zeitung kommt, dann geht sie durch das ganze Land, das haben die Hühner verdient und die Familie auch!“
Und es kam in die Zeitung und wurde gedruckt und es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden!

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1852 zum ersten mal in dem Buch namens „Geschichten.  Erste Sammlung“ von Andersen veröffentlicht.

Die roten Schuhe

Original-Übersetzung

 

Es war einmal ein kleines Mädchen, gar fein und hübsch; aber es war arm und musste im Sommer immer barfuss gehen, und im Winter mit großen Holzschuhen, so dass der kleine Spann ganz rot wurde; es war zum Erbarmen.
Mitten im Dorfe wohnte die alte Schuhmacherin; sie setzte sich hin und nähte, so gut sie es konnte, von alten roten Tuchlappen ein paar kleine Schuhe. Recht plump wurden sie ja, aber es war doch gut gemeint, denn das kleine Mädchen sollte sie haben. Das kleine Mädchen hieß Karen.
Just an dem Tage, als ihre Mutter begraben wurde, bekam sie die roten Schuhe und zog sie zum ersten Male an; sie waren ja freilich zum Trauern nicht recht geeignet, aber sie hatte keine anderen, und so ging sie mit nackten Beinchen darin hinter dem ärmlichen Sarge her.
Da kam gerade ein großer, altmodischer Wagen dahergefahren; darin saß eine stattliche alte Dame. Sie sah das kleine Mädchen an und hatte Mitleid mit ihm, und deshalb sagte sie zu dem Pfarrer: „Hört, gebt mir das kleine Mädchen, ich werde für sie sorgen und gut zu ihr sein!“
Karen glaubte, dass sie alles dies den roten Schuhen zu danken habe. Aber die alte Frau sagte, dass sie schauderhaft seien, und dann wurden sie verbrannt. Karen selbst wurde reinlich und nett gekleidet; sie musste Lesen und Nähen lernen, und die Leute sagten, sie sei niedlich; aber der Spiegel sagte: „Du bist weit mehr als niedlich, Du bist schön.“
Da reiste einmal die Königin durch das Land, und sie hatte ihre kleine Tochter bei sich, die eine Prinzessin war. Das Volk strömte zum Schlosse und Karen war auch dabei. Die kleine Prinzessin stand in feinen weißen Kleidern in einem Fenster und ließ sich bewundern. Sie hatte weder Schleppe noch Goldkrone, aber prächtige rote Saffianschuhe. Die waren freilich weit hübscher als die, welche die alte Schuhmacherin für die kleine Karen genäht hatte. Nichts in der Welt war doch solchen roten Schuhen vergleichbar!
Nun war Karen so alt, dass sie eingesegnet werden sollte. Sie bekam neue Kleider und sollte auch neue Schuhe haben. Der reiche Schuhmacher in der Stadt nahm Maß an ihrem kleinen Fuß. Das geschah in seinem Laden, wo große Glasschränke mit niedlichen Schuhen und blanken Stiefeln standen. Das sah gar hübsch aus, aber die alte Dame konnte nicht gut sehen und hatte daher auch keine Freude daran. Mitten zwischen den Schuhen standen ein paar rote, ganz wie die, welche die Prinzessin getragen hatte. Wie schön sie waren! Der Schuhmacher sagte auch, dass sie für ein Grafenkind genäht worden seien, aber sie hätten nicht gepasst.
„Das ist wohl Glanzleder“ sagte die alte Dame, „sie glänzen so.“
„Ja, sie glänzen!“ sagte Karen, und sie passten gerade und wurden gekauft. Aber die alte Dame wusste nichts davon, dass sie rot waren, denn sie hätte Karen niemals erlaubt, in roten Schuhen zur Einsegnung zu gehen, aber das geschah nun also.
Alle Menschen sahen auf ihre Füße, und als sie durch die Kirche und zur Chortür hinein schritt, kam es ihr vor, als ob selbst die alten Bilder auf den Grabsteinen, die Steinbilder der Pfarrer und Pfarrersfrauen mit steifen Kragen und langen schwarzen Kleidern, die Augen auf ihre roten Schuhe hefteten, und nur an diese dachte sie, als der Pfarrer seine Hand auf ihr Haupt legte und von der heiligen Taufe sprach und von dem Bunde mit Gott, und dass sie nun eine erwachsene Christin sein sollte. Und die Orgel spielte so feierlich, die hellen Kinderstimmen sangen und der alte Kantor sang, aber Karen dachte nur an die roten Schuhe.
Am Nachmittag hörte die alte Dame von allen Leuten, dass die Schuhe rot gewesen wären, und sie sagte das wäre recht hässlich und unschicklich, und Karen müsse von jetzt ab stets mit schwarzen Schuhen zur Kirche gehen, selbst wenn sie alt wären.
Am nächsten Sonntag war Abendmahl, und Karen sah die schwarzen Schuhe an, dann die roten, – und dann sah sie die roten wieder an und zog sie an.
Es war herrlicher Sonnenschein; Karen und die alte Dame gingen einen Weg durch das Kornfeld; da stäubte es ein wenig.
An der Kirchentür stand ein alter Soldat mit einem Krückstock und einem gewaltig langen Barte, der war mehr rot als weiß, er war sogar fuchsrot. Er verbeugte sich tief bis zur Erde und fragte die alte Dame, ob er ihre Schuhe abstäuben dürfe. Und Karen streckte ihren kleinen Fuß auch aus. „Sieh, was für hübsche Tanzschuhe“ sagte der Soldat, „sitzt fest, wenn Ihr tanzt.“ Und dann schlug er mit der Hand auf die Sohlen.
Die alte Dame gab dem Soldaten einen Schilling, und dann ging sie mit Karen in die Kirche.
Alle Menschen drinnen blickten auf Karens rote Schuhe, und alle Bilder blickten darauf, und als Karen vor dem Altar kniete und den goldenen Kelch an ihre Lippen setzte, dachte sie nur an die roten Schuhe. Es war ihr, als ob sie selbst in dem Kelche vor ihr schwämmen; und sie vergaß, den Choral mitzusingen und vergaß, ihr Vaterunser zu beten.
Nun gingen alle Leute aus der Kirche, und die alte Dame stieg in ihren Wagen. Karen hob den Fuß, um hinterher zu steigen; da sagte der alte Soldat, der dicht dabei stand: „Sieh, was für schöne Tanzschuhe.“ Und Karen konnte es nicht lassen, sie musste ein paar Tanzschritte machen!“ Und als sie angefangen hatte, tanzten die Beine weiter; es war gerade, als hätten die Schuhe Macht über sie bekommen; sie tanzte um die Kirchenecke herum und konnte nicht wieder aufhören damit; der Kutscher musste hinterher laufen und sie festhalten. Er hob sie in den Wagen; aber die Füße tanzten weiter, so dass sie die gute alte Dame heftig trat.
Endlich zogen sie ihr die Schuhe ab, und die Beine kamen zur Ruhe.
Daheim wurden die Schuhe in den Schrank gesetzt, aber Karen konnte sich nicht enthalten, sie immer von neuem anzusehen.
Nun wurde die alte Frau krank, und es hieß, dass sie nicht mehr lange zu leben hätte. Sie sollte sorgsam gepflegt und gewartet werden, und niemand stand ihr ja näher als Karen. Aber in der Stadt war ein großer Ball und Karen war auch dazu eingeladen. Sie schaute die alte Frau an, die ja doch nicht wieder gesund wurde, sie schaute auf die roten Schuhe, und das schien ihr keine Sünde zu sein. – Da zog sie die roten Schuhe an – das konnte sie wohl auch ruhig tun! – aber dann ging sie auf den Ball und fing an zu tanzen.
Doch als sie nach rechts wollte, tanzten die Schuhe nach links, und als sie den Saal hinauf tanzen wollte, tanzten die Schuhe hinunter, die Treppe hinab, über den Hof durch das Tor aus der Stadt hinaus. Tanzen tat sie, und tanzen musste sie, mitten in den finsteren Wald hinein.
Da leuchtete es zwischen den Bäumen oben, und sie glaubte, dass es der Mond wäre; denn es sah aus wie ein Gesicht. Es war jedoch der alte Soldat mit dem roten Barte. Er saß und nickte und sprach: „Sieh, was für hübsche Tanzschuhe.“
Da erschrak sie und wollte die roten Schuhe fortwerfen; aber sie hingen fest. Sie riss ihre Strümpfe ab; aber die Schuhe waren an ihren Füßen festgewachsen. Und tanzen tat sie und tanzen musste sie über Feld und Wiesen, in Regen und Sonnenschein, bei Tage und bei Nacht; aber in der Nacht war es zum Entsetzen.
Sie tanzte zum offenen Kirchhofe hinein, aber die Toten dort tanzten nicht; sie hatten weit Besseres zu tun als zu tanzen. Sie wollte auf dem Grabe eines Armen niedersitzen, wo bitteres Farnkraut grünte, aber für sie gab es weder Rast noch Ruhe. Und als sie auf die offene Kirchentür zutanzte, sah sie dort einen Engel in langen weißen Kleidern; seine Schwingen reichten von seinen Schultern bis zur Erde nieder. Sein Gesicht war strenge und ernst, und in der Hand hielt er ein Schwert, breit und leuchtend:
„Tanzen sollst Du“ sagte er, „tanzen auf Deinen roten Schuhen, bist Du bleich und kalt bist, bis Deine Haut über dem Gerippe zusammengeschrumpft ist. Tanzen sollst Du von Tür zu Tür, und wo stolze, eitle Kinder wohnen, sollst Du anpochen, dass sie Dich hören und fürchten! Tanzen sollst Du, tanzen“ „Gnade“ rief Karen. Aber sie hörte nicht mehr, was der Engel antwortete, denn die Schuhe trugen sie durch die Pforte auf das Feld hinaus, über Weg und über Steg, und immer musste sie tanzen.
Eines Morgens tanzte sie an einer Tür vorbei, die ihr wohlbekannt war. Drinnen ertönten Totenpsalmen; ein Sarg wurde herausgetragen, der mit Blumen geschmückt war. Da wusste sie, dass die alte Frau tot war, und es kam ihr zum Bewusstsein, dass sie nun von allen verlassen war, und Gottes Engel hatte sie verflucht.
Tanzen tat sie und tanzen musste sie, tanzen in der dunkeln Nacht. Die Schuhe trugen sie dahin über Dorn und Steine, und sie riss sich blutig. Sie tanzte über die Heide hin bis zu einem kleinen, einsamen Hause. Hier, wusste sie, wohnte der Scharfrichter, und sie pochte mit dem Finger an die die Scheibe und sagte:
„Komm heraus – Komm heraus – Ich kann nicht hineinkommen, denn ich tanze.“
Und der Scharfrichter sagte: „Du weißt wohl nicht, wer ich bin? Ich schlage bösen Menschen das Haupt ab, und ich fühle, dass mein Beil klirrt!“
„Schlag mir nicht das Haupt ab“ sagte Karen, denn dann kann ich nicht meine Sünde bereuen! Aber haue meine Füße mit den roten Schuhen ab.“
Nun bekannte sie ihre ganze Sünde, und der Scharfrichter hieb ihr die Füße mit den roten Schuhen ab: aber die Schuhe tanzten mit den kleinen Füßchen über das Feld in den tiefen Wald hinein.
Und er schnitzte ihr Holzbeine und Krücken, lehrte sie die Psalmen, die die armen Sünder singen, und sie küsste die Hand, die die Axt geführt hatte, und ging von dannen über die Heide.
„Nun habe ich genug um die roten Schuhe gelitten“ sagte sie, „nun will ich in die Kirche gehen, damit es auch gesehen wird.“ Und sie ging, so schnell sie es mit den Holzfüßen konnte, auf die Kirchentür zu. Als sie aber dorthin kam, tanzten die roten Schuhe vor ihr her, und sie entsetzte sich und kehrte um.
Die ganze Woche hindurch war sie betrübt und weinte viele bittere Tränen. Als es aber Sonntag wurde, sagte sie: „So, nun habe ich genug gelitten und gestritten. Ich glaube wohl, dass ich ebenso gut bin wie viele von denen, die in der Kirche sitzen und prahlen!“ Und dann machte sie sich mutig auf. Doch kam sie nicht weiter als bis zur Pforte; da sah sie die roten Schuhe vor sich hertanzen, und sie entsetzte sich sehr, kehrte wieder um und bereute ihre Sünde von ganzem Herzen.
Dann ging sie zum Pfarrhause und bat, ob sie dort Dienst nehmen dürfe; sie wolle fleißig sein und alles tun, was sie könne; auf Lohn sehe sie nicht, wenn sie nur ein Dach übers Haupt bekäme und bei guten Menschen wäre. Und die Pfarrersfrau hatte Mitleid mit ihr und nahm sie in Dienst. Und sie war fleißig und nachdenklich. Stille saß sie und hörte zu, wenn am Abend der Pfarrer laut aus der Bibel vorlas. All die Kleinen liebten sie sehr; aber wenn sie von Putz und Staat sprachen und dass es herrlich sein müsse, eine Königin zu sein, schüttelte sie mit dem Kopfe.
Am nächsten Sonntag gingen alle zur Kirche, und sie fragten sie, ob sie mitwolle, aber sie sah betrübt mit Tränen in den Augen auf ihre Krücken herab, und so gingen die anderen ohne sie fort, um Gottes Wort zu hören; sie aber ging allein in ihre kleine Kammer. Die war nicht größer, als dass ein Bett und ein Stuhl darin stehen konnte, und hier setzte sie sich mit ihrem Gesangbuche hin. Und als sie mit frommem Sinn darin las, trug der Wind die Orgeltöne aus der Kirche zu ihr herüber, und sie erhob unter Tränen ihr Antlitz und sagte: „O Gott, hilf mir.“
Da schien die Sonne so hell, und gerade vor ihr stand Gottes Engel in den weißen Kleidern, er, den sie in der Nacht in der Kirchentür gesehen hatte. Aber er hielt nicht mehr das scharfe Schwert, sondern einen herrlichen grünen Zweig, der voller Rosen war. Mit diesem berührte er die Decke, und sie hob sich empor, und wo er sie berührt hatte, leuchtete ein goldener Stern. Und er berührte die Wände, und sie weiteten sich. Nun sah sie die Orgel und hörte ihren Klang, und sie sah die alten Steinbilder von den Pfarrern und Pfarrersfrauen.
Die Gemeinde saß in den geschmückten Stühlen und sang aus dem Gesangbuch. – Die Kirche war selbst zu dem armen Mädchen in die kleine, enge Kammer gekommen, oder war sie etwa in die Kirche gekommen? Sie saß im Stuhl bei den anderen aus dem Pfarrhause, und als der Psalm zuende gesungen war, blickten sie auf und nickten ihr zu und sagten: „Das war recht, dass Du kamst, Karen.“
„Es war Gnade“ sagte sie.
Und die Orgel klang, und die Kinderstimmen im Chor ertönten sanft und lieblich! Der klare Sonnenschein strömte warm durch die Fenster in den Kirchenstuhl, wo Karen saß; ihr Herz war so voll Sonnenschein, Frieden und Freude, dass es brach. Ihre Seele flog mit dem Sonnenschein auf zu Gott, und dort war niemand, der nach den roten Schuhen fragte.

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1845 zum ersten mal in dem Buch namens „Märchen, erzählt für Kinder. Neue Sammlung. Dritten Hefte“ von Andersen veröffentlicht.

Der Tannenbaum

Original-Übersetzung

 

Draußen im Walde stand ein niedlicher, kleiner Tannenbaum; er hatte einen guten Platz, Sonne konnte er bekommen, Luft war genug da, und ringsumher wuchsen viel größere Kameraden, sowohl Tannen als Fichten. Aber dem kleinen Tannenbaum schien nichts so wichtig wie das Wachsen; er achtete nicht der warmen Sonne und der frischen Luft, er kümmerte sich nicht um die Bauernkinder, die da gingen und plauderten, wenn sie herausgekommen waren, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll oder hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm gezogen, dann setzten sie sich neben den kleinen Tannenbaum und sagten: „Wie niedlich klein ist der!“ Das mochte der Baum gar nicht hören.
Im folgenden Jahre war er ein langes Glied größer, und das Jahr darauf war er um noch eins länger, denn bei den Tannenbäumen kann man immer an den vielen Gliedern, die sie haben, sehen, wie viele Jahre sie gewachsen sind.
„Oh, wäre ich doch so ein großer Baum wie die andern!“ seufzte das kleine Bäumchen. „Dann könnte ich meine Zweige so weit umher ausbreiten und mit der Krone in die Welt hinausblicken! Die Vögel würden dann Nester zwischen meinen Zweigen bauen, und wenn der Wind weht, könnte ich so vornehm nicken, gerade wie die andern dort!“
Er hatte gar keine Freude am Sonnenschein, an den Vögeln und den roten Wolken, die morgens und abends über ihn hinsegelten.
War es nun Winter und der Schnee lag ringsumher funkelnd weiß, so kam häufig ein Hase angesprungen und setzte gerade über den kleinen Baum weg. Oh, das war ärgerlich! Aber zwei Winter vergingen, und im dritten war das Bäumchen so groß, dass der Hase um es herumlaufen musste. „Oh, wachsen, wachsen, groß und alt werden, das ist doch das einzige Schöne in dieser Welt!“ dachte der Baum.
Im Herbst kamen immer Holzhauer und fällten einige der größten Bäume; das geschah jedes Jahr, und dem jungen Tannenbaum, der nun ganz gut gewachsen war, schauderte dabei; denn die großen, prächtigen Bäume fielen mit Knacken und Krachen zur Erde, die Zweige wurden abgehauen, die Bäume sahen ganz nackt, lang und schmal aus; sie waren fast nicht zu erkennen. Aber dann wurden sie auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie davon, aus dem Walde hinaus.
Wohin sollten sie? Was stand ihnen bevor?
Im Frühjahr, als die Schwalben und Störche kamen, fragte sie der Baum: „Wisst ihr nicht, wohin sie geführt wurden? Seid ihr ihnen begegnet?“
Die Schwalben wussten nichts, aber der Storch sah nachdenkend aus, nickte mit dem Kopfe und sagte: „Ja, ich glaube wohl; mir begegneten viele neue Schiffe, als ich aus Ägypten flog; auf den Schiffen waren prächtige Mastbäume; ich darf annehmen, dass sie es waren, sie hatten Tannengeruch; ich kann vielmals von ihnen grüßen, sie sind schön und stolz!“
„Oh, wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinfahren zu können! Was ist das eigentlich, dieses Meer, und wie sieht es aus?“
„Ja, das ist viel zu weitläufig zu erklären!“ sagte der Storch, und damit ging er.
„Freue dich deiner Jugend!“ sagten die Sonnenstrahlen; „freue dich deines frischen Wachstums, des jungen Lebens, das in dir ist!“
Und der Wind küsste den Baum, und der Tau weinte Tränen über ihn, aber das verstand der Tannenbaum nicht.
Wenn es gegen die Weihnachtszeit war, wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die oft nicht einmal so groß oder gleichen Alters mit diesem Tannenbäume waren, der weder Rast noch Ruhe hatte, sondern immer davon wollte; diese jungen Bäume, und es waren gerade die allerschönsten, behielten immer alle ihre Zweige; sie wurden auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie zum Walde hinaus.
„Wohin sollen diese?“ fragte der Tannenbaum. „Sie sind nicht größer als ich, einer ist sogar viel kleiner; weswegen behalten sie alle ihre Zweige? Wohin fahren sie?“
„Das wissen wir! Das wissen wir!“ zwitscherten die Meisen. „Unten in der Stadt haben wir in die Fenster gesehen! Wir wissen, wohin sie fahren! Oh, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit, die man sich denken kann! Wir haben in die Fenster gesehen und erblickt, dass sie mitten in der warmen Stube aufgepflanzt und mit den schönsten Sachen, vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug, und vielen hundert Lichtern geschmückt werden.“
„Und dann?“ fragte der Tannenbaum und bebte in allen Zweigen. „Und dann? Was geschieht dann?“ „Ja, mehr haben wir nicht gesehen! Das war unvergleichlich schön!“
„Ob ich wohl bestimmt bin, diesen strahlenden Weg zu betreten?“ jubelte der Tannenbaum. Das ist noch besser als über das Meer zu ziehen! Wie leide ich an Sehnsucht! Wäre es doch Weihnachten! Nun bin ich hoch und entfaltet wie die andern, die im vorigen Jahre davon geführt wurden! Oh, wäre ich erst auf dem Wagen, wäre ich doch in der warmen Stube mit all der Pracht und Herrlichkeit! Und dann? ja, dann kommt noch etwas Besseres, noch Schöneres, warum würden sie mich sonst so schmücken? Es muss noch etwas Größeres, Herrlicheres kommen! Aber was? Oh, ich leide, ich sehne mich, ich weiß selbst nicht, wie mir ist!“
„Freue dich unser!“ sagten die Luft und das Sonnenlicht; „freue dich deiner frischen Jugend im Freien!“
Aber er freute sich durchaus nicht; er wuchs und wuchs, Winter und Sommer stand er grün; dunkelgrün stand er da, die Leute, die ihn sahen, sagten: „Das ist ein schöner Baum!“ und zur Weihnachtszeit wurde er von allen zuerst gefällt. Die Axt hieb tief durch das Mark; der Baum fiel mit einem Seufzer zu Boden, er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht, er konnte gar nicht an irgendein Glück denken, er war betrübt, von der Heimat scheiden zu müssen, von dem Flecke, auf dem er emporgeschossen war; er wusste ja, dass er die lieben, alten Kameraden, die kleinen Büsche und Blumen ringsumher nie mehr sehen werde, ja vielleicht nicht einmal die Vögel. Die Abreise hatte durchaus nichts Behagliches.
Der Baum kam erst wieder zu sich selbst, als er im Hofe mit andern Bäumen abgeladen wurde und einen Mann sagen hörte: „Dieser hier ist prächtig! Wir wollen nur den!“
Nun kamen zwei Diener im vollen Staat und trugen den Tannenbaum in einen großen, schönen Saal. Ringsherum an den Wänden hingen Bilder, und bei dem großen Kachelofen standen große chinesische Vasen mit Löwen auf den Deckeln; da waren Wiegestühle, seidene Sofas, große Tische voll von Bilderbüchern und Spielzeug für hundertmal hundert Taler; wenigstens sagten das die Kinder. Der Tannenbaum wurde in ein großes, mit Sand gefälltes Fass gestellt, aber niemand konnte sehen, dass es ein Fass war, denn es wurde rundherum mit grünem Zeug behängt und stand auf einem großen, bunten Teppich. oh, wie der Baum bebte! Was würde da wohl vorgehen? Sowohl die Diener als die Fräulein schmückten ihn. An einen Zweig hängten sie kleine, aus farbigem Papier ausgeschnittene Netze, und jedes Netz war mit Zuckerwerk gefüllt. Vergoldete Apfel und Walnüsse hingen herab, als wären sie festgewachsen, und über hundert rote, blaue und weiße kleine Lichter wurden in den Zweigen festgesteckt. Puppen, die leibhaft wie die Menschen aussahen – der Baum hatte früher nie solche gesehen -, schwebten im Grünen, und hoch oben in der Spitze wurde ein Stern von Flittergold befestigt. Das war prächtig, ganz außerordentlich prächtig!
„Heute Abend“, sagten alle, „heute Abend wird er strahlen!“ und sie waren außer sich vor Freude.
„Oh“ dachte der Baum, „wäre es doch Abend! Würden nur die Lichter bald angezündet! Und was dann wohl geschieht? Ob da wohl Bäume aus dem Walde kommen, mich zu sehen? Ob die Meisen gegen die Fensterscheiben fliegen? Ob ich hier festwachse und Winter und Sommer geschmückt stehen werde?“
Ja, er wusste gut Bescheid; aber er hatte ordentlich Borkenschmerzen vor lauter Sehnsucht, und Borkenschmerzen sind für einen Baum ebenso schlimm wie Kopfschmerzen für uns andere.
Nun wurden die Lichter angezündet. Welcher Glanz, welche Pracht! Der Baum bebte in allen Zweigen dabei, so dass eins der Lichter das Grüne anbrannte; es sengte ordentlich.
„Gott bewahre uns!“ schrieen die Fräulein und löschten es hastig aus.
Nun durfte der Baum nicht einmal beben. Oh, das war ein Grauen! Ihm war bange, etwas von seinem Staate zu verlieren; er war ganz betäubt von all dem Glanze. Da gingen beide Flügeltüren auf, und eine Menge Kinder stürzte herein, als wollten sie den ganzen Baum umwerfen, die älteren Leute kamen bedächtig nach; die Kleinen standen ganz stumm, aber nur einen Augenblick, dann jubelten sie wieder, dass es laut schallte; sie tanzten um den Baum herum, und ein Geschenk nach dem andern wurde abgepflückt und verteilt.
„Was machen sie?“ dachte der Baum. Was soll geschehen?“ Die Lichter brannten gerade bis auf die Zweige herunter, und je nachdem sie nieder brannten, wurden sie ausgelöscht, und dann erhielten die Kinder die Erlaubnis, den Baum zu plündern. Sie stürzten auf ihn zu, dass es in allen Zweigen knackte; wäre er nicht mit der Spitze und mit dem Goldstern an der Decke festgemacht gewesen, so wäre er umgefallen.
Die Kinder tanzten mit ihrem prächtigen Spielzeug herum, niemand sah nach dem Baume, ausgenommen das alte Kindermädchen, das zwischen die Zweige blickte; aber es geschah nur, um zu sehen, ob nicht noch eine Feige oder ein Apfel vergessen sei.
„Eine Geschichte, eine Geschichte!“ riefen die Kinder und zogen einen kleinen, dicken Mann gegen den Baum hin, und er setzte sich gerade unter ihn, „denn so sind wir im Grünen“, sagte er, „und der Baum kann besonders Nutzen davon haben, zuzuhören! Aber ich erzähle nur eine Geschichte. Wollt ihr die von Ivede-Avede oder die von Klumpe-Dumpe hören, der die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin bekam?“
„Ivede-Avede!“ schrieen einige, „Klumpe-Dumpe!“ schrieen andere. Das war ein Rufen! Nur der Tannenbaum schwieg ganz still und dachte: Komme ich gar nicht mit, werde ich nichts dabei zu tun haben?“ Er hatte ja geleistet, was er sollte.
Der Mann erzählte von Klumpe-Dumpe, der die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin bekam. Und die Kinder klatschten in die Hände und riefen: „Erzähle, erzähle!“ Sie wollten auch die Geschichte von Ivede-Avede hören, aber sie bekamen nur die von Klumpe-Dumpe. Der Tannenbaum stand ganz stumm und gedankenvoll, nie hatten die Vögel im Walde dergleichen erzählt. Klumpe-Dumpe fiel die Treppen hinunter und bekam doch die Prinzessin! Ja, ja, so geht es in der Welt zu!“ dachte der Tannenbaum und glaubte, dass es wahr sei, weil ein so netter Mann es erzählt hatte. „Ja, ja! Vielleicht falle ich auch die Treppe hinunter und bekomme eine Prinzessin!“ Und er freute sich, den nächsten Tag wieder mit Lichtern und Spielzeug, Gold und Früchten und dem Stern von Flittergold aufgeputzt zu werden. „Morgen werde ich nicht zittern!“ dachte er. ich will mich recht aller meiner Herrlichkeit freuen. Morgen werde ich wieder die Geschichte von Klumpe-Dumpe und vielleicht auch die von Ivede-Avede hören.“ Und der Baum stand die ganze Nacht still und gedankenvoll.
Am Morgen kamen die Diener und das Mädchen herein.
„Nun beginnt der Staat aufs neue!“ dachte der Baum; aber sie schleppten ihn zum Zimmer hinaus, die Treppe hinauf, auf den Boden und stellten ihn in einen dunklen Winkel, wohin kein Tageslicht schien. „Was soll das bedeuten?“ dachte der Baum. „Was soll ich hier wohl machen? Was mag ich hier wohl hören sollen?“ Er lehnte sich gegen die Mauer und dachte und dachte. Und er hatte Zeit genug, denn es vergingen Tage und Nächte; niemand kam herauf, und als endlich jemand kam, so geschah es, um einige große Kasten in den Winkel zu stellen; der Baum stand ganz versteckt, man musste glauben, dass er ganz vergessen war.
„Nun ist es Winter draußen!“ dachte der Baum. Die Erde ist hart und mit Schnee bedeckt, die Menschen können mich nicht pflanzen; deshalb soll ich wohl bis zum Frühjahr hier im Schutz stehen! Wie wohlbedacht ist das! Wie die Menschen doch so gut sind! Wäre es hier nur nicht so dunkel und schrecklich einsam! Nicht einmal ein kleiner Hase! Das war doch niedlich da draußen im Walde, wenn der Schnee lag und der Hase vorbeisprang, ja selbst als er über mich hinwegsprang; aber damals mochte ich es nicht leiden. Hier oben ist es doch schrecklich einsam!“
„Piep, piep!“ sagte da eine kleine Maus und huschte hervor; und dann kam noch eine kleine. Sie beschnüffelten den Tannenbaum, und dann schlüpften sie zwischen seine Zweige.
„Es ist eine gräuliche Kälte!“ sagten die kleinen Mäuse. „Sonst ist hier gut sein; nicht wahr, du alter Tannenbaum?“
„Ich bin gar nicht alt!“ sagte der Tannenbaum; „es gibt viele, die weit älter sind denn ich!“
„Woher kommst du?“ fragten die Mäuse, „und was weißt du?“ Sie waren gewaltig neugierig. „Erzähle uns doch von den schönsten Orten auf Erden! Bist du dort gewesen? Bist du in der Speisekammer gewesen, wo Käse auf den Brettern liegen und Schinken unter der Decke hängen, wo man auf Talglicht tanzt, mager hineingeht und fett herauskommt?“
„Das kenne ich nicht“, sagte der Baum; „aber den Wald kenne ich, wo die Sonne scheint und die Vögel singen!“ Und dann erzählte er alles aus seiner Jugend. Die kleinen Mäuse hatten früher nie dergleichen gehört, sie horchten auf und sagten: „Wie viel du gesehen hast! Wie glücklich du gewesen bist!“
„Ich?“ sagte der Tannenbaum und dachte über das, was er selbst erzählte, nach. „Ja, es waren im Grunde ganz fröhliche Zeiten!“ Aber dann erzählte er vom Weihnachtsabend, wo er mit Zuckerwerk und Lichtern geschmückt war.
„Oh“, sagten die kleinen Mäuse, „wie glücklich du gewesen bist, du alter Tannenbaum!“
„Ich bin gar nicht alt!“ sagte der Baum; „erst in diesem Winter bin ich aus dem Walde gekommen! Ich bin in meinem allerbesten Alter, ich bin nur so aufgeschossen.“
„Wie schön du erzählst!“ sagten die kleinen Mäuse, und in der nächsten Nacht kamen sie mit vier anderen kleinen Mäusen, die den Baum erzählen hören sollten, und je mehr er erzählte, desto deutlicher erinnerte er sich selbst an alles und dachte: Es waren doch ganz fröhliche Zeiten! Aber sie können wiederkommen, können wiederkommen! Klumpe-Dumpe fiel die Treppe hinunter und bekam doch die Prinzessin; vielleicht kann ich auch eine Prinzessin bekommen.“ Und dann dachte der Tannenbaum an eine kleine, niedliche Birke, die draußen im Walde wuchs; das war für den Tannenbaum eine wirkliche, schöne Prinzessin.
„Wer ist Klumpe-Dumpe?“ fragten die kleinen Mäuse. Da erzählte der Tannenbaum das ganze Märchen, er konnte sich jedes einzelnen Wortes entsinnen; die kleinen Mäuse sprangen aus reiner Freude bis an die Spitze des Baumes. In der folgenden Nacht kamen weit mehr Mäuse und am Sonntage sogar zwei Ratten, aber die meinten, die Geschichte sei nicht hübsch, und das betrübte die kleinen Mäuse, denn nun hielten sie auch weniger davon.
„Wissen Sie nur die eine Geschichte?“ fragten die Ratten.
„Nur die eine“, antwortete der Baum; „die hörte ich an meinem glücklichsten Abend, aber damals dachte ich nicht daran, wie glücklich ich war.“
„Das ist eine höchst jämmerliche Geschichte! Kennen Sie keine von Speck und Talglicht? Keine Speisekammergeschichte?“
„Nein!“ sagte der Baum.“ „Ja, dann danken wir dafür!“ erwiderten die Ratten und gingen zu den Ihrigen zurück.
Die kleinen Mäuse blieben zuletzt auch weg, und da seufzte der Baum: „Es war doch ganz hübsch, als sie um mich herumsaßen, die beweglichen kleinen Mäuse, und zuhörten, wie ich erzählte! Nun ist auch das vorbei! Aber ich werde gerne daran denken, wenn ich wieder hervorgenommen werde.“
Aber wann geschah das? Ja, es war eines Morgens, da kamen Leute und wirtschafteten auf dem Boden; die Kasten wurden weggesetzt, der Baum wurde hervorgezogen; sie warfen ihn freilich ziemlich hart gegen den Fußboden, aber ein Diener schleppte ihn gleich nach der Treppe hin, wo der Tag leuchtete.
„Nun beginnt das Leben wieder!“ dachte der Baum; er fühlte die frische Luft, die ersten Sonnenstrahlen, und nun war er draußen im Hofe. Alles ging geschwind, der Baum vergaß völlig, sich selbst zu betrachten, da war so vieles ringsumher zu sehen. Der Hof stieß an einen Garten, und alles blühte darin; die Rosen hingen frisch und duftend über das kleine Gitter hinaus, die Lindenbäume blühten, und die Schwalben flogen umher und sagten: „Quirrevirrevit, mein Mann ist kommen!“ Aber es war nicht der Tannenbaum, den sie meinten.
„Nun werde ich leben!“ jubelte der und breitete seine Zweige weit aus; aber ach, die waren alle vertrocknet und gelb; und er lag da zwischen Unkraut und Nesseln. Der Stern von Goldpapier saß noch oben in der Spitze und glänzte im hellen Sonnenschein.
Im Hofe selbst spielten ein paar der munteren Kinder, die zur Weihnachtszeit den Baum umtanzt hatten und so froh über ihn gewesen waren. Eins der kleinsten lief hin und riss den Goldstern ab.
„Sieh, was da noch an dem hässlichen, alten Tannenbaum sitzt!“ sagte es und trat auf die Zweige, so dass sie unter seinen Stiefeln knackten.
Der Baum sah auf all die Blumenpracht und Frische im Garten, er betrachtete sich selbst und wünschte, dass er in seinem dunklen Winkel auf dem Boden geblieben wäre; er gedachte seiner frischen Jugend im Walde, des lustigen Weihnachtsabends und der kleinen Mäuse, die so munter die Geschichte von Klumpe-Dumpe angehört hatten.
„Vorbei, vorbei!“ sagte der arme Baum. „Hätte ich mich doch gefreut, als ich es noch konnte! Vorbei, vorbei!“
Der Diener kam und hieb den Baum in kleine Stücke, ein ganzes Bund lag da; hell flackerte es auf unter dem großen Braukessel. Der Baum seufzte tief, und jeder Seufzer war einem kleinen Schusse gleich; deshalb liefen die Kinder, die da spielten, herbei und setzten sich vor das Feuer, blickten hinein und riefen: „Piff, paff!“ Aber bei jedem Knalle, der ein tiefer Seufzer war, dachte der Baum an einen Sommerabend im Walde oder an eine Winternacht da draußen, wenn die Sterne funkelten; er dachte an den Weihnachtsabend und an Klumpe-Dumpe, das einzige Märchen, das er gehört hatte und zu erzählen wusste – und dann war der Baum verbrannt.
Die Knaben spielten im Garten, und der kleinste hatte den Goldstern auf der Brust, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen hatte. Nun war der vorbei, und mit dem Baum war es vorbei und mit der Geschichte auch; vorbei, vorbei.
Und so geht es mit allen Geschichten!

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1844 zum ersten mal in dem Buch namens “ Neue Märchen, erzählt für Kinder. Erster Band. Zweite Sammlung.“

Däumelinchen

Original-Übersetzung

 

Es war einmal eine Frau, die sich sehr nach einem kleinen Kinde sehnte, aber sie wusste nicht, woher sie es nehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: „Ich möchte herzlich gern ein kleines Kind haben, willst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?“
„Ja, damit wollen wir schon fertig werden!“ sagte die Hexe. „Da hast du ein Gerstenkorn; das ist gar nicht von der Art, wie sie auf dem Felde des Landmanns wachsen oder wie sie die Hühner zu fressen bekommen; lege das in einen Blumentopf, so wirst du etwas zu sehen bekommen!“
„Ich danke dir!“ sagte die Frau und gab der Hexe fünf Groschen, ging dann nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs da eine herrliche, große Blume; sie sah aus wie eine Tulpe, aber die Blätter schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wären.
„Das ist eine niedliche Blume!“ sagte die Frau und küsste sie auf die roten und gelben Blätter, aber gerade wie sie darauf küsste, öffnete sich die Blume mit einem Knall. Es war eine wirkliche Tulpe, wie man nun sehen konnte, aber mitten in der Blume saß auf dem grünen Samengriffel ein ganz kleines Mädchen, fein und niedlich, es war nicht über einen Daumen breit und lang, deswegen wurde es Däumelinchen genannt.
Eine niedliche, lackierte Walnussschale bekam Däumelinchen zur Wiege, Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie bei Nacht, aber am Tage spielte sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Teller hingestellt, um den sie einen ganzen Kranz von Blumen gelegt hatte, deren Stängel im Wasser standen. Hier schwamm ein großes Tulpenblatt, und auf diesem konnte Däumelinchen sitzen und von der einen Seite des Tellers nach der anderen fahren; sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum Rudern. Das sah ganz allerliebst aus. Sie konnte auch singen, und so fein und niedlich, wie man es nie gehört hatte.
Einmal nachts, als sie in ihrem schönen Bette lag, kam eine Kröte durch eine zerbrochene Scheibe des Fensters hereingehüpft. Die Kröte war hässlich, groß und nass, sie hüpfte gerade auf den Tisch herunter, auf dem Däumelinchen lag und unter dem roten Rosenblatt schlief.
„Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!“ sagte die Kröte, und da nahm sie die Walnussschale, worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch die zerbrochene Scheibe fort, in den Garten hinunter.
Da floss ein großer, breiter Fluss; aber gerade am Ufer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war hässlich und garstig und glich ganz seiner Mutter. „Koax, koax, brekkerekekex!“ Das war alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Walnussschale erblickte.
„Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht sie!“ sagte die alte Kröte. „Sie könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie auf eins der breiten Seerosenblätter in den Fluss hinaussetzen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, gerade wie eine Insel; da kann sie nicht davonlaufen, während wir die Staatsstube unten unter dem Morast, wo ihr wohnen und hausen sollt, instand setzen.“
Draußen in dem Flusse wuchsen viele Seerosen mit den breiten, grünen Blättern, die aussehen, als schwämmen sie oben auf dem Wasser. Das am weitesten hinausliegende Blatt war auch das allergrößte; dahin schwamm die alte Kröte und setzte die Walnussschale mit Däumelinchen darauf.
Das kleine Wesen erwachte frühmorgens, und da es sah, wo es war, fing es recht bitterlich an zu weinen; denn es war Wasser zu allen Seiten des großen, grünen Blattes, und es konnte gar nicht an Land kommen.
Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf und gelben Blumen aus – es sollte da recht hübsch für die neue Schwiegertochter werden. Dann schwamm sie mit dem hässlichen Sohne zu dem Blatte, wo Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bett holen, das sollte in das Brautgemach gestellt werden, bevor sie es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte: „Hier siehst du meinen Sohn; er wird dein Mann sein, und ihr werdet recht prächtig unten im Morast wohnen!“
„Koax, koax, brekkerekekex!“ war alles, was der Sohn sagen konnte.
Dann nahmen sie das niedliche, kleine Bett und schwammen damit fort; aber Däumelinchen saß ganz allein und weinte auf dem grünen Blatte, denn sie mochte nicht bei der garstigen Kröte wohnen oder ihren hässlichen Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, die unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen, und sie hatten auch gehört, was sie gesagt hatte; deshalb streckten sie die Köpfe hervor, sie wollten doch das kleine Mädchen sehen. Sie fanden es sehr niedlich und bedauerten, dass es zur hässlichen Kröte hinunter sollte. Nein, das durfte nie geschehen! Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den grünen Stängel, der das Blatt hielt, nagten mit den Zähnen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Fluss hinab mit Däumelinchen davon, weit weg, wo die Kröte sie nicht erreichen konnte.
Däumelinchen segelte an vielen Städten vorbei, und die kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: „Welch liebliches, kleines Mädchen!“ Das Blatt schwamm mit ihr immer weiter und weiter fort; so reiste Däumelinchen außer Landes.
Ein niedlicher, weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ sich zuletzt auf das Blatt nieder, denn Däumelinchen gefiel ihm. Sie war sehr erfreut; denn nun konnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so schön, wo sie fuhr; die Sonne schien aufs Wasser, das wie lauteres Gold glänzte. Sie nahm ihren Gürtel, band das eine Ende um den Schmetterling, das andere Ende des Bandes befestigte sie am Blatte; das glitt nun viel schneller davon und sie mit, denn sie stand ja darauf.
Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblickte sie, schlug augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum. Das grüne Blatt schwamm den Fluss hinab und der Schmetterling mit, denn er war an das Blatt gebunden und konnte nicht loskommen.
Wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum flog! Aber hauptsächlich war sie des schönen, weißen Schmetterlings wegen betrübt, den sie an das Blatt festgebunden hatte. Wenn er sich nicht befreien konnte, musste er ja verhungern! Darum kümmerte sich der Maikäfer nicht. Er setzte sich mit ihr auf das größte grüne Blatt des Baumes, gab ihr das Süße der Blumen zu essen und sagte, dass sie niedlich sei, obgleich sie einem Maikäfer durchaus nicht gleiche. Später kamen alle die anderen Maikäfer, die im Baume wohnten, und besuchten sie; sie betrachteten Däumelinchen, und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und sagten: „Sie hat doch nicht mehr als zwei Beine; das sieht erbärmlich aus.“ – „Sie hat keine Fühlhörner!“ sagte eine andere. „Sie ist so schlank in der Mitte; pfui, sie sieht wie ein Mensch aus! Wie hässlich sie ist!“ sagten alle Maikäferinnen, und doch war Däumelinchen so niedlich. Das erkannte auch der Maikäfer, der sie geraubt hatte, aber als alle anderen sagten, sie sei hässlich, so glaubte er es zuletzt auch und wollte sie gar nicht haben; sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr den Baum hinab und setzten sie auf ein Gänseblümchen; da weinte sie, weil sie so hässlich sei, dass die Maikäfer sie nicht haben wollten, und doch war sie das Lieblichste, das man sich denken konnte, so fein und klar wie das schönste Rosenblatt.
Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelinchen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem Klettenblatte auf, so war sie vor dem Regen geschützt, sie pflückte das Süße der Blumen zur Speise und trank vom Tau, der jeden Morgen auf den Blättern lag. So vergingen Sommer und Herbst. Aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön vor ihr gesungen hatten, flogen davon, Bäume und Blumen verdorrten; das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen, und es blieb nichts als ein gelber, verwelkter Stängel zurück. Däumelinchen fror schrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei, und sie war selbst so fein und klein, sie musste erfrieren. Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine ganze Schaufel voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen halben Finger lang. Da hüllte sie sich in ein verdorrtes Blatt ein, aber das wollte nicht wärmen; sie zitterte vor Kälte.
Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld. Das Korn war schon lange abgeschnitten, nur die nackten, trockenen Stoppeln standen aus der gefrorenen Erde hervor. Sie waren gerade wie ein ganzer Wald für sie zu durchwandern, und sie zitterte vor Kälte! Da gelangte sie vor die Tür der Feldmaus, die ein kleines Loch unter den Kornstoppeln hatte. Da wohnte die Feldmaus warm und gut, hatte die ganze Stube voll Korn, eine herrliche Küche und Speisekammer. Das arme Däumelinchen stellte sich in die Tür, gerade wie jedes andere arme Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn sie hatte seit zwei Tagen nicht das mindeste zu essen gehabt.
„Du kleines Wesen!“ sagte die Feldmaus, denn im Grunde war es eine gute alte Feldmaus, „komm herein in meine warme Stube und iss mit mir!“
Da ihr nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: „Du kannst den Winter über bei mir bleiben, aber du musst meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen, denn die liebe ich sehr.“ Däumelinchen tat, was die gute alte Feldmaus verlangte, und hatte es über die lange Winterzeit hinweg außerordentlich gut.
„Nun werden wir bald Besuch erhalten!“ sagte die Feldmaus. „Mein Nachbar pflegt mich wöchentlich einmal zu besuchen. Er steht sich noch besser als ich, hat große Säle und trägt einen schönen, schwarzen Samtpelz! Wenn du den zum Manne bekommen könntest, so wärest du gut versorgt; aber er kann nicht sehen. Du musst ihm, wenn er unser Gast ist, die niedlichsten Geschichten erzählen, die du weißt!“
Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht, sie mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf.
Er kam und stattete den Besuch in seinem schwarzen Samtpelz ab. Er sei reich und gelehrt, sägte die Feldmaus; seine Wohnung war auch zwanzigmal größer als die der Feldmaus. Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die schönen Blumen mochte er gar nicht leiden, von beiden sprach er schlecht, denn er hatte sie noch nie gesehen.
Däumelinchen musste singen, und sie sang:
„Maikäfer flieg!“
und: „Wer will unter die Soldaten“.
Da wurde der Maulwurf der schönen Stimme wegen in sie verliebt, aber er sagte nichts, er war ein besonnener Mann.
Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang durch die Erde von seinem bis zu ihrem Hause gegraben; in diesem erhielten die Feldmaus und Däumelinchen die Erlaubnis, zu spazieren, soviel sie wollten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem toten Vogel zu fürchten, der in dem Gange liege. Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der sicher erst kürzlich gestorben und nun begraben war, gerade da, wo er seinen Gang gemacht hatte.
Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul, denn das schimmert ja wie Feuer im Dunkeln, ging voran und leuchtete ihnen in dem langen, dunklen Gange. Als sie dahin kamen, wo der tote Vogel lag, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, so dass es ein großes Loch gab und das Licht hindurchscheinen konnte. Mitten auf dem Fußboden lag eine tote Schwalbe, die schönen Flügel fest an die Seite gedrückt, die Füße und den Kopf unter die Federn gezogen; der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben. Das tat Däumelinchen leid, sie hielt viel von allen kleinen Vögeln, sie hatten ja den ganzen Sommer so schön vor ihr gesungen und gezwitschert. Aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und sagte: „Nun pfeift er nicht mehr! Es muss doch erbärmlich sein, als kleiner Vogel geboren zu werden! Gott sei Dank, dass keins von meinen Kindern das wird; ein solcher Vogel hat ja außer seinem Quivit nichts und muss im Winter verhungern!“
„Ja, das mögt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen“, erwiderte die Feldmaus. „Was hat der Vogel für all sein Quivit, wenn der Winter kommt? Er muss hungern und frieren; doch das soll wohl ganz besonders vornehm sein!“
Däumelinchen sagte gar nichts; aber als die beiden andern dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich herab, schob die Federn beiseite, die den Kopf bedeckten, und küsste ihn auf die geschlossenen Augen.
‚Vielleicht war er es, der so hübsch vor mir im Sommer sang‘, dachte sie. ‚Wie viel Freude hat er mir nicht gemacht, der liebe, schöne Vogel‘
Der Maulwurf stopfte nun das Loch zu, durch das der Tag hereinschien, und begleitete dann die Damen nach Hause. Aber nachts konnte Däumelinchen gar nicht schlafen. Da stand sie von ihrem Bette auf und flocht von Heu einen großen, schönen Teppich. Den trug sie zu dem Vogel, breitete ihn über ihn und legte weiche Baumwolle, die sie in der Stube der Feldmaus gefunden hatte, an seine Seiten, damit er in der kalten Erde warm liegen möge.
„Lebe wohl, du schöner, kleiner Vogel!“ sagte sie. „Lebe wohl und habe Dank für deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne warm auf uns herabschien!“ Dann legte sie ihr Haupt an des Vogels Brust, erschrak aber zugleich, denn es war gerade, als ob drinnen etwas klopfte. Das war des Vogels Herz. Der Vogel war nicht tot, er lag nur betäubt da, war nun erwärmt worden und bekam wieder Leben.
Im Herbst fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern fort; aber ist da eine, die sich verspätet, so friert sie so, dass sie wie tot niederfällt und liegen bleibt, wo sie hinfällt. Und der kalte Schnee bedeckt sie.
Däumelinchen zitterte heftig, so war sie erschrocken, denn der Vogel war ja groß, sehr groß gegen sie; aber sie fasste doch Mut, legte die Baumwolle dichter um die arme Schwalbe und holte ein Krauseminzeblatt, das sie selbst zum Deckblatt gehabt hatte, und legte es ganz behutsam über den Kopf des Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm, und da war er nun lebendig, aber ganz matt. Er konnte nur einen Augenblick seine Augen öffnen und Däumelinchen ansehen, die mit einem Stück faulen Holzes in der Hand, denn eine andere Laterne hatte sie nicht, vor ihm stand.
„Ich danke dir, du niedliches, kleines Kind!“ sagte die kranke Schwalbe zu ihr. „Ich bin herrlich erwärmt worden; bald erhalte ich meine Kräfte zurück und kann dann wieder draußen in dem warmen Sonnenschein herumfliegen!“
„Oh“, sagte Däumelinchen, „es ist kalt draußen, es schneit und friert! Bleib in deinem warmen Bette, ich werde dich schon pflegen!“
Dann brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt, und diese trank und erzählte ihr, wie sie ihren einen Flügel an einem Dornbusch gerissen und deshalb nicht so schnell habe fliegen können wie die andern Schwalben, die fortgezogen seien, weit fort nach den warmen Ländern. So sei sie zuletzt zur Erde gefallen. Mehr wusste sie nicht, und auch nicht, wie sie hierher gekommen war.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, Däumelinchen pflegte sie und hatte sie lieb, weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren etwas davon, denn sie mochten die arme Schwalbe nicht leiden.
Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe Däumelinchen, die das Loch öffnete, das der Maulwurf oben gemacht hatte, Lebewohl. Die Sonne schien herrlich zu ihnen herein, und die Schwalbe fragte, ob sie mitkommen wolle, sie könnte auf ihrem Rücken sitzen, sie wollten weit in den grünen Wald hineinfliegen. Aber Däumelinchen wusste, dass es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie sie verließ.
„Nein, ich kann nicht!“ sagte Däumelinchen.
„Lebe wohl, lebe wohl, du gutes, niedliches Mädchen!“ sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach, und das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie war der armen Schwalbe von Herzen gut.
„Quivit, quivit!“ sang der Vogel und flog in den grünen Wald. Däumelinchen war recht betrübt. Sie erhielt gar keine Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Felde über dem Hause der Feldmaus gesät war, wuchs auch hoch in die Luft empor; das war ein ganz dichter Wald für das arme, kleine Mädchen.
„Nun sollst du im Sommer deine Aussteuer nähen!“ sagte die Feldmaus zu ihr; denn der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen Samtpelze, hatte um sie gefreit. „Du musst sowohl Wollen- wie Leinenzeug haben, denn es darf dir an nichts fehlen, wenn du des Maulwurfs Frau wirst!“
Däumelinchen musste auf der Spindel spinnen, und die Feldmaus mietete vier Raupen, die Tag und Nacht für sie webten. Jeden Abend besuchte sie der Maulwurf und sprach dann immer davon, dass, wenn der Sommer zu Ende gehe, die Sonne lange nicht so warm scheinen werde, sie brenne da jetzt die Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Sommer vorbei sei, dann wolle er mit Däumelinchen Hochzeit halten. Aber sie war gar nicht erfreut darüber, denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht leiden. jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, stahl sie sich zur Tür hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren trennte, so dass sie den blauen Himmel erblicken konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen sei, und wünschte sehnlichst, die liebe Schwalbe wiederzusehen.
Aber die kam nicht wieder; sie war gewiss weit weg in den schönen grünen Wald gezogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer fertig.
„In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!“ sagte die Feldmaus. Aber Däumelinchen weinte und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben.
„Schnickschnack!“ sagte die Feldmaus. „Werde nicht widerspenstig, denn sonst werde ich dich mit meinen weißen Zähnen beißen! Es ist ja ein schöner Mann, den du bekommst, und das darfst du nicht vergessen. Die Königin selbst hat keinen solchen schwarzen Samtpelz! Er hat Küche und Keller voll. Danke du Gott für ihn!“
Nun sollten sie Hochzeit haben. Der Maulwurf war schon gekommen, Däumelinchen zu holen; sie sollte bei ihm wohnen, tief unter der Erde, nie an die warme Sonne herauskommen, denn die mochte er nicht leiden. Das arme Kind war sehr betrübt; sie sollte nun der schönen Sonne Lebewohl sagen, die sie doch bei der Feldmaus hatte von der Türe aus sehen dürfen.
„Lebe wohl, du helle Sonne!“ sagte sie, streckte die Arme hoch empor und ging auch eine kleine Strecke weiter vor dem Hause der Feldmaus; denn nun war das Korn geerntet, und hier standen nur die trockenen Stoppeln. „Lebe wohl, lebe wohl!“ sagte sie und schlang ihre Arme um eine kleine rote Blume, die da stand. „Grüße die kleine Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!“
„Quivit, quivit!“ ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe, sie sah empor, es war die kleine Schwalbe, die gerade vorbeikam. Sobald sie Däumelinchen erblickte, wurde sie sehr erfreut; diese erzählte ihr, wie ungern sie den hässlichen Maulwurf zum Manne haben wolle und dass sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo nie die Sonne scheine. Sie konnte sich nicht enthalten, dabei zu weinen.
„Nun kommt der kalte Winter“, sagte die kleine Schwalbe; „ich fliege weit fort nach den warmen Ländern, willst du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde dich nur mit deinem Gürtel fest, dann fliegen wir von dem hässlichen Maulwurf und seiner dunkeln Stube fort, weit über die Berge, nach den warmen Ländern, wo die Sonne schöner scheint als hier, wo es immer Sommer ist und herrliche Blumen gibt. Fliege nur mit, du liebes, kleines Däumelinchen, die mein Leben gerettet hat, als ich wie tot in dem dunkeln Erdkeller lag!“
„Ja, ich werde mit dir kommen!“ sagte Däumelinchen und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seinen entfalteten Schwingen. Sie band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und da flog die Schwalbe hoch in die Luft hinauf, über Wald und über See, hoch über die großen Berge, wo immer Schnee liegt. Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber darin verkroch sie sich unter des Vogels warme Federn und streckte nur den kleinen Kopf hervor, um all die Schönheiten unter sich zu bewundern.
Da kamen sie denn nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit klarer als hier, der Himmel war zweimal so hoch, und an Gräben und Hecken wuchsen die schönsten grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen, hier duftete es von Myrten und Krauseminze, auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen, bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch weiter fort, und es wurde schöner und schöner. Unter den herrlichsten grünen Bäumen an dem blauen See stand ein blendend weißes Marmorschloss aus alten Zeiten. Weinreben rankten sich um die hohen Säulen empor; ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einem wohnte die Schwalbe, die Däumelinchen trug.
„Hier ist mein Haus!“ sagte die Schwalbe. „Aber willst du dir nun selbst eine der prächtigsten Blumen, die da unten wachsen, aussuchen, dann will ich dich hineinsetzen, und du sollst es so gut und schön haben, wie du es nur wünschest!“
„Das ist herrlich!“ sagte Däumelinchen und klatschte erfreut in die kleinen Hände.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, die zu Boden gefallen und in drei Stücke gesprungen war, aber zwischen diesen wuchsen die schönsten großen, weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wie erstaunte diese! Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas; die niedlichste Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herrlichsten, klaren Flügel an den Schultern, er selbst war nicht größer als Däumelinchen. Es war der Blumenelf. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, aber dieser war der König – über alle.
„Gott, wie ist er schön!“ flüsterte Däumelinchen der Schwalbe zu. Der kleine Prinz erschrak sehr über die Schwalbe, denn sie war gegen ihn, der so klein und fein war, ein Riesenvogel; aber als er Däumelinchen erblickte, wurde er hocherfreut; sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Deswegen nahm er seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie heiße und ob sie seine Frau werden wolle, dann solle sie Königin über alle Blumen werden! Ja, das war wahrlich ein anderer Mann als der Sohn der Kröte und der Maulwurf mit dem schwarzen Samtpelze. Sie sagte deshalb ja zu dem herrlichen Prinzen, und von jeder Blume kam eine Dame oder ein Herr, so niedlich, dass es eine Lust war; jeder brachte Däumelinchen ein Geschenk, aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einer großen, weißen Fliege; sie wurden Däumelinchen am Rücken befestigt, und nun konnte sie auch von Blume zu Blume fliegen. Da gab es viel Freude, und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang ihnen vor, so gut sie konnte; aber im Herzen war sie doch betrübt, denn sie war Däumelinchen gut und wäre gerne immer mit ihr zusammen geblieben. Am liebsten hätte sie sich daher nie von ihr trennen mögen.
„Du sollst nicht Däumelinchen heißen!“ sagte der Blumenelf zu ihr. „Das ist ein hässlicher Name, und du bist schön. Wir wollen dich von nun an Maja nennen.“
„Lebe wohl, lebe wohl!“ sagte die kleine Schwalbe und flog wieder fort von den warmen Ländern, weit weg, nach Deutschland zurück; dort hatte sie ein kleines Nest über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann, vor ihm sang sie „Quivit, quivit!“ Daher wissen wir die ganze Geschichte.

Über diese Märchen

Dieses Märchen wurde 1835 zum ersten mal in dem Buch namens „Märchen, erzählt für Kinder. Erste Sammlung. Zweite Hefte.“ von Andersen veröffentlicht.
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