Original-Übersetzung
Du kennst doch die Geschichte von Holger Danske; wir wollen sie Dir nicht erzählen, nur fragen, ob Du Dich noch erinnerst, dass „Holger Danske das große Land Indien nach Osten zu am Ende der Welt gewann bis zu dem Baume, der der Baum der Sonne genannte wird,“ wie Christian Pedersen es erzählte. Kennst Du Christian Pedersen? Es kommt auch nicht darauf an, dass Du ihn kennst. Holger Danske gab dort dem Priester Jon, Macht und Herrscherwürde über das ganze Land Indien. Kennst Du den Priester Jon? Ja, darauf kommt es auch nicht viel an, denn er kommt in dieser Geschichte gar nicht vor. Hier sollst Du von dem Baum der Sonne hören „im Lande Indien nach Osten zu am Ende der Welt“, wie man einst glaubte, als man noch nicht Geographie gelernt hatte, wie wir es heute lernen. Aber darauf kommt es auch nicht an.
Der Baum der Sonne war ein prächtiger Baum, wie wir nie einen gesehen haben und auch Du nie einen zu sehen bekommen wirst. Seine Krone erstreckte sich mehrere Meilen weit in der Runde, er bildete eigentlich einen ganzen Wald, und jeder seiner kleinsten Zweige war wieder ein ganzer Baum; Palmen, Buchen, Pinien und Platanen, alle Arten von Bäumen, die sich in der ganzen Welt finden, trieben hier als kleine Zweige aus den größeren Zweigen hervor, und diese selbst glichen mit ihren Knoten und Krümmungen Tälern und Höhen. Sie waren mit einem samtweichen Grün bekleidet, das von Blumen wimmelte. Jeder Zweig war wie eine ausgedehnte, blühende Wiese oder der lieblichste Garten. Die Sonne sandte ihm liebreich Ihre wohltuendsten Strahlen herab, denn es war ja der Baum der Sonne. Die Vögel von allen Enden der Welt versammelten sich hier, Vögel aus den fernen Urwäldern Amerikas, aus Damaskus, Rosengärten, aus den waldigen Wüsten des inneren Afrika, wo Elefant und Löwe, allein zu regieren vermeinen. Der Polarvogel kommt, und Storch und Schwalbe natürlich auch. Aber die Vögel waren nicht die einzigen lebenden Geschöpfe, die hierher kamen. Der Hirsch, das Eichhörnchen, die Antilope und Hunderte von anderen Tieren, flüchtig und schön, waren hier zu Hause. Ein großer, duftender Garten war ja des Baumes Krone, und innen, wo sich die allergrößten Zweige wie grüne Höhen empor streckten, lag ein kristallenes Schloss mit einer Aussicht auf alle Länder der Welt. Jeder Turm hob sich liliengleich, durch den Stängel konnte man emporsteigen, denn es waren Treppen darin. Da kannst Du es wohl auch verstehen, dass man auf die Blätter hinaus treten konnte, die Altane bildeten, und oben, in der Blume selbst, war der herrlichste, strahlendste Festsaal, der als Dach nichts anderes als den blauen Himmel mit Sonne und Sternen hatte. Ebenso herrlich, nur auf eine andere Weise, waren die weitläufigen Säle. Hier spiegelte sich an den Wänden ringsum die ganze Welt ab. Man konnte alles dort sehen, was geschah, so dass man keine Zeitungen zu lesen brauchte, die gab es hier auch nicht. Alles war hier in lebenden Bildern zu sehen, man konnte und mochte es nur nicht alles ansehen, denn zuviel ist zuviel, selbst für den weisesten Mann, und hier wohnte der weiseste Mann. Sein Name ist so schwer auszusprechen, Du könntest ihn doch nicht aussprechen, und deshalb kann er Dir gleichgültig sein. Er wusste alles, was ein Mensch wissen kann und je auf dieser Welt wissen wird; jede Erfindung, die gemacht worden war oder noch gemacht werden sollte, kannte er, aber auch nicht mehr, denn alles hat ja seine Grenzen. Der weise König Salomo war nur halb so klug, und der war doch ein recht kluger Mann; er herrschte über die Kräfte der Natur, über mächtige Geister, ja, der Tod selbst musste ihm jeden Morgen Botschaft bringen und die Liste derer, die an diesem Tage sterben sollten. Aber König Salomo selbst musste auch sterben, und das war der Gedanke, der oft seltsam lebhaft den Forscher, den mächtigen Herrn in dem Schlosse auf dem Baume der Sonne erfüllte. Auch er, der so hoch über der Weisheit der Menschen stand, musste einst sterben, das wusste er, und auch seine Kinder mussten sterben. Wie des Waldes Laub würden sie fallen und zu Staub werden. Das Menschengeschlecht sah er vergehen, wie die Blätter vom Baume wehen, und neue kamen an deren Stelle. Aber die abgefallenen Blätter wuchsen niemals wieder, sie wurden zu Staub oder gingen in andere Pflanzen über. Was geschah mit den Menschen, wenn der Engel des Todes zu ihnen kam. Was hieß es, zu sterben? Der Körper löste sich auf und die Seele – Ja, was wurde aus ihr? Wohin ging sie? „Zum ewigen Leben!“ sagt die Religion zum Troste. Aber wie war der Übergang? Wo lebte man und wie? „Oben im Himmel.“ sagten die Frommen. „Dort hinauf gehen wir.“ – „Dort hinauf“ wiederholte der Weise und sah zu Sonne und Sternen empor. „Dort hinauf!“ und er sah aus der runden Erdkugel, dass oben und unten ein und dasselbe waren, je nachdem, wo man auf der schwebenden Kugel stand; stieg er hinauf, so hoch wie der Erde höchste Berge ihre Gipfel erheben, so wurde die Luft, die wir hier unten klar und durchsichtig nennen, zu einem kohlschwarzen Dunkel, dicht wie ein Tuch; die Sonne war wie ein glühender Ball ohne Strahlen anzusehen, und die Erde lag von orangefarbenen Nebeln verhüllt. Hier lag die Grenze für unser körperliches und seelisches Sehvermögen; wie gering ist unser Wissen, selbst der Weiseste wusste nur wenig von dem, was für uns das Wichtigste ist!
In der Geheimkammer des Schlosses lag der Erde größter Schatz: „Das Buch der Wahrheit“. Blatt für Blatt las er es. Das war ein Buch, in dem jedweder Mensch zu lesen vermag, aber nur stückweise. Für manches Auge zittert die Schrift, so dass es nicht möglich ist, die Buchstaben zu entziffern. Auf einzelnen Blättern verblasst Schrift und verschwindet fast, so dass man ein leeres Blatt zu sehen vermeint. Je weiser man ist, desto mehr kann man lesen, und der Weiseste liest das Allermeiste. Der Weise wusste das Licht der Sterne, der Sonne, der verborgenen Kräfte und des Geistes zu sammeln. Im Glanze dieses verstärkten Lichtscheins trat bei ihm noch mehr von der Schrift hervor, jedoch bei dem Abschnitt des Buches: „Das Leben nach dem Tode“ war auch nicht ein Tippfelchen mehr zu sehen. Das betrübte ihn; – sollte es keine Macht geben, die ihn hier auf Erden ein Licht finden hieße, bei dessen Scheine sichtbar wurde, was hier im Buche der Wahrheit stand?
Wie der weise König Salomo verstand er die Sprache der Tiere, er hörte ihre Gesänge und Gespräche, aber dadurch wurde er nach jener Richtung nicht klüger. Er erkundete die geheimen Kräfte der Pflanzen und Metalle, kannte die Kräfte, um Krankheiten zu vertreiben, um den Tod fernzuhalten, aber kein Mittel, um ihn zu vernichten. In allem Erschaffenen, das ihm erreichbar war, suchte er nach dem Lichte, das die Vergewisserung eines ewigen Lebens beleuchtete, aber er fand es nicht; das Buch der Wahrheit lag wie mit unbeschriebenen Blättern vor ihm. Das Christentum verwies ihn auf der Bibel Vertröstung auf ein ewiges Leben, aber er wollte es in seinem Buche lesen, und darin sah er nichts.
Fünf Kinder hatte er, vier Söhne, klug belehrt, wie nur der weiseste Vater seine Kinder belehren kann, und eine Tochter, schön, sanft und klug, aber blind, doch es schien für sie keinen Verlust zu bedeuten. Der Vater und die Brüder waren ihre Augen, und ein inneres Gefühl ließ sie die Dinge recht erkennen.
Nie hatten sich die Söhne weiter vom Schlosse entfernt, als die Zweige des Baumes sich erstreckten, die Schwester noch weniger; sie waren glückliche Kinder in der Kindheit Heim, in der Kindheit Land, im herrlichen, duftenden Baume der Sonne. Wie alle Kinder hörten sie gerne erzählen, und der Vater erzählte ihnen vieles, was andere Kinder nicht verstanden haben würden, aber diese Kinder waren so klug wie bei uns die alten Menschen es sind. Er erklärte ihnen, was sie als lebende Bilder an den Wänden des Schlosses sahen, der Menschen Tun und der Begebenheiten Gang in allen Ländern der Erde, und oft wünschten die Söhne, mit dort draußen zu sein und an all den Heldentaten teilzunehmen. Da sagte ihnen der Vater, dass es schwer und bitter sei, in der Welt zu leben, sie wäre nicht ganz so licht, wie sie es von ihrer herrlichen Kinderwelt aus sähen. Er sprach zu ihnen von dem Schönen, dem Wahren und dem Guten, sagte ihnen, dass diese drei Dinge die Welt zusammenhielten, und unter dem Druck, den sie erlitten, entstünde ein Edelstein, klarer als der Diamanten Wasser; sein Glanz habe Wert sogar vor Gott, alles überstrahle er, und er sei es, den man „den Stein der Weisen“ nenne. Er sagte ihnen, dass man, eben wie man durch das Erschaffene zu der Erkenntnis Gottes, so durch die Menschen selbst zur Erkenntnis gelange, dass ein solcher Edelstein sich finden müsse. Mehr konnte er darüber nicht sagen, mehr wusste er nicht. Diese Erzählung wäre nun für andere Kinder schwer zu begreifen gewesen, aber diese Kinder verstanden sie, und später wird das Verständnis wohl auch für die anderen kommen.
Sie befragten den Vater nach dem Schönen, Wahren und Guten, und er erklärte es ihnen; vieles sagte er ihnen, sagte ihnen auch, dass Gott, als er den Menschen aus Erde erschuf, seinem Geschöpfe fünf Küsse, Feuerküsse, Herzensküsse, innige Gottesküsse gab, und diese gaben ihm das, was wir jetzt die fünf Sinne nennen. Durch sie wird das Schöne, Wahre und Gute sichtbar, fühlbar und erkennbar, durch sie wird es geschätzt, beschirmt und gefördert.
Darüber dachten die Kinder nun viel nach, Tag und Nacht beschäftigte es ihre Gedanken; da träumte der älteste der Brüder einen herrlichen Traum, und seltsam genug, der zweite Bruder träumte ihn auch, und der dritte träumte ihn und der vierte. Jeder von ihnen träumte ein und dasselbe. Er träumte, dass er in die Welt zöge und den Stein der Weisen fände. Wie eine leuchtende Flamme erstrahlte er auf seiner Stirn, als er im Morgenschimmer auf seinem pfeilschnellen Ross zurück über die samtgrünen Wiesen im Garten der Heimat zu seinem väterlichen Schlosse ritt, und der Edelstein werfe ein so himmlisches Licht, einen solchen Glanz über die Blätter des Buches, dass sichtbar wurde, was dort geschrieben stand über das Leben jenseits des Grabes. Die Schwester träumte nicht davon. In die weite Welt hinaus zu ziehen, kam ihr nicht in den Sinn, ihre Welt war ihres Vaters Haus.
„Ich reite in die weite Welt hinaus!“ sagte der Älteste; „erproben muss ich doch einmal ihren Gang und mich zwischen den Menschen umhertummeln; nur das Gute und Wahre will ich, mit diesem werde ich das Schöne beschützen. Vieles soll anders werden, wenn ich mich seiner annehme!“ Ja, er dachte kühn und groß, wie wir alle es in unserer Ofenecke tun, ehe wir in die Welt hinauskommen und Regen und Sturm und Dornen zu fühlen bekommen.
Die fünf Sinne waren innerlich und äußerlich, bei ihm wie auch bei den anderen Brüdern, außergewöhnlich fein entwickelt, aber jeder von ihnen hatte in Sonderheit einen Sinn, der in Stärke und Entwicklung die anderen weit übertraf. Bei dem Ältesten war es das Gesicht, das ihm besonders zugute kommen sollte. Er hatte Augen für alle Zeiten, sagte er selbst, Augen für alle Völkerschaften, Augen, die bis unter die Erde hinab, wo die Schätze lagen, und bis in die tiefste Tiefe der Menschenbrust sehen konnten, als sei nur eine gläserne Scheibe darüber – das heißt, er sah mehr, als wir beim Erröten und Erbleichen der Wange, im Lächeln und Weinen des Auges sehen können. – Hirsch und Antilope begleiteten ihn bis an die Grenze nach Westen, dort kamen wilde Schwäne, die nach Nordwesten flogen, und ihnen folgte er. Nun war er in der weiten Welt, fern dem Lande des Vaters, das sich „gegen Osten am Ende der Welt“ erstreckte.
Hei, wie er die Augen aufriss. Da gab es vieles zu sehen; es ist immer etwas anderes, die Orte und Dinge selbst zu sehen, als sie in Bildern zu erfassen, mögen diese auch noch so gut sein, und sie waren außergewöhnlich gut, die Bilder daheim in seines Vaters Schloss. Er war nahe daran, gleich im ersten Augenblick beide Augen vor Verwunderung über all das Gerümpel, den Fastnachtsaufputz, der als das Schöne hingestellt wurde, zu verlieren, aber er verlor sie nicht, er hatte eine andere Bestimmung für sie.
Gründlich und ehrlich wollte er bei der Erkenntnis des Schönen, des Wahren und des Guten zu Werke gehen; aber wie stand es damit? Er sah, wie oft das Hässliche die Krone errang, wo das Schöne sie verdiente, wie das Gute nicht bemerkt wurde und die Mittelmäßigkeit an seiner Stelle die Bewunderung einheimste. Die Leute sahen wohl die Verpackung, aber nicht den Inhalt, sahen das Kleid, aber nicht den Mann, sahen den Ruf, aber nicht die Berufung. Aber das ist einmal so.
„Da werde ich wohl tüchtig zupacken müssen!“ dachte er, und er packte zu. Aber während er das Wahre suchte, kam der Teufel, der Vater der Lüge und die Lüge selbst. Gern hätte er dem Seher gleich beide Augen ausgeschlagen, aber das wäre zu grob gewesen; der Teufel geht feiner zu Werke. Er ließ ihn das Wahre suchen und das Gute zugleich, aber während er sich danach umblickte, blies ihm der Teufel einen Splitter ins Auge, ja in beide Augen, einen Splitter nach dem anderen; das ist nicht gut für das Gesicht, selbst nicht für das beste Gesicht. Dann blies der Teufel die Splitter auf, bis sie zu einem Balken wurden, da war es mit den Augen vorbei, und der Seher stand gleich einem blinden Manne mitten in der weiten Welt und traute ihr nicht mehr. Er gab seine gute Meinung über sie und sich selbst auf, und wenn man beides, die Welt und sich selbst aufgibt, ja, dann ist es wirklich mit einem vorbei.
„Vorbeil“ sagten die wilden Schwäne, die über das Meer hin nach Osten zu flogen; „Vorbeil“ sangen die Schwalben, die gen Osten zum Baume der Sonne flogen, und das waren keine guten Nachrichten für die daheim.
„Wohl ist es dem Seher übel ergangen!“ sagte der zweite Bruder, „doch kann es dem Hörer besser ergehen“ Der Gehörsinn war es, der bei ihm besonders geschärft war, er konnte das Gras wachsen hören, so weit hatte er es gebracht.
Herzlich nahm er Abschied und ritt von dannen mit guten Gaben und guten Vorsätzen. Die Schwalben begleiteten ihn, und er folgte den Schwänen, und dann war er fern von der Heimat draußen in der weiten Welt.
Man kann auch des guten zuviel bekommen; diese Wahrheit musste er bald erfahren. Das Gehör war bei ihm zu stark, er hörte ja das Gras wachsen, und deshalb hörte er auch jedes Menschenherz in Freude und Schmerz schlagen; zuletzt war ihm, als sei die ganze Welt eine große Uhrmacherwerkstatt, wo alle Uhren gingen „Tik tik“ und alle Turmuhren schlugen „Kling, klang!“ nein, das war nicht auszuhalten! Aber er hielt die Ohren steif, so lange er konnte. Doch zuletzt wurde all der Lärm und das Geschrei zuviel für einen einzigen Menschen. Da gab es Straßenjungen bis zu sechzig Jahren, das Alter tut es ja nicht immer; sie schrieen und lärmten, darüber konnte man noch lachen, aber dann kamen Klatsch und Tratsch, die durch alle Häuser, Gässchen und Straßen bis auf die Landstraßen hinaus zischelten; die Lüge hatte die lauteste Stimme und spielte den Herrn, die Narrenschelle klingelte und sagte, dass sie die Kirchenglocke sei, da wurde es dem Hörer zu bunt, er steckte die Finger in beide Ohren, – aber noch immer hörte er falschen Gesang und bösen Klang. Klatsch und Tratsch; zäh festgehaltene Behauptungen, die nicht einen sauren Hering wert waren, schwirrten über die Zungen, dass sie ordentlich knickten und knackten vor lauter Eifer. Da waren Leute und Geräusche, Lärm und donnernder Spektakel, innerlich und äußerlich, bewahre das war ja nicht zum Aushalten, es war gar zu toll! Er steckte die Finger tiefer in seine beiden Ohren und noch tiefer, da sprang ihm das Trommelfell. Nun hörte er gar nichts mehr, auch nicht das Schöne, Wahre und Gute, zu dem ihm das Gehör eine Brücke hatte sein sollen. Er wurde misstrauisch und still, traute niemandem, traute sich selbst zuletzt nicht mehr, und das machte ihn sehr unglücklich; er wollte nicht mehr den mächtigen Edelstein finden und mit heimbringen, er gab das Suchen danach auf, und sich selbst gab er auch auf, das war das Allerschlimmste. Die Vögel, die nach Osten flogen, brachten die Botschaft davon mit, bis sie auch das Schloss des Vaters im Baume der Sonne erreichte. Ein Brief kam nicht, es ging ja auch keine Post dorthin.
„Nun will ich es versuchen!“ sagte der Dritte, „ich habe eine feine Nase!“ Das war nun nicht gerade fein gesagt, aber es war seine Art, und man muss ihn hinnehmen, wie er war. Er war die Verkörperung der guten Laune und dazu ein Dichter, ein wirklicher Dichter; er konnte singen, was er nicht zu sagen vermochte. Seine Auffassungsgabe überstieg die der anderen an Schnelligkeit bei weitem. „Ich rieche Lunte“ sagte er wohl bei Gelegenheit, und es war der Geruchssinn, der bei ihm in hohem Grade entwickelt war und ihm ein großes Gebiet im Reiche des Schönen zusicherte. „Einer liebt den Äpfelduft und einer den Stallduft!“ sagte er. „Jedes Duftgebiet im Reiche des Schönen hat sein Publikum. Manche fühlen sich heimisch in der Kneipenluft beim Qualm des Talglichtdochtes, wo der Schnapsgestank sich mit schlechtem Tabaksrauch vermengt, andere sitzen lieber im schwülen Jasminduft oder reiben sich mit starkem Nelkenöl ein. Einige suchen die frische Seebrise auf, andere wieder steigen zu den hohen Bergesgipfeln hinauf und betrachten von oben das geschäftige Leben und Treiben der anderen!“ Ja, so sagte er. Es war fast, als sei er schon früher in der Welt draußen gewesen, hätte mit den Menschen gelebt und sie erkannt, aber diese Weisheit kam aus ihm selbst, es war die dichterische Gabe in ihm, die ihm der liebe Gott als Geschenk in die Wiege gelegt hatte.
Nun sagte er dem väterlichen Heim im Baume Lebewohl und ging durch des Baumes Herrlichkeit. Draußen setzte er sich auf den Strauß, der geschwinder läuft als das Pferd, und als er später die wilden Schwäne sah, schwang er sich auf den Rücken des stärksten. Er liebte die Veränderung, und so flog er über das Meer in fremde Länder mit großen Wäldern, tiefen Seen, mächtigen Bergen und stolzen Städten, und wohin er kam war es, als ginge ein Sonnenschein über das Land. Jede Blume, jeder Strauch duftete stärker in der Empfindung, dass ihm ein Freund, ein Beschützer nahe, der ihn zu schätzen wusste und ihn verstand, ja, der verkrüppelte Rosenstrauch erhob seine Zweige, entfaltete seine Blätter und trug die lieblichste Rose; jeder konnte sie sehen, selbst die schwarze, nasse Waldschnecke bemerkte ihre Schönheit.
„Ich will der Blume mein Zeichen aufprägen!“ sagte die Schnecke, „nun habe ich sie bespuckt, mehr kann ich nicht tun.“
„So geht es mit dem Schönen in der Welt“ sagte der Dichter, und er sang ein Lied davon, sang es auf seine Weise, aber niemand hörte darauf. Deshalb gab er dem Trommelschläger zwei Schillinge und eine Pfauenfeder; da setzte er das Lied für die Trommel um und trommelte es in der Stadt in allen Straßen und Gassen aus. Nun hörten es die Leute und sagten, sie verstünden es, es sei so tief! Und nun konnte der Dichter mehr Lieder singen, und er sang von dem Schönen, dem Wahren und dem Guten, und es wurde in der Kneipe gehört, wo das Talglicht qualmte, es wurde auf der frischen Kleewiese im Walde und auf offener See gehört. Es ließ sich an, als habe dieser Bruder mehr Glück, als die beiden anderen es gehabt hatten. Aber das war dem Teufel nicht recht. Gleich kam er daher mit allen Arten der Beweihräucherung, die sich auf der Welt finden und auf deren Bereitung sich der Teufel so vorzüglich versteht. Den allerstärksten Weihrauch schleppte er herbei, der alles andere erstickt und selbst einen Engel konfus machen kann, geschweige denn einen armen Dichter. Der Teufel weiß recht gut, wie er seine Leute zu nehmen hat. Den Dichter nahm er mit Weihrauch, so dass er ganz aus dem Häuschen war, und seine Sendung, sein Vaterhaus – alles, sogar sich selbst vergaß. Er ging völlig auf in all dem Räucherwerk.
Alle Vögelchen trauerten, als sie es hörten, und sangen drei Tage lang nicht. Die schwarze Waldschnecke wurde noch schwärzer, aber nicht vor Trauer, sondern vor Neid. „Ich bin es,“ sagte sie, „die beräuchert werden sollte, denn ich war es, die ihm die Idee zu seinem berühmtesten Lied, der Gang der Welt, das für die Trommel gesetzt wurde, gab. Ich war es, die auf die Rose spuckte, dafür kann ich Zeugen bringen!“
Aber daheim in Indien verlautete nichts davon. Alle Vögelchen trauerten ja und schwiegen drei Tage lang, und als die Trauerzeit um war, ja, da war die Trauer so stark gewesen, dass sie vergessen hatten, um was sie trauerten. So geht es.
„Nun muss ich wohl auch in die Welt hinaus und fortbleiben wie die anderen“ sagte der vierte Bruder. Er hatte eine ebenso sonnige Laune wie der vorhergehende Bruder, aber er war kein Dichter, und so hatte er allen Grund zu guter Laune. Die beiden hatten Fröhlichkeit ins Schloss gebracht. Nun ging die letzte Munterkeit mit ihm hinaus. Das Gesicht und das Gehör sind stets von den Menschen als die wichtigsten Sinne angesehen worden, die man sich besonders stark und scharf wünscht, die drei anderen Sinne werden für minder wesentlich gehalten. Doch das war durchaus nicht die Meinung dieses Sohnes, denn er hatte einen besonders entwickelten Geschmack, und zwar in jeder Richtung, in der dieser Begriff aufgefasst werden kann, und dieser hat gewaltige Macht und große Herrschermöglichkeiten, er regiert über alles, was durch den Mund und Geist geht. Deshalb kostete der vierte Bruder an allem in Pfannen und Töpfen, in Flaschen und Schüsseln. Das wäre das Grobe in seinem Berufe, sagte er; jedes Menschen Stirn wäre für ihn eine Pfanne, in der es koche, jedes Land eine ungeheure Küche, geistig genommen; das wäre das Feine und nun wolle er hinaus und das Feine erproben.
„Vielleicht will mir das Glück besser, als meinen Brüdern!“ sagte er. „Ich reise nun; aber welches Beförderungsmittel soll ich wählen? Sind die Luftballons schon entdeckt?“ fragte er seinen Vater, der ja von allen Erfindungen wusste, die gemacht waren oder gemacht werden würden. Aber der Luftballon war noch nicht entdeckt, auch nicht die Dampfschiffe und Eisenbahnen. „Ja, dann werde ich doch einen Luftballon nehmen!“ sagte er. „Mein Vater weiß, wie sie gemacht und gelenkt werden müssen, und ich lerne es. Niemand kennt die Erfindung und so werden sie glauben, es sei ein Trugbild. Wenn ich den Ballon benutzt habe, verbrenne ich ihn, wozu Du mir noch ein paar von der zukünftigen Erfindung mitgeben musst, die „chemische Schwefelhölzer“ genannt wird.“
Dies alles bekam er, und dann flog er davon. Die Vögel folgten ihm länger, als sie den anderen gefolgt waren, denn sie wollten doch gern sehen, wie dieser Flug ablief. Immer mehr kamen herbei, alle waren neugierig und glaubten, es sei ein neuer Vogel, der dort flöge. Ja, er bekam ein stattliches Gefolge. Die Luft wurde schwarz von Vogelscharen, sie flogen einher wie eine große Wolke, wie die Heuschreckenschwärme über Ägypten, und dann war er in der weiten Welt draußen.
„Ich habe einen guten Freund und Gehilfen an dem Ostwind gehabt!“ sagte er.
„Ostwind und Westwind, meinst Du wohl“ sagten die Winde. „Wir sind zu zweit gewesen, um uns abzulösen, sonst wärest Du nicht nach Nordwesten gekommen.“
Aber er hörte nicht, was die Winde sagten, und das war ja auch gleichgültig. Die Vögel kamen nun auch nicht länger mit. Als das Gefolge am größten geworden war, wurde einigen die Fahrt über, und sie sagten, es würde zuviel aus der Sache gemacht, sie würde noch ganz eingebildet werden. „Es lohnt das Hinterherfliegen nicht, es ist im Grunde gar nichts, jedenfalls nicht der Rede wert.“ Dann blieben sie zurück, und das blieben nach und nach die anderen auch. Das Ganze war ja nichts.
Der Luftballon ging über einer der größten Städte nieder und der Luftschiffer setzte sich an den höchsten Platz, das war der Kirchturm. Der Ballon stieg wieder himmelwärts, was er nicht sollte. Wo er geblieben ist, ist nicht gut zu sagen, aber das war auch gleich, denn er war ja noch nicht erfunden.
Da saß er nun oben auf dem Kirchturm. Die Vögel flogen nicht zu ihm heran, denn sie hatten es über mit ihm und er mit ihnen ebenfalls. Alle Schornsteine in der Stadt rauchten und dufteten.
„Es sind Altäre, die für Dich errichtet sind“ sagte der Wind, der ihm etwas Angenehmes sagen wollte.
Keck saß er dort oben und sah auf die Leute in den Straßen hinab; der eine war stolz auf seinen Geldbeutel, der andere auf seinen Schlüssel, obgleich er nichts aufzuschließen hatte. Einer war stolz auf seinen Rock, in dem die Motten saßen, ein anderer auf seinen Leib, an dem schon die Würmer nagten.
„Eitelkeit, ja, ich muss wohl bald hinunter und den Topf anrühren und kosten!“ sagte er. „Aber hier will ich noch ein wenig sitzen bleiben, der Wind kitzelt mir so herrlich den Rücken, mir ist richtig behaglich zumute. Ich bleibe hier so lange sitzen, wie der Wind bläst. Ich will ein wenig Ruhe haben. Es ist gut, am Morgen lange liegen zu bleiben, wenn man viel zu tun hat, sagt der Faule. Aber Faulheit ist die Wurzel alles Übels, und Übles gibt es in unserer Familie nicht. Das sage ich und das sagt wohl jeder Sohn. Ich bleibe sitzen, solange dieser Wind bläst, es schmeckt mir.“
Und er blieb sitzen; aber er saß auf des Turmes Wetterhahn, der drehte und drehte sich mit ihm, sodass er glaubte, es sei noch immer derselbe Wind. Also blieb er sitzen, und da konnte er lange sitzen und schmecken!
Aber im Lande Indien auf dem Baum der Sonne war es leer und stille geworden, als die Brüder einer nach dem anderen fortgezogen waren.
„Es geht ihnen nicht gut“ sagte der Vater; „nie werden sie den leuchtenden Edelstein heimbringen, er wird für mich nie gefunden, und sie sind fort, tot.“ Und er beugte sich über das Buch der Wahrheit, starrte auf das Blatt, wo er über das Leben nach dem Tode lesen sollte, aber dort war für ihn nichts zu sehen und zu erfahren.
Die blinde Tochter war sein Trost und seine Freude; so innig und liebevoll schloss sie sich ihm an; denn seine Freude und sein Glück wünschte sie, das köstliche Juwel musste gefunden und heimgebracht werden. In Trauer und Sehnsucht gedachte sie der Brüder. Wo waren sie? Wo lebten sie? Von ganzem Herzen wünschte sie sich, von ihnen zu träumen, aber wunderlich genug, selbst im Traume konnte sie ihnen nicht begegnen. Endlich träumte ihr eines Nachts, dass ihre Stimmen bis zu ihr herüber klängen, sie riefen ihr zu, flehten zu ihr aus der weiten Welt, und sie musste hinaus, weit fort, und doch schien es ihr, als sei sie noch in ihres Vaters Hause. Die Brüder traf sie nicht, aber in ihrer Hand fühlte sie es wie Feuer brennen, doch es schmerzte nicht; sie hielt den leuchtenden Edelstein und brachte ihn ihrem Vater. Als sie erwachte, glaubte sie einen Augenblick lang dass sie ihn noch hielte; es war ihr Rocken, den ihre Hand krampfhaft umklammerte. In den langen Nächten hatte sie unablässig gesponnen; der Faden auf ihrer Spindel war feiner, als das Gewebe der Spinne, Menschenaugen hätten den einzelnen Faden überhaupt nicht entdecken können. Sie hatte ihn mit ihren Tränen genetzt, und er war stark wie ein Ankertau. Sie erhob sich, ihr Entschluss war gefasst, der Traum musste zur Wahrheit werden. Es war Nacht, ihr Vater schlief, sie küsste seine Hand, nahm ihre Spindel und band das Ende des Fadens am Hause ihres Vaters fest, sonst würde sie ja, die Blinde, niemals wieder heimfinden. An den Faden wollte sie sich halten, auf ihn verließ sie sich, nicht auf sich selbst und andere. Sie pflückte vier Blätter vom Baume der Sonne, die wollte sie mit Wind und Wetter gehen lassen, damit sie zu den Brüdern als Brief und Gruß gelangten, wenn es geschehen sollte, dass sie sie draußen in der weiten Welt nicht fand. Wie würde es ihr wohl dort ergehen, dem armen blinden Kind! Doch sie hatte den unsichtbaren Faden, an dem sie sich halten konnte; weit war sie allen den anderen voraus, denn sie nannte eine Gabe ihr eigen: das Gefühl, und durch dieses hatte sie gleichsam Augen in jeder Fingerspitze und Ohren im Herzen.
So ging sie hinaus in die laute, lärmende, wunderliche Welt, und wohin sie kam, wurde der Himmel sonnenklar, sie konnte die warmen Strahlen empfinden, der Regenbogen spannte sich aus der schwarzen Wolke über die blaue Luft, sie hörte der Vögel Gesang, spürte den Duft der Orangen- und Äpfelgärten so stark, dass sie fast glaubte, ihn zu schmecken. Weiche Töne und lieblicher Gesang erreichten sie, doch auch Heulen und Schreien; seltsam im Streit miteinander standen Gedanken und Urteil. Tief in ihrem Herzen klangen die Herzens- und Gedankenstimmen der Menschenbrust wieder; es erbrauste im Chor:
„Nur Sturm ist unser Erdenlos,
eine Nacht, darin wir weinen.“
Aber es ertönte auch der Gesang:
„Unser Leben ist die lieblichste Ros“
Und Freudensonnen uns scheinen.“
Und klang es bitter:
„Ein jeder denket nur an sich,
Auf den Nutzen geht alles Streben.“
So lautete es als Antwort:
„Ein Strom der Liebe geht inniglich
Durch unser Erdenleben.“
Wohl hörte sie die Worte:
„Das Ganze ist so klein und dumm,
Man kehr einmal die Dinge um.“
Aber sie hörte auch:
„So viele Taten sind groß und gut
In der Welt man nichts davon wissen tut.“
und klang es ringsum in brausendem Chor:
„Schab Rübchen nur, lach alles aus,
Bell mit, wenn Hunde bellen!“
so erklang es in des blinden Mädchens Herzen:
„Vertrau auf Gott in Nacht und Graus
Stets rinnen seine Quellen“
Aber darin konnte sich der Teufel nicht finden. Er hatte mehr Verstand als zehntausend Männer, und so wusste er sich zu helfen. Er ging in den Sumpf, nahm die aus dem fauligen Wasser aufsteigenden Blasen, ließ das siebenfache Echo des Lügenwortes über sie hinschallen, um sie kräftiger zu machen. Er pulverisierte bezahlte Ehrenverse und lügenhafte Leichenpredigten, so viele sich nur finden ließen, kochte sie in Tränen, die der Neid geweint hatte, streute oben etwas Schminke darauf, die von einer vergilbten Jungfernwange gekratzt war, und schuf hieraus eine Mädchengestalt, die in Bewegung und Aussehen der des segensreichen blinden Mädchens glich. „Den milden Engel des Gefühls“ nannten sie die Menschen, und so darauf legte der Teufel sein Spiel an. Die Welt wusste nicht, wer von den beiden die Richtige war, und woher sollte die Welt das auch wissen.
„Vertrau auf Gott in Nacht und Graus,
Stets rinnen seine Quellen.“
sang das blinde Mädchen in vollem Glauben. Die vier grünen Blätter vom Baume der Sonne hatte sie Wind und Wetter übergeben, um sie als Brief und Gruß an ihre Brüder gelangen zu lassen, und sie war dessen ganz sicher, dass ihr Wunsch sich erfüllen würde, ja, und auch das Juwel würde sich finden, das alle irdische Herrlichkeit überstrahlte; von der Menschheit Stirn würde es bis zu ihres Vaters Haus leuchten.
„Bis zu meines Vaters Hause“ wiederholte sie, „ja, auf der Erde ist des Edelsteines Stätte, und mehr als die Überzeugung davon bringe ich mit. Ich spüre bereite seine Glut, stärker und stärker schwillt sie in meiner geschlossenen Hand. Jedes Wahrheitskörnchen, so fein, dass der scharfe Wind es tragen und mit sich fahren konnte, fing ich auf und bewahrte es. Ich ließ es vom Dufte alles Schönen durchdringen, und es gibt in der Welt soviel davon, selbst für Blinde. Ich nahm den Klang vom Herzschlage guter Menschen und legte ihn dazu. Staubkörnchen sind alles, was ich bringe, aber doch der Staub jenes Edelsteines in reicher Fülle, meine ganze Hand ist voll davon“ und sie streckte sie aus – dem Vater entgegen. Sie war in der Heimat; mit der Schnelle des Gedankenfluges hatte sie sie erreicht, während sie den unsichtbaren Faden nach ihres Vaters Hause nicht fahren ließ.
Die bösen Mächte fuhren mit Orkangewalt über der Sonne Baum hin, drangen mit einem Windstoß durch die offene Tür in die verborgene Schatzkammer ein.
„Der Wind weht es fort“ rief der Vater und griff um die Hand, die sie geöffnet hatte.
„Nein“ rief sie mit gläubigem Bewusstsein. „Es kann nicht verwehen. Ich fühle wie sein Strahl tief innen meine Seele wärmt.“
Und der Vater erschaute eine leuchtende Flamme, als der Staub aus ihrer Hand über die weißen Blätter des Buches wehte, die von der Gewissheit des ewigen Lebens Kunde geben sollten; in blendendem Glanze stand dort eine Schrift, ein einziges sichtbares Wort nur, das eine Wort: GLAUBE.
Und bei ihnen waren wieder die vier Brüder; Sehnsucht nach der Heimat hatte sie ergriffen und geführt, als das grüne Blatt auf ihre Brust gefallen war. Sie waren gekommen, und die Zugvögel folgten ihnen und der Hirsch, die Antilope und alle Tiere des Waldes. Sie wollten auch teilnehmen an der Freude, und weshalb sollten es die Tiere nicht, wenn sie es fühlen konnten.
Wie eine leuchtende Staubsäule sich vor unseren Augen dreht, wenn durch ein Löchlein in der Tür ein Sonnenstrahl in die staubige Stube fällt, nur schöner – denn selbst der Regenbogen ist zu schwer und nicht leuchtend genug an Farbe gegen den Anblick, der sich hier zeigte – erhob sich aus den Blättern des Buches von dem leuchtenden Worte „Glauben“ jedes Wahrheitskörnchen mit dem Glanze des Schönen, mit dem Klange des Guten; stärker erstrahlte es, als die Feuersäule, die in der Nacht, als Moses mit dem Volke Israel nach dem Lande Kanaan zog, geleuchtet hatte. Vom Worte Glauben führte der Hoffnung Brücke hinüber zur Alliebe Gottes in die Unendlichkeit.
Über diese Märchen
Dieses Märchen wurde 1858 zum ersten mal in dem Buch namens ”Nye Eventyr og Historier. Anden Række. Første Samling. 1861” veröffentlicht.
Original-Übersetzung
Du kennst doch die Geschichte von Holger Danske; wir wollen sie Dir nicht erzählen, nur fragen, ob Du Dich noch erinnerst, dass „Holger Danske das große Land Indien nach Osten zu am Ende der Welt gewann bis zu dem Baume, der der Baum der Sonne genannte wird,“ wie Christian Pedersen es erzählte. Kennst Du Christian Pedersen? Es kommt auch nicht darauf an, dass Du ihn kennst. Holger Danske gab dort dem Priester Jon, Macht und Herrscherwürde über das ganze Land Indien. Kennst Du den Priester Jon? Ja, darauf kommt es auch nicht viel an, denn er kommt in dieser Geschichte gar nicht vor. Hier sollst Du von dem Baum der Sonne hören „im Lande Indien nach Osten zu am Ende der Welt“, wie man einst glaubte, als man noch nicht Geographie gelernt hatte, wie wir es heute lernen. Aber darauf kommt es auch nicht an.
Der Baum der Sonne war ein prächtiger Baum, wie wir nie einen gesehen haben und auch Du nie einen zu sehen bekommen wirst. Seine Krone erstreckte sich mehrere Meilen weit in der Runde, er bildete eigentlich einen ganzen Wald, und jeder seiner kleinsten Zweige war wieder ein ganzer Baum; Palmen, Buchen, Pinien und Platanen, alle Arten von Bäumen, die sich in der ganzen Welt finden, trieben hier als kleine Zweige aus den größeren Zweigen hervor, und diese selbst glichen mit ihren Knoten und Krümmungen Tälern und Höhen. Sie waren mit einem samtweichen Grün bekleidet, das von Blumen wimmelte. Jeder Zweig war wie eine ausgedehnte, blühende Wiese oder der lieblichste Garten. Die Sonne sandte ihm liebreich Ihre wohltuendsten Strahlen herab, denn es war ja der Baum der Sonne. Die Vögel von allen Enden der Welt versammelten sich hier, Vögel aus den fernen Urwäldern Amerikas, aus Damaskus, Rosengärten, aus den waldigen Wüsten des inneren Afrika, wo Elefant und Löwe, allein zu regieren vermeinen. Der Polarvogel kommt, und Storch und Schwalbe natürlich auch. Aber die Vögel waren nicht die einzigen lebenden Geschöpfe, die hierher kamen. Der Hirsch, das Eichhörnchen, die Antilope und Hunderte von anderen Tieren, flüchtig und schön, waren hier zu Hause. Ein großer, duftender Garten war ja des Baumes Krone, und innen, wo sich die allergrößten Zweige wie grüne Höhen empor streckten, lag ein kristallenes Schloss mit einer Aussicht auf alle Länder der Welt. Jeder Turm hob sich liliengleich, durch den Stängel konnte man emporsteigen, denn es waren Treppen darin. Da kannst Du es wohl auch verstehen, dass man auf die Blätter hinaus treten konnte, die Altane bildeten, und oben, in der Blume selbst, war der herrlichste, strahlendste Festsaal, der als Dach nichts anderes als den blauen Himmel mit Sonne und Sternen hatte. Ebenso herrlich, nur auf eine andere Weise, waren die weitläufigen Säle. Hier spiegelte sich an den Wänden ringsum die ganze Welt ab. Man konnte alles dort sehen, was geschah, so dass man keine Zeitungen zu lesen brauchte, die gab es hier auch nicht. Alles war hier in lebenden Bildern zu sehen, man konnte und mochte es nur nicht alles ansehen, denn zuviel ist zuviel, selbst für den weisesten Mann, und hier wohnte der weiseste Mann. Sein Name ist so schwer auszusprechen, Du könntest ihn doch nicht aussprechen, und deshalb kann er Dir gleichgültig sein. Er wusste alles, was ein Mensch wissen kann und je auf dieser Welt wissen wird; jede Erfindung, die gemacht worden war oder noch gemacht werden sollte, kannte er, aber auch nicht mehr, denn alles hat ja seine Grenzen. Der weise König Salomo war nur halb so klug, und der war doch ein recht kluger Mann; er herrschte über die Kräfte der Natur, über mächtige Geister, ja, der Tod selbst musste ihm jeden Morgen Botschaft bringen und die Liste derer, die an diesem Tage sterben sollten. Aber König Salomo selbst musste auch sterben, und das war der Gedanke, der oft seltsam lebhaft den Forscher, den mächtigen Herrn in dem Schlosse auf dem Baume der Sonne erfüllte. Auch er, der so hoch über der Weisheit der Menschen stand, musste einst sterben, das wusste er, und auch seine Kinder mussten sterben. Wie des Waldes Laub würden sie fallen und zu Staub werden. Das Menschengeschlecht sah er vergehen, wie die Blätter vom Baume wehen, und neue kamen an deren Stelle. Aber die abgefallenen Blätter wuchsen niemals wieder, sie wurden zu Staub oder gingen in andere Pflanzen über. Was geschah mit den Menschen, wenn der Engel des Todes zu ihnen kam. Was hieß es, zu sterben? Der Körper löste sich auf und die Seele – Ja, was wurde aus ihr? Wohin ging sie? „Zum ewigen Leben!“ sagt die Religion zum Troste. Aber wie war der Übergang? Wo lebte man und wie? „Oben im Himmel.“ sagten die Frommen. „Dort hinauf gehen wir.“ – „Dort hinauf“ wiederholte der Weise und sah zu Sonne und Sternen empor. „Dort hinauf!“ und er sah aus der runden Erdkugel, dass oben und unten ein und dasselbe waren, je nachdem, wo man auf der schwebenden Kugel stand; stieg er hinauf, so hoch wie der Erde höchste Berge ihre Gipfel erheben, so wurde die Luft, die wir hier unten klar und durchsichtig nennen, zu einem kohlschwarzen Dunkel, dicht wie ein Tuch; die Sonne war wie ein glühender Ball ohne Strahlen anzusehen, und die Erde lag von orangefarbenen Nebeln verhüllt. Hier lag die Grenze für unser körperliches und seelisches Sehvermögen; wie gering ist unser Wissen, selbst der Weiseste wusste nur wenig von dem, was für uns das Wichtigste ist!
In der Geheimkammer des Schlosses lag der Erde größter Schatz: „Das Buch der Wahrheit“. Blatt für Blatt las er es. Das war ein Buch, in dem jedweder Mensch zu lesen vermag, aber nur stückweise. Für manches Auge zittert die Schrift, so dass es nicht möglich ist, die Buchstaben zu entziffern. Auf einzelnen Blättern verblasst Schrift und verschwindet fast, so dass man ein leeres Blatt zu sehen vermeint. Je weiser man ist, desto mehr kann man lesen, und der Weiseste liest das Allermeiste. Der Weise wusste das Licht der Sterne, der Sonne, der verborgenen Kräfte und des Geistes zu sammeln. Im Glanze dieses verstärkten Lichtscheins trat bei ihm noch mehr von der Schrift hervor, jedoch bei dem Abschnitt des Buches: „Das Leben nach dem Tode“ war auch nicht ein Tippfelchen mehr zu sehen. Das betrübte ihn; – sollte es keine Macht geben, die ihn hier auf Erden ein Licht finden hieße, bei dessen Scheine sichtbar wurde, was hier im Buche der Wahrheit stand?
Wie der weise König Salomo verstand er die Sprache der Tiere, er hörte ihre Gesänge und Gespräche, aber dadurch wurde er nach jener Richtung nicht klüger. Er erkundete die geheimen Kräfte der Pflanzen und Metalle, kannte die Kräfte, um Krankheiten zu vertreiben, um den Tod fernzuhalten, aber kein Mittel, um ihn zu vernichten. In allem Erschaffenen, das ihm erreichbar war, suchte er nach dem Lichte, das die Vergewisserung eines ewigen Lebens beleuchtete, aber er fand es nicht; das Buch der Wahrheit lag wie mit unbeschriebenen Blättern vor ihm. Das Christentum verwies ihn auf der Bibel Vertröstung auf ein ewiges Leben, aber er wollte es in seinem Buche lesen, und darin sah er nichts.
Fünf Kinder hatte er, vier Söhne, klug belehrt, wie nur der weiseste Vater seine Kinder belehren kann, und eine Tochter, schön, sanft und klug, aber blind, doch es schien für sie keinen Verlust zu bedeuten. Der Vater und die Brüder waren ihre Augen, und ein inneres Gefühl ließ sie die Dinge recht erkennen.
Nie hatten sich die Söhne weiter vom Schlosse entfernt, als die Zweige des Baumes sich erstreckten, die Schwester noch weniger; sie waren glückliche Kinder in der Kindheit Heim, in der Kindheit Land, im herrlichen, duftenden Baume der Sonne. Wie alle Kinder hörten sie gerne erzählen, und der Vater erzählte ihnen vieles, was andere Kinder nicht verstanden haben würden, aber diese Kinder waren so klug wie bei uns die alten Menschen es sind. Er erklärte ihnen, was sie als lebende Bilder an den Wänden des Schlosses sahen, der Menschen Tun und der Begebenheiten Gang in allen Ländern der Erde, und oft wünschten die Söhne, mit dort draußen zu sein und an all den Heldentaten teilzunehmen. Da sagte ihnen der Vater, dass es schwer und bitter sei, in der Welt zu leben, sie wäre nicht ganz so licht, wie sie es von ihrer herrlichen Kinderwelt aus sähen. Er sprach zu ihnen von dem Schönen, dem Wahren und dem Guten, sagte ihnen, dass diese drei Dinge die Welt zusammenhielten, und unter dem Druck, den sie erlitten, entstünde ein Edelstein, klarer als der Diamanten Wasser; sein Glanz habe Wert sogar vor Gott, alles überstrahle er, und er sei es, den man „den Stein der Weisen“ nenne. Er sagte ihnen, dass man, eben wie man durch das Erschaffene zu der Erkenntnis Gottes, so durch die Menschen selbst zur Erkenntnis gelange, dass ein solcher Edelstein sich finden müsse. Mehr konnte er darüber nicht sagen, mehr wusste er nicht. Diese Erzählung wäre nun für andere Kinder schwer zu begreifen gewesen, aber diese Kinder verstanden sie, und später wird das Verständnis wohl auch für die anderen kommen.
Sie befragten den Vater nach dem Schönen, Wahren und Guten, und er erklärte es ihnen; vieles sagte er ihnen, sagte ihnen auch, dass Gott, als er den Menschen aus Erde erschuf, seinem Geschöpfe fünf Küsse, Feuerküsse, Herzensküsse, innige Gottesküsse gab, und diese gaben ihm das, was wir jetzt die fünf Sinne nennen. Durch sie wird das Schöne, Wahre und Gute sichtbar, fühlbar und erkennbar, durch sie wird es geschätzt, beschirmt und gefördert.
Darüber dachten die Kinder nun viel nach, Tag und Nacht beschäftigte es ihre Gedanken; da träumte der älteste der Brüder einen herrlichen Traum, und seltsam genug, der zweite Bruder träumte ihn auch, und der dritte träumte ihn und der vierte. Jeder von ihnen träumte ein und dasselbe. Er träumte, dass er in die Welt zöge und den Stein der Weisen fände. Wie eine leuchtende Flamme erstrahlte er auf seiner Stirn, als er im Morgenschimmer auf seinem pfeilschnellen Ross zurück über die samtgrünen Wiesen im Garten der Heimat zu seinem väterlichen Schlosse ritt, und der Edelstein werfe ein so himmlisches Licht, einen solchen Glanz über die Blätter des Buches, dass sichtbar wurde, was dort geschrieben stand über das Leben jenseits des Grabes. Die Schwester träumte nicht davon. In die weite Welt hinaus zu ziehen, kam ihr nicht in den Sinn, ihre Welt war ihres Vaters Haus.
„Ich reite in die weite Welt hinaus!“ sagte der Älteste; „erproben muss ich doch einmal ihren Gang und mich zwischen den Menschen umhertummeln; nur das Gute und Wahre will ich, mit diesem werde ich das Schöne beschützen. Vieles soll anders werden, wenn ich mich seiner annehme!“ Ja, er dachte kühn und groß, wie wir alle es in unserer Ofenecke tun, ehe wir in die Welt hinauskommen und Regen und Sturm und Dornen zu fühlen bekommen.
Die fünf Sinne waren innerlich und äußerlich, bei ihm wie auch bei den anderen Brüdern, außergewöhnlich fein entwickelt, aber jeder von ihnen hatte in Sonderheit einen Sinn, der in Stärke und Entwicklung die anderen weit übertraf. Bei dem Ältesten war es das Gesicht, das ihm besonders zugute kommen sollte. Er hatte Augen für alle Zeiten, sagte er selbst, Augen für alle Völkerschaften, Augen, die bis unter die Erde hinab, wo die Schätze lagen, und bis in die tiefste Tiefe der Menschenbrust sehen konnten, als sei nur eine gläserne Scheibe darüber – das heißt, er sah mehr, als wir beim Erröten und Erbleichen der Wange, im Lächeln und Weinen des Auges sehen können. – Hirsch und Antilope begleiteten ihn bis an die Grenze nach Westen, dort kamen wilde Schwäne, die nach Nordwesten flogen, und ihnen folgte er. Nun war er in der weiten Welt, fern dem Lande des Vaters, das sich „gegen Osten am Ende der Welt“ erstreckte.
Hei, wie er die Augen aufriss. Da gab es vieles zu sehen; es ist immer etwas anderes, die Orte und Dinge selbst zu sehen, als sie in Bildern zu erfassen, mögen diese auch noch so gut sein, und sie waren außergewöhnlich gut, die Bilder daheim in seines Vaters Schloss. Er war nahe daran, gleich im ersten Augenblick beide Augen vor Verwunderung über all das Gerümpel, den Fastnachtsaufputz, der als das Schöne hingestellt wurde, zu verlieren, aber er verlor sie nicht, er hatte eine andere Bestimmung für sie.
Gründlich und ehrlich wollte er bei der Erkenntnis des Schönen, des Wahren und des Guten zu Werke gehen; aber wie stand es damit? Er sah, wie oft das Hässliche die Krone errang, wo das Schöne sie verdiente, wie das Gute nicht bemerkt wurde und die Mittelmäßigkeit an seiner Stelle die Bewunderung einheimste. Die Leute sahen wohl die Verpackung, aber nicht den Inhalt, sahen das Kleid, aber nicht den Mann, sahen den Ruf, aber nicht die Berufung. Aber das ist einmal so.
„Da werde ich wohl tüchtig zupacken müssen!“ dachte er, und er packte zu. Aber während er das Wahre suchte, kam der Teufel, der Vater der Lüge und die Lüge selbst. Gern hätte er dem Seher gleich beide Augen ausgeschlagen, aber das wäre zu grob gewesen; der Teufel geht feiner zu Werke. Er ließ ihn das Wahre suchen und das Gute zugleich, aber während er sich danach umblickte, blies ihm der Teufel einen Splitter ins Auge, ja in beide Augen, einen Splitter nach dem anderen; das ist nicht gut für das Gesicht, selbst nicht für das beste Gesicht. Dann blies der Teufel die Splitter auf, bis sie zu einem Balken wurden, da war es mit den Augen vorbei, und der Seher stand gleich einem blinden Manne mitten in der weiten Welt und traute ihr nicht mehr. Er gab seine gute Meinung über sie und sich selbst auf, und wenn man beides, die Welt und sich selbst aufgibt, ja, dann ist es wirklich mit einem vorbei.
„Vorbeil“ sagten die wilden Schwäne, die über das Meer hin nach Osten zu flogen; „Vorbeil“ sangen die Schwalben, die gen Osten zum Baume der Sonne flogen, und das waren keine guten Nachrichten für die daheim.
„Wohl ist es dem Seher übel ergangen!“ sagte der zweite Bruder, „doch kann es dem Hörer besser ergehen“ Der Gehörsinn war es, der bei ihm besonders geschärft war, er konnte das Gras wachsen hören, so weit hatte er es gebracht.
Herzlich nahm er Abschied und ritt von dannen mit guten Gaben und guten Vorsätzen. Die Schwalben begleiteten ihn, und er folgte den Schwänen, und dann war er fern von der Heimat draußen in der weiten Welt.
Man kann auch des guten zuviel bekommen; diese Wahrheit musste er bald erfahren. Das Gehör war bei ihm zu stark, er hörte ja das Gras wachsen, und deshalb hörte er auch jedes Menschenherz in Freude und Schmerz schlagen; zuletzt war ihm, als sei die ganze Welt eine große Uhrmacherwerkstatt, wo alle Uhren gingen „Tik tik“ und alle Turmuhren schlugen „Kling, klang!“ nein, das war nicht auszuhalten! Aber er hielt die Ohren steif, so lange er konnte. Doch zuletzt wurde all der Lärm und das Geschrei zuviel für einen einzigen Menschen. Da gab es Straßenjungen bis zu sechzig Jahren, das Alter tut es ja nicht immer; sie schrieen und lärmten, darüber konnte man noch lachen, aber dann kamen Klatsch und Tratsch, die durch alle Häuser, Gässchen und Straßen bis auf die Landstraßen hinaus zischelten; die Lüge hatte die lauteste Stimme und spielte den Herrn, die Narrenschelle klingelte und sagte, dass sie die Kirchenglocke sei, da wurde es dem Hörer zu bunt, er steckte die Finger in beide Ohren, – aber noch immer hörte er falschen Gesang und bösen Klang. Klatsch und Tratsch; zäh festgehaltene Behauptungen, die nicht einen sauren Hering wert waren, schwirrten über die Zungen, dass sie ordentlich knickten und knackten vor lauter Eifer. Da waren Leute und Geräusche, Lärm und donnernder Spektakel, innerlich und äußerlich, bewahre das war ja nicht zum Aushalten, es war gar zu toll! Er steckte die Finger tiefer in seine beiden Ohren und noch tiefer, da sprang ihm das Trommelfell. Nun hörte er gar nichts mehr, auch nicht das Schöne, Wahre und Gute, zu dem ihm das Gehör eine Brücke hatte sein sollen. Er wurde misstrauisch und still, traute niemandem, traute sich selbst zuletzt nicht mehr, und das machte ihn sehr unglücklich; er wollte nicht mehr den mächtigen Edelstein finden und mit heimbringen, er gab das Suchen danach auf, und sich selbst gab er auch auf, das war das Allerschlimmste. Die Vögel, die nach Osten flogen, brachten die Botschaft davon mit, bis sie auch das Schloss des Vaters im Baume der Sonne erreichte. Ein Brief kam nicht, es ging ja auch keine Post dorthin.
„Nun will ich es versuchen!“ sagte der Dritte, „ich habe eine feine Nase!“ Das war nun nicht gerade fein gesagt, aber es war seine Art, und man muss ihn hinnehmen, wie er war. Er war die Verkörperung der guten Laune und dazu ein Dichter, ein wirklicher Dichter; er konnte singen, was er nicht zu sagen vermochte. Seine Auffassungsgabe überstieg die der anderen an Schnelligkeit bei weitem. „Ich rieche Lunte“ sagte er wohl bei Gelegenheit, und es war der Geruchssinn, der bei ihm in hohem Grade entwickelt war und ihm ein großes Gebiet im Reiche des Schönen zusicherte. „Einer liebt den Äpfelduft und einer den Stallduft!“ sagte er. „Jedes Duftgebiet im Reiche des Schönen hat sein Publikum. Manche fühlen sich heimisch in der Kneipenluft beim Qualm des Talglichtdochtes, wo der Schnapsgestank sich mit schlechtem Tabaksrauch vermengt, andere sitzen lieber im schwülen Jasminduft oder reiben sich mit starkem Nelkenöl ein. Einige suchen die frische Seebrise auf, andere wieder steigen zu den hohen Bergesgipfeln hinauf und betrachten von oben das geschäftige Leben und Treiben der anderen!“ Ja, so sagte er. Es war fast, als sei er schon früher in der Welt draußen gewesen, hätte mit den Menschen gelebt und sie erkannt, aber diese Weisheit kam aus ihm selbst, es war die dichterische Gabe in ihm, die ihm der liebe Gott als Geschenk in die Wiege gelegt hatte.
Nun sagte er dem väterlichen Heim im Baume Lebewohl und ging durch des Baumes Herrlichkeit. Draußen setzte er sich auf den Strauß, der geschwinder läuft als das Pferd, und als er später die wilden Schwäne sah, schwang er sich auf den Rücken des stärksten. Er liebte die Veränderung, und so flog er über das Meer in fremde Länder mit großen Wäldern, tiefen Seen, mächtigen Bergen und stolzen Städten, und wohin er kam war es, als ginge ein Sonnenschein über das Land. Jede Blume, jeder Strauch duftete stärker in der Empfindung, dass ihm ein Freund, ein Beschützer nahe, der ihn zu schätzen wusste und ihn verstand, ja, der verkrüppelte Rosenstrauch erhob seine Zweige, entfaltete seine Blätter und trug die lieblichste Rose; jeder konnte sie sehen, selbst die schwarze, nasse Waldschnecke bemerkte ihre Schönheit.
„Ich will der Blume mein Zeichen aufprägen!“ sagte die Schnecke, „nun habe ich sie bespuckt, mehr kann ich nicht tun.“
„So geht es mit dem Schönen in der Welt“ sagte der Dichter, und er sang ein Lied davon, sang es auf seine Weise, aber niemand hörte darauf. Deshalb gab er dem Trommelschläger zwei Schillinge und eine Pfauenfeder; da setzte er das Lied für die Trommel um und trommelte es in der Stadt in allen Straßen und Gassen aus. Nun hörten es die Leute und sagten, sie verstünden es, es sei so tief! Und nun konnte der Dichter mehr Lieder singen, und er sang von dem Schönen, dem Wahren und dem Guten, und es wurde in der Kneipe gehört, wo das Talglicht qualmte, es wurde auf der frischen Kleewiese im Walde und auf offener See gehört. Es ließ sich an, als habe dieser Bruder mehr Glück, als die beiden anderen es gehabt hatten. Aber das war dem Teufel nicht recht. Gleich kam er daher mit allen Arten der Beweihräucherung, die sich auf der Welt finden und auf deren Bereitung sich der Teufel so vorzüglich versteht. Den allerstärksten Weihrauch schleppte er herbei, der alles andere erstickt und selbst einen Engel konfus machen kann, geschweige denn einen armen Dichter. Der Teufel weiß recht gut, wie er seine Leute zu nehmen hat. Den Dichter nahm er mit Weihrauch, so dass er ganz aus dem Häuschen war, und seine Sendung, sein Vaterhaus – alles, sogar sich selbst vergaß. Er ging völlig auf in all dem Räucherwerk.
Alle Vögelchen trauerten, als sie es hörten, und sangen drei Tage lang nicht. Die schwarze Waldschnecke wurde noch schwärzer, aber nicht vor Trauer, sondern vor Neid. „Ich bin es,“ sagte sie, „die beräuchert werden sollte, denn ich war es, die ihm die Idee zu seinem berühmtesten Lied, der Gang der Welt, das für die Trommel gesetzt wurde, gab. Ich war es, die auf die Rose spuckte, dafür kann ich Zeugen bringen!“
Aber daheim in Indien verlautete nichts davon. Alle Vögelchen trauerten ja und schwiegen drei Tage lang, und als die Trauerzeit um war, ja, da war die Trauer so stark gewesen, dass sie vergessen hatten, um was sie trauerten. So geht es.
„Nun muss ich wohl auch in die Welt hinaus und fortbleiben wie die anderen“ sagte der vierte Bruder. Er hatte eine ebenso sonnige Laune wie der vorhergehende Bruder, aber er war kein Dichter, und so hatte er allen Grund zu guter Laune. Die beiden hatten Fröhlichkeit ins Schloss gebracht. Nun ging die letzte Munterkeit mit ihm hinaus. Das Gesicht und das Gehör sind stets von den Menschen als die wichtigsten Sinne angesehen worden, die man sich besonders stark und scharf wünscht, die drei anderen Sinne werden für minder wesentlich gehalten. Doch das war durchaus nicht die Meinung dieses Sohnes, denn er hatte einen besonders entwickelten Geschmack, und zwar in jeder Richtung, in der dieser Begriff aufgefasst werden kann, und dieser hat gewaltige Macht und große Herrschermöglichkeiten, er regiert über alles, was durch den Mund und Geist geht. Deshalb kostete der vierte Bruder an allem in Pfannen und Töpfen, in Flaschen und Schüsseln. Das wäre das Grobe in seinem Berufe, sagte er; jedes Menschen Stirn wäre für ihn eine Pfanne, in der es koche, jedes Land eine ungeheure Küche, geistig genommen; das wäre das Feine und nun wolle er hinaus und das Feine erproben.
„Vielleicht will mir das Glück besser, als meinen Brüdern!“ sagte er. „Ich reise nun; aber welches Beförderungsmittel soll ich wählen? Sind die Luftballons schon entdeckt?“ fragte er seinen Vater, der ja von allen Erfindungen wusste, die gemacht waren oder gemacht werden würden. Aber der Luftballon war noch nicht entdeckt, auch nicht die Dampfschiffe und Eisenbahnen. „Ja, dann werde ich doch einen Luftballon nehmen!“ sagte er. „Mein Vater weiß, wie sie gemacht und gelenkt werden müssen, und ich lerne es. Niemand kennt die Erfindung und so werden sie glauben, es sei ein Trugbild. Wenn ich den Ballon benutzt habe, verbrenne ich ihn, wozu Du mir noch ein paar von der zukünftigen Erfindung mitgeben musst, die „chemische Schwefelhölzer“ genannt wird.“
Dies alles bekam er, und dann flog er davon. Die Vögel folgten ihm länger, als sie den anderen gefolgt waren, denn sie wollten doch gern sehen, wie dieser Flug ablief. Immer mehr kamen herbei, alle waren neugierig und glaubten, es sei ein neuer Vogel, der dort flöge. Ja, er bekam ein stattliches Gefolge. Die Luft wurde schwarz von Vogelscharen, sie flogen einher wie eine große Wolke, wie die Heuschreckenschwärme über Ägypten, und dann war er in der weiten Welt draußen.
„Ich habe einen guten Freund und Gehilfen an dem Ostwind gehabt!“ sagte er.
„Ostwind und Westwind, meinst Du wohl“ sagten die Winde. „Wir sind zu zweit gewesen, um uns abzulösen, sonst wärest Du nicht nach Nordwesten gekommen.“
Aber er hörte nicht, was die Winde sagten, und das war ja auch gleichgültig. Die Vögel kamen nun auch nicht länger mit. Als das Gefolge am größten geworden war, wurde einigen die Fahrt über, und sie sagten, es würde zuviel aus der Sache gemacht, sie würde noch ganz eingebildet werden. „Es lohnt das Hinterherfliegen nicht, es ist im Grunde gar nichts, jedenfalls nicht der Rede wert.“ Dann blieben sie zurück, und das blieben nach und nach die anderen auch. Das Ganze war ja nichts.
Der Luftballon ging über einer der größten Städte nieder und der Luftschiffer setzte sich an den höchsten Platz, das war der Kirchturm. Der Ballon stieg wieder himmelwärts, was er nicht sollte. Wo er geblieben ist, ist nicht gut zu sagen, aber das war auch gleich, denn er war ja noch nicht erfunden.
Da saß er nun oben auf dem Kirchturm. Die Vögel flogen nicht zu ihm heran, denn sie hatten es über mit ihm und er mit ihnen ebenfalls. Alle Schornsteine in der Stadt rauchten und dufteten.
„Es sind Altäre, die für Dich errichtet sind“ sagte der Wind, der ihm etwas Angenehmes sagen wollte.
Keck saß er dort oben und sah auf die Leute in den Straßen hinab; der eine war stolz auf seinen Geldbeutel, der andere auf seinen Schlüssel, obgleich er nichts aufzuschließen hatte. Einer war stolz auf seinen Rock, in dem die Motten saßen, ein anderer auf seinen Leib, an dem schon die Würmer nagten.
„Eitelkeit, ja, ich muss wohl bald hinunter und den Topf anrühren und kosten!“ sagte er. „Aber hier will ich noch ein wenig sitzen bleiben, der Wind kitzelt mir so herrlich den Rücken, mir ist richtig behaglich zumute. Ich bleibe hier so lange sitzen, wie der Wind bläst. Ich will ein wenig Ruhe haben. Es ist gut, am Morgen lange liegen zu bleiben, wenn man viel zu tun hat, sagt der Faule. Aber Faulheit ist die Wurzel alles Übels, und Übles gibt es in unserer Familie nicht. Das sage ich und das sagt wohl jeder Sohn. Ich bleibe sitzen, solange dieser Wind bläst, es schmeckt mir.“
Und er blieb sitzen; aber er saß auf des Turmes Wetterhahn, der drehte und drehte sich mit ihm, sodass er glaubte, es sei noch immer derselbe Wind. Also blieb er sitzen, und da konnte er lange sitzen und schmecken!
Aber im Lande Indien auf dem Baum der Sonne war es leer und stille geworden, als die Brüder einer nach dem anderen fortgezogen waren.
„Es geht ihnen nicht gut“ sagte der Vater; „nie werden sie den leuchtenden Edelstein heimbringen, er wird für mich nie gefunden, und sie sind fort, tot.“ Und er beugte sich über das Buch der Wahrheit, starrte auf das Blatt, wo er über das Leben nach dem Tode lesen sollte, aber dort war für ihn nichts zu sehen und zu erfahren.
Die blinde Tochter war sein Trost und seine Freude; so innig und liebevoll schloss sie sich ihm an; denn seine Freude und sein Glück wünschte sie, das köstliche Juwel musste gefunden und heimgebracht werden. In Trauer und Sehnsucht gedachte sie der Brüder. Wo waren sie? Wo lebten sie? Von ganzem Herzen wünschte sie sich, von ihnen zu träumen, aber wunderlich genug, selbst im Traume konnte sie ihnen nicht begegnen. Endlich träumte ihr eines Nachts, dass ihre Stimmen bis zu ihr herüber klängen, sie riefen ihr zu, flehten zu ihr aus der weiten Welt, und sie musste hinaus, weit fort, und doch schien es ihr, als sei sie noch in ihres Vaters Hause. Die Brüder traf sie nicht, aber in ihrer Hand fühlte sie es wie Feuer brennen, doch es schmerzte nicht; sie hielt den leuchtenden Edelstein und brachte ihn ihrem Vater. Als sie erwachte, glaubte sie einen Augenblick lang dass sie ihn noch hielte; es war ihr Rocken, den ihre Hand krampfhaft umklammerte. In den langen Nächten hatte sie unablässig gesponnen; der Faden auf ihrer Spindel war feiner, als das Gewebe der Spinne, Menschenaugen hätten den einzelnen Faden überhaupt nicht entdecken können. Sie hatte ihn mit ihren Tränen genetzt, und er war stark wie ein Ankertau. Sie erhob sich, ihr Entschluss war gefasst, der Traum musste zur Wahrheit werden. Es war Nacht, ihr Vater schlief, sie küsste seine Hand, nahm ihre Spindel und band das Ende des Fadens am Hause ihres Vaters fest, sonst würde sie ja, die Blinde, niemals wieder heimfinden. An den Faden wollte sie sich halten, auf ihn verließ sie sich, nicht auf sich selbst und andere. Sie pflückte vier Blätter vom Baume der Sonne, die wollte sie mit Wind und Wetter gehen lassen, damit sie zu den Brüdern als Brief und Gruß gelangten, wenn es geschehen sollte, dass sie sie draußen in der weiten Welt nicht fand. Wie würde es ihr wohl dort ergehen, dem armen blinden Kind! Doch sie hatte den unsichtbaren Faden, an dem sie sich halten konnte; weit war sie allen den anderen voraus, denn sie nannte eine Gabe ihr eigen: das Gefühl, und durch dieses hatte sie gleichsam Augen in jeder Fingerspitze und Ohren im Herzen.
So ging sie hinaus in die laute, lärmende, wunderliche Welt, und wohin sie kam, wurde der Himmel sonnenklar, sie konnte die warmen Strahlen empfinden, der Regenbogen spannte sich aus der schwarzen Wolke über die blaue Luft, sie hörte der Vögel Gesang, spürte den Duft der Orangen- und Äpfelgärten so stark, dass sie fast glaubte, ihn zu schmecken. Weiche Töne und lieblicher Gesang erreichten sie, doch auch Heulen und Schreien; seltsam im Streit miteinander standen Gedanken und Urteil. Tief in ihrem Herzen klangen die Herzens- und Gedankenstimmen der Menschenbrust wieder; es erbrauste im Chor:
„Nur Sturm ist unser Erdenlos,
eine Nacht, darin wir weinen.“
Aber es ertönte auch der Gesang:
„Unser Leben ist die lieblichste Ros“
Und Freudensonnen uns scheinen.“
Und klang es bitter:
„Ein jeder denket nur an sich,
Auf den Nutzen geht alles Streben.“
So lautete es als Antwort:
„Ein Strom der Liebe geht inniglich
Durch unser Erdenleben.“
Wohl hörte sie die Worte:
„Das Ganze ist so klein und dumm,
Man kehr einmal die Dinge um.“
Aber sie hörte auch:
„So viele Taten sind groß und gut
In der Welt man nichts davon wissen tut.“
und klang es ringsum in brausendem Chor:
„Schab Rübchen nur, lach alles aus,
Bell mit, wenn Hunde bellen!“
so erklang es in des blinden Mädchens Herzen:
„Vertrau auf Gott in Nacht und Graus
Stets rinnen seine Quellen“
Aber darin konnte sich der Teufel nicht finden. Er hatte mehr Verstand als zehntausend Männer, und so wusste er sich zu helfen. Er ging in den Sumpf, nahm die aus dem fauligen Wasser aufsteigenden Blasen, ließ das siebenfache Echo des Lügenwortes über sie hinschallen, um sie kräftiger zu machen. Er pulverisierte bezahlte Ehrenverse und lügenhafte Leichenpredigten, so viele sich nur finden ließen, kochte sie in Tränen, die der Neid geweint hatte, streute oben etwas Schminke darauf, die von einer vergilbten Jungfernwange gekratzt war, und schuf hieraus eine Mädchengestalt, die in Bewegung und Aussehen der des segensreichen blinden Mädchens glich. „Den milden Engel des Gefühls“ nannten sie die Menschen, und so darauf legte der Teufel sein Spiel an. Die Welt wusste nicht, wer von den beiden die Richtige war, und woher sollte die Welt das auch wissen.
„Vertrau auf Gott in Nacht und Graus,
Stets rinnen seine Quellen.“
sang das blinde Mädchen in vollem Glauben. Die vier grünen Blätter vom Baume der Sonne hatte sie Wind und Wetter übergeben, um sie als Brief und Gruß an ihre Brüder gelangen zu lassen, und sie war dessen ganz sicher, dass ihr Wunsch sich erfüllen würde, ja, und auch das Juwel würde sich finden, das alle irdische Herrlichkeit überstrahlte; von der Menschheit Stirn würde es bis zu ihres Vaters Haus leuchten.
„Bis zu meines Vaters Hause“ wiederholte sie, „ja, auf der Erde ist des Edelsteines Stätte, und mehr als die Überzeugung davon bringe ich mit. Ich spüre bereite seine Glut, stärker und stärker schwillt sie in meiner geschlossenen Hand. Jedes Wahrheitskörnchen, so fein, dass der scharfe Wind es tragen und mit sich fahren konnte, fing ich auf und bewahrte es. Ich ließ es vom Dufte alles Schönen durchdringen, und es gibt in der Welt soviel davon, selbst für Blinde. Ich nahm den Klang vom Herzschlage guter Menschen und legte ihn dazu. Staubkörnchen sind alles, was ich bringe, aber doch der Staub jenes Edelsteines in reicher Fülle, meine ganze Hand ist voll davon“ und sie streckte sie aus – dem Vater entgegen. Sie war in der Heimat; mit der Schnelle des Gedankenfluges hatte sie sie erreicht, während sie den unsichtbaren Faden nach ihres Vaters Hause nicht fahren ließ.
Die bösen Mächte fuhren mit Orkangewalt über der Sonne Baum hin, drangen mit einem Windstoß durch die offene Tür in die verborgene Schatzkammer ein.
„Der Wind weht es fort“ rief der Vater und griff um die Hand, die sie geöffnet hatte.
„Nein“ rief sie mit gläubigem Bewusstsein. „Es kann nicht verwehen. Ich fühle wie sein Strahl tief innen meine Seele wärmt.“
Und der Vater erschaute eine leuchtende Flamme, als der Staub aus ihrer Hand über die weißen Blätter des Buches wehte, die von der Gewissheit des ewigen Lebens Kunde geben sollten; in blendendem Glanze stand dort eine Schrift, ein einziges sichtbares Wort nur, das eine Wort: GLAUBE.
Und bei ihnen waren wieder die vier Brüder; Sehnsucht nach der Heimat hatte sie ergriffen und geführt, als das grüne Blatt auf ihre Brust gefallen war. Sie waren gekommen, und die Zugvögel folgten ihnen und der Hirsch, die Antilope und alle Tiere des Waldes. Sie wollten auch teilnehmen an der Freude, und weshalb sollten es die Tiere nicht, wenn sie es fühlen konnten.
Wie eine leuchtende Staubsäule sich vor unseren Augen dreht, wenn durch ein Löchlein in der Tür ein Sonnenstrahl in die staubige Stube fällt, nur schöner – denn selbst der Regenbogen ist zu schwer und nicht leuchtend genug an Farbe gegen den Anblick, der sich hier zeigte – erhob sich aus den Blättern des Buches von dem leuchtenden Worte „Glauben“ jedes Wahrheitskörnchen mit dem Glanze des Schönen, mit dem Klange des Guten; stärker erstrahlte es, als die Feuersäule, die in der Nacht, als Moses mit dem Volke Israel nach dem Lande Kanaan zog, geleuchtet hatte. Vom Worte Glauben führte der Hoffnung Brücke hinüber zur Alliebe Gottes in die Unendlichkeit.
Über diese Märchen
Dieses Märchen wurde 1858 zum ersten mal in dem Buch namens ”Nye Eventyr og Historier. Anden Række. Første Samling. 1861” veröffentlicht.