Des Hauswarts Sohn
Original-Übersetzung
Der General wohnte im ersten Stockwerk, der Hauswart wohnte im Keller; es war ein großer Abstand zwischen den beiden Familien, das ganze Erdgeschoss und die Rangordnung; aber unter einem Dache wohnten sie und mit der Aussicht auf die Straße und den Hof. Und auf dem Hof war ein Rasenplatz mit einer blühenden Akazie, wenn sie blühte, und darunter saß zuweilen eine geputzte Amme mit dem noch mehr geputzten Kind des Generals, der „kleinen Emilie“. Vor ihnen tanzte auf seinen bloßen Beinen des Hauswarts kleiner Junge mit den großen braunen Augen und dem dunklen Haar, und die Kleine lachte ihm zu und streckte die Händchen nach ihm aus, und wenn der General das von seinem Fenster aus sah, so nickte er hinunter und sagte: „Charmant!“ Die Generalin selber, die so jung war, dass sie fast ihres Gatten Tochter aus einer frühen Ehe hätte sein können, sah nie zu dem Fenster auf den Hof hinaus, aber sie hatte Befehl gegeben, der kleine Junge aus dem Keller dürfe gern mit dem Kinde spielen, es aber nicht anrühren. Die Amme gehorchte genau dem Befehl der gnädigen Frau.
Und die Sonne schien zu den Bewohnern des ersten Stockwerks und zu denen im Keller hinein, die Akazie setzte Blüten an, und sie fielen wieder ab, und im nächsten Jahr kamen neue; der Baum blühte, und des Hauswarts kleiner Sohn blühte, er sah aus wie eine frische Tulpe.
Die kleine Tochter des Generals blieb fein und bleich wie das blassrosa Blatt der Akazienblüte. Jetzt kam sie nur noch selten hinunter zu dem Baum, sie schöpfte frische Luft in der Kutsche. Sie fuhr mit Mama spazieren, und dann nickte sie immer Hauswarts Georg zu, ja, warf ihm ein Kusshändchen zu, bis ihre Mutter sagte, dass sie jetzt zu groß dazu sei.
Eines Morgens sollte er dem General die Zeitungen und Briefe hinaufbringen, die der Postbote unten beim Hauswart abgegeben hatte. Als er die Treppe hinauflief und an der Tür zum Sandloch vorbeikam, hörte er etwas da drinnen piepsen; es glaubte, es sei ein Küchlein, das sich dahinein verirrt habe, und statt dessen war es des Generals kleines Töchterchen in Flor und Spitzen.
„Sag es nur ja nicht Papa und Mama, denn dann werden sie böse!“
„Aber was ist denn dies hier, kleines Fräulein?“ fragte Georg.
„Es brennt alles zusammen!“ sagte sie. „Es brennt lichterloh!“
Georg öffnete die Tür zum Kinderzimmer. Die Gardine am Fenster war fast heruntergebrannt, der Gardinenhalter stand in Flammen. Georg sprang hinauf, riss die Stange herunter, rief Leute herbei; ohne ihn wäre ein Hausbrand entstanden.
Der General und die Generalin examinierten die kleine Emilie.
„Ich hab nur ein einziges Streichholz genommen“, sagte sie, „da brannte es gleich, und die Gardine brannte auch gleich. Ich spuckte, um zu löschen, ich spuckte, soviel ich nur konnte, aber ich hatte nicht Spucke genug, und da lief ich hinaus und versteckte mich, weil Papa und Mama böse werden.“
„Du spucktest!“ sagte der General. „Was für ein Wort ist das! Wenn hast du gehört, dass Papa oder Mama „spucken“ gesagt haben? Das wirst du unter gehört haben!“
Aber der kleine Georg bekam vier Schilling. Die wurden nicht beim Konditor angelegt, sie wanderten in die Sparkasse, und bald waren da so viele Schillinge, dass er sich einen Malkasten kaufen konnte, und nun malte er alle seine Zeichnungen an. Er hatte eine ganze Menge Zeichnungen, die kamen ihm förmlich aus den Fingern und aus dem Bleistift heraus. Die ersten bunten Bilder schenkte er der kleinen Emilie.
„Charmant!“ sagte der General; selbst die Generalin gab zu, dass man deutlich sehen könne, was der Kleine sich gedacht hatte. „Genie hat er!“ Die Worte brachte die Frau des Hauswarts mit in den Keller hinab.
Der General und seine Frau waren vornehme Leute; sie hatten zwei Wappen an ihrem Wagen; eins für einen jeden von ihnen; die gnädige Frau hatte das Wappen auf jedem Kleidungsstück, auswendig und inwendig, auf ihrer Nachtmütze und ihrer Nachtzeugtasche. Das eine Wappen, das der Gnädigen, war ein kostbares Wappen, ihr Vater hatte es für blanke Taler gekauft, denn er war nicht damit geboren, sie auch nicht; sie war zu früh gekommen, sieben Jahre vor dem Wappen; dessen erinnerten sich die meisten Leute, nur nicht die Familie. Das Wappen des Generals war alt und groß, es war keine Kleinigkeit, es mit Anstand zu tragen, geschweige denn, zwei Wappen zu tragen. Das sah man der Generalin denn auch an, wenn sie steif und stattlich zum Hofball fuhr.
Der General war alt und grau, aber er saß gut zu Pferd, das wusste er, und jeden Tag ritt er aus, seinen Reitknecht in passendem Abstand hinter sich. Wenn er in Gesellschaft kam, so sah es aus, als komme er auf seinem hohen Ross hereingeritten, und er hatte so viele Orden, dass es fast unbegreiflich war, aber das war nun wirklich nicht seine Schuld. Als ganz junger Mann hatte er die militärische Karriere eingeschlagen und hatte alle die großen Herbstmanöver mitgemacht, die in Friedenszeiten über die Truppen abgehalten wurden. Aus jeder Zeit stammte eine Anekdote, die einzige, die er zu erzählen wusste: sein Unteroffizier schnitt einem der Prinzen den Rückzug ab und machte ihn zum Gefangenen, und nun musste der Prinz mit seinem kleinen Trupp gefangener Soldaten, selber als Gefangener, hinter dem General her in die Stadt einreichten. Das war ein unvergleichliches Ereignis, das während all der Jahre von dem General wieder erzählt wurde mit genau denselben denkwürdigen Worten, die er gesagt hatte, als er dem Prinzen den Säbel wieder überreicht: „Nur mein Unteroffizier konnte Eure Hoheit gefangen nehmen, ich hätte es nie gekonnt!“ Und der Prinz hatte ihm darauf geantwortet: „Sie sind unvergleichlich!“ In einem wirklichen Krieg war der General niemals gewesen; als es wirklich Krieg gab, war der General zur Diplomatie übergegangen und hielt sich längere Zeit an drei verschiedenen ausländischen Höfen auf. Er sprach die französische Sprache so gut, dass er seine Muttersprache fast ganz vergaß; er tanzte gut, er ritt gut, eine Unmenge von Orden schmückten seine Brust; die Schildwachen präsentierten vor ihm, eins der schönsten Mädchen ward seine Gattin, und sie bekamen ein entzückendes kleines Kind, es war so liebreizend, dass man hätte denken können, es sei vom Himmel gefallen, und der Sohn des Hauswarts tanzte auf dem Hofe vor ihm und schenkte ihm alle seine buntgemalten Zeichnungen, und die Kleine sah sie an und freute sich darüber und zerriss sie. Sie war so fein und so niedlich.
„Mein Rosenblatt!“ sagte die Generalin. „Für einen Prinzen bist du geboren!“ Der Prinz stand bereits draußen vor der Tür, man wusste es nur nicht; die Menschen sehen nicht weit über die Türschwelle hinaus.
„Neulich hat unser Junge, weiß Gott, sein Butterbrot mit ihr geteilt!“ sagte die Frau des Hauswarts. „Es war weder Käse noch Fleisch darauf, aber es hat ihr geschmeckt, als wenn es Rinderbraten gewesen wäre. Das hätte was gegeben, wenn Generals die Mahlzeit gesehen hätten, aber sie haben es gottlob nicht gesehen!“
Georg hatte sein Butterbrot mit der kleinen Emilie geteilt; gern hätte er sein Herz mit ihr geteilt, wenn es ihr nur Vergnügen gemacht hätte. Er war ein guter Junge, er war aufgeweckt und klug, er besuchte jetzt die Abendschule der Akademie, um richtig zeichnen zu lernen. Die kleine Emilie machte ebenfalls Fortschritte in bezug auf Kenntnisse; sie sprach französisch mit ihrer Bonne und hatte Unterricht beim Tanzmeister.
„Zu Ostern soll Georg eingesegnet werden!“ sagte die Frau des Hauswarts; so weit war Georg.
„Am richtigsten wäre es wohl, wenn er dann in die Lehre käme“, sagte der Vater. „Eine anständige Profession muss es sein! Und dann sind wir ihn aus dem Hause los!“
„Er wird doch bei uns schlafen müssen!“ sagte die Mutter. „Es ist nicht leicht, einen Meister zu finden, der Platz hat. Kleiden müssen wir ihn ja auch, das bisschen Essen, was er isst, werden wir auch schon aufbringen, mit ein paar gekochten Kartoffeln ist er ja zufrieden, freien Unterricht hat er. Lass du ihn nur seinen Weg gehen, du sollst sehen, wir werden Freude an ihm erleben, das hat der Professor auch gesagt!“
Der Konfirmationsanzug war fertig, Mutter hatte ihn selber genäht, aber er war vom Flickschneider zugeschnitten, und der hatte einen guten Schnitt; wäre er anders gestellt gewesen, so dass er eine Werkstatt mit Gesellen hätte halten können, so hätte der Mann sehr wohl Hofschneider werden können, sagte die Frau des Hauswarts.
Die Kleider waren fertig, und der Konfirmand war bereit. Georg erhielt an seinem Konfirmationstag eine große Tombakuhr von seinem Paten, dem alten Gehilfen des Speckhökers. der der wohlhabendste von Georgs Paten war. Die Uhr war alt und erprobt, sie ging immer vor, aber das ist besser, als wenn sie nachgeht. Das war ein kostbares Geschenk; und von Generals kam ein Gesangbuch in Saffianleder, von dem kleinen Fräulein gesandt, dem Georg so oft Bilder geschenkt hatte. Voran im Buch stand sein Name und ihr Name und „Huldvolle Gönnerin“. Das war nach dem Diktat der Generalin geschrieben, und der General hatte es durchgelesen und „Charmant!“ dazu gesagt.
„Das war wirklich eine große Aufmerksamkeit von einer so vornehmen Herrschaft“, sagte die Frau des Hauswarts; und Georg musste in seinem Konfirmationsanzug und mit dem Gesangbuch hinauf und sich bedanken. Die Generalin saß ganz eingehüllt da und hatte ihre großen Kopfschmerzen, die sie immer hatte, wenn sie sich langweilte. Sie sah Georg sehr freundlich an und wünschte ihm alles Gute und dass er niemals ihre Kopfschmerzen bekommen möchte. Der General war im Schlafrock und Zipfelmütze und hatte russische Stiefel mit roten Schäften an; er ging dreimal im Zimmer auf und nieder, in Gedanken und Erinnerungen versunken, dann blieb er stehen und sagte:
„Lieber Georg, so bist du denn also jetzt in die Christenheit aufgenommen! Sei auch ein braver Mann, der seine Obrigkeit ehrt! Wenn du einstmals ein alter Mann bist, kannst du sagen, dass dir der General diesen Ratschlag mit auf den Weg gegeben hat!“
Dies war eine längere Rede, als wie sie der General sonst hielt, darauf kehrte er wieder zu seinen stillschweigenden Betrachtungen zurück und sah vornehm aus. Doch von allem, was Georg hier oben sah und hörte, haftete das kleine Fräulein Emilie am festesten in seinem Gedächtnis. Wie süß und sanft war sie doch, wie schwebend, wie fein! Wenn sie abgezeichnet werden sollte, musste es in einer Seifenblase geschehen. Es hing ein Duft in ihren Kleidern, in ihrem blondgelockten Haar, als sei sie ein eben erblühter Rosenstock; und mit ihr hatte er einmal sein Butterbrot geteilt! Sie hatte es mit mächtigem Appetit verzehrt und ihm bei jedem zweiten Bissen zugenickt. Ob sie sich dessen noch entsann? Freilich, sie hatte ihm ja in Erinnerung hieran das schöne Gesangbuch geschenkt, und als zum erstenmal wieder der erste Neumond im neuen Jahr am Himmel stand, ging er mit einem Stück Brot und einem Schilling hinaus und schlug im Gesangbuch auf, um zu sehen, welcher Gesang für ihn bestimmt sei. Es war ein Lob- und Danklied; und dann schlug er auf, um zu sehen, was der kleinen Emilie bestimmt sein würde; er nahm sich recht in acht, dass er nicht dort aufschlug, wo die Sterbelieder standen, und dann geriet er trotzdem zwischen Grab und Tod. Aber es war ja Unsinn, an so etwas zu glauben. Und doch ergriff ihn eine große Angst, als das reizende kleine Mädchen bald darauf das Bett hüten musste und jeden Mittag der Wagen des Doktors vor der Tür hielt.
„Sie behalten sie nicht!“ sagte die Frau des Hauswarts. „Der liebe Gott weiß auch, wen er gerne haben möchte!“
Aber sie behielten sie; und Georg zeichneten Bilder und schickte sie ihr; er zeichnete das Schloss des Zaren, den alten Kreml in Moskau, genau so, wie er dastand mit Kuppeln und Türmen, sie sahen aus wie sieben große grüne und vergoldete Gurken, wenigstens auf Georgs Zeichnung. Sie machten der kleinen Emilie so viel Vergnügen, und deswegen schickte ihr Georg im Laufe der Woche noch ein paar Bilder, alles Gebäude, denn dabei konnte er selber sich so viel denken hinter den Türen und Fenstern.
Er zeichnete ein chinesisches Haus mit einem Glockenspiel durch alle sechzehn Stockwerke; er zeichnete zwei griechische Tempel mit schlanken Marmorsäulen und einer Treppe ringsherum; er zeichnete eine Kirche aus Norwegen, man konnte sehen, dass sie ganz aus Balken war, ausgehauen und wunderlich zusammengestellt, jedes Stockwerk sah so aus, als habe es Wiegenkufen. Am schönsten war aber doch auf einem Blatt das Schloss, das er „Der kleinen Emilie Schloss“ nannte. So sollte sie wohnen; das hatte sich Georg ganz genau ausgedacht, und er hatte zu diesem Schloss alles genommen, was er an den andern Gebäuden am schönsten fand. Es hatte geschnitzte Balken wie die norwegische Kirche, Marmorsäulen wie ein griechischer Tempel, ein Glockenspiel in jedem Stockwerk und ganz oben Kuppeln, grüne und vergoldete, wie am Kreml des Zaren. Es war ein richtiges Kinderschloss, und unter jedem Fenster stand geschrieben, wozu dieser Saal oder jenes Zimmer dienen sollte: hier schläft Emilie, hier tanzt Emilie, und hier spielt sie: Es kommt Besuch! Das war amüsant anzusehen, und es wurde gründlich angesehen.
„Charmant!“ sagte der General.
Aber der alte Graf, denn da war ein alter Graf, der noch vornehmer war als der General und selber ein Schloss und ein Rittergut hatte, der sagte nichts; er hörte, dass es von dem kleinen Sohn des Hauswarts ersonnen und gezeichnet sei. Nun, so klein war er ja freilich nicht mehr; er war ja schon eingesegnet. Der alte Graf betrachtete die Bilder und hatte so seine eigenen, stillen Gedanken dabei.
Eines Tages, als das Wetter so recht grau und nass und grässlich war, sollte sich der Tag für den kleinen Georg zu einem der lichtesten und besten gestalten. Der Professor der Kunstakademie ließ ihn zu sich kommen.
„Höre einmal, mein Freund, lass uns ein wenig miteinander plaudern! Der liebe Gott ist in Bezug auf Fähigkeiten sehr gut gegen dich gewesen, er ist auch in Bezug auf gute Menschen gut gegen dich. Der alte Graf dort von der Ecke hat mir von dir gesprochen; ich habe auch deine Bilder gesehen, darunter wollen wir einen Strich machen, es ist viel daran auszusetzen. Nun kannst du zweimal wöchentlich in meinen Zeichenunterricht kommen, dann wird es damit schon besser werden. Ich glaube, du hast mehr Anlage zum Baumeister als zum Maler; aber du hast ja Zeit genug, um dir das zu überlegen! Du musst jedenfalls noch heute zu dem alten Grafen im Eckhaus gehen, und danke du deinem Schöpfer, dass er dir den Mann gesandt hat!“
Der Graf wohnte in einem großen Eckhaus; da waren ausgehauene Elefanten und Dromedare um die Fenster herum, alles aus alten Zeiten; aber der alte Graf interessierte sich am meisten für die neue Zeit und alles gute, was sie brachte, mochte es aus dem ersten Stockwerk, aus dem Keller oder der Mansarde kommen.
„Ich glaube“, sagte die Frau des Hauswarts, „dass, je vornehmer die Leute wirklich sind, je weniger stellen sie sich an. Wie reizend und natürlich der alte Graf ist! Und er spricht, weiß Gott, geradeso wie du und ich; das können Generals nicht. Georg war ja gestern auch ganz aus dem Häuschen, weil der Graf so freundlich gegen ihn gewesen war; und heute, wo ich mit dem mächtigen Mann gesprochen hat, geht es mir geradeso! War es nun nicht ein Glück, dass wir den Jungen nicht in die Handwerkerlehre gegeben hatten! Talent hat er!“
„Aber das nützt alles nichts, wenn man keine Unterstützung von außen hat!“ sagte der Vater.
„Die hat er jetzt!“ sagte die Mutter. „Der Graf sprach sich ganz klar und deutlich darüber aus!“
„Von Generals ist das Ganze aber doch ausgegangen!“ sagte der Vater. „Bei denen müssen wir uns auch bedanken.“
„Das können wir ja gern tun“, sagte die Mutter, „wenn ich auch gerade nicht einsehen kann, was wir denen groß zu verdanken haben. Aber dem lieben Gott will ich danken, und ich will mich auch bei ihm dafür bedanken, dass die kleine Emilie wieder besser wird!“
Die kleine Emilie machte wirklich Fortschritte, und Georg machte auch Fortschritte; im Lauf des Jahres bekam er die kleine silberne Medaille und später auch die große.
„Es wäre doch besser gewesen, wenn wir ihn in die Handwerkerlehre gegeben hätten“, sagte die Frau des Hauswarts und weinte, „dann hätten wir ihn jetzt behalten. Was soll er in Rom? Ich krieg ihn nie wieder zu sehen, selbst wenn er je wieder nach Hause kommt, aber er kommt nie wieder nach Hause, das süße Kind!“
„Das ist aber doch sein Glück und sein Ruhm!“ sagte der Vater.
„Ja, das sagst du wohl!“ entgegnete die Mutter. „Du sagst auch vieles, was du gar nicht meinst! du bist ebenso betrübt wie ich!“
Und es hatte seine Richtigkeit mit der Betrübnis und mit der Abreise. Es sei ein großes Glück für den jungen Menschen, sagten alle Leute.
Und nun ging es ans Abschiednehmen. Auch beim General; aber die Gnädige ließ sich nicht blicken, sie hatte ihre großen Kopfschmerzen. Der General erzählte zum Abschied seine einzige Anekdote, was er zu dem Prinzen gesagt hatte und was der Prinz zu ihm gesagt hatte: „Sie sind unvergleichlich!“ Und dann reichte er Georg die Hand.
Auch Emilie reichte Georg ihre Hand und sah beinahe betrübt aus, aber am allerbetrübtesten war doch Georg.
Die Zeit vergeht, wenn man etwas tut, sie vergeht auch, wenn man nichts tut. Die Zeit ist gleich lang, aber nicht gleich nützlich. Für Georg war sie nützlich und gar nicht lang, außer wenn er an die Lieben in der Heimat dachte. Wie mochte es untern und oben aussehen? Ja, darüber ward geschrieben; und man kann so viel in einen Brief hineinlegen, den lichten Sonnenschein und die schweren, trüben Tage. Die lagen im Brief, sie meldeten, dass der Vater gestorben und die Mutter allein zurückgeblieben war. Die kleine Emilie sei ein wahrer Engel des Trostes gewesen, sie sei zu ihr in die Kellerwohnung gekommen, schrieb die Mutter, und über sich selber fügte sie hinzu, dass man ihr erlaubt habe, den Hauswartposten zu behalten.
Die Generalin führte Tagebuch; darin waren jede Gesellschaft, jeder Ball, den sie besucht hatte, aufgeführt, auch alle Visiten, die sie erhielt. Das Tagebuch war mit den Visitenkarten der Diplomaten und des höchsten Adels illustriert. Sie war stolz auf ihr Tagebuch, es wuchs im Laufe langer Jahre, vieler Jahre, unter vielen großen Kopfschmerzen, aber auch in vielen hellen Nächten, das heißt auf Hofbällen. Emilie war zum erstenmal auf einem Hofball gewesen; die Mutter war in Rosa mit schwarzen Spitzen: spanisch! Die Tochter in Weiß, so klar und fein. Grüne, seidene Bänder flatterten wie Schilf in dem blonden Lockenhaar, auf dem ein Kranz von weißen Seerosen ruhte; die Augen waren so blau und klar, der Mund so fein und rot, sie glich einer kleinen Seejungfrau, so lieblich, wie man sie sich nur denken kann. Drei Prinzen tanzten mit ihr, dass heißt, erst der eine und dann der andere; die Generalin hatte acht Tage lang keine Kopfschmerzen.
Aber der erste Ball blieb nicht der letzte, das konnte Emilie nicht aushalten, daher war es gut, dass der Sommer mit Ruhe und Aufenthalt in der frischen Luft kam. Die Familie war auf das Schloss des alten Grafen eingeladen.
Das war ein Schloss und ein Garten, die es sich zu sehen verlohnte. Ein Teil davon war ganz wie in alten Zeiten mit steifen, grünen Hecken, als gehe man zwischen grünen Schirmwänden, in denen Gucklöcher waren. Buchsbaum und Taxus standen zu Sternen und Pyramiden ausgeschnitten da, das Wasser sprang aus großen Grotten, die mit Muschelschalen belegt waren; ringsumher standen steinerne Figuren aus allerschwerstem Stein, das konnte man den Gesichtern und auch den Kleidern ansehen; jedes Blumenbeet hatte seine Gestalt, als Fisch, Wappenschild oder Namenszug, das war der französische Teil des Garten; aus dem gelangte man gleichsam in den freien, frischen Wald hinein, wo die Bäume wachsen duften, wie sie wollten, und daher so groß und prächtig waren; das Gras war grün, und man durfte darauf gehen, es wurde auch gewalzt, geschnitten, gepflegt und gehütet; das war der englische Teil des Garten.
„Alte Zeit und neue Zeit!“ sagte der Graf. „Hier gleiten sie auch so gut ineinander hinein! In zwei Jahren wird das Schloss selber sein richtiges Aussehen bekommen, das wird eine ganze Verwandlung zu etwas Schönem und Besserem werden; ich werde Ihnen die Zeichnungen zeigen, und auch den Baumeister werde ich Ihnen zeigen, er ist heute zu Tische hier!“
„Charmant!“ sagte der General.
„Es ist paradiesisch hier!“ sagte die Generalin. „Und da haben Sie ja eine Ritterburg!“
„Das ist mein Hühnerhaus!“ sagte der Graf. „Die Tauben wohnen im Turm, die Kalikuten im ersten Stockwerk, aber im Erdgeschoss regiert die alte Else. Sie hat Fremdenzimmer nach allen Seiten: die Glucken für sich, die Hühner und Küchlein für sich, und die Enten, ja, die haben freien Zutritt zum Wasser!“
„Charmant!“ wiederholte der General.
Und sie gingen alle hinein, um diese Herrlichkeit zu sehen.
Die alte Else stand mitten in der Stube, und neben ihr stand Georg; er und die kleine Emilie sahen sich nach mehreren Jahren im Hühnerhaus wieder.
Ja, hier stand er, und er war gar schon vom Aussehen; sein Gesicht war offen und bestimmt, er hatte schwarzes, glänzendes Haar und um den Mund ein Lächeln, das zu sagen schien: hinter meinem Ohr sitzt ein Schelm, der kennt euch aus und ein. Die alte Else hatte ihre Holzschuhe ausgezogen und stand auf Socken da, zu Ehren der vornehmen Gäste. Und die Hühner glucksten, und der Hahn krähte, die Enten watschelten „gack, gack!“ Aber das feine, blasse Mädchen, die Tochter des Generals, stand da mit einem Rosenschimmer auf den sonst so bleichen Wangen, ihre Augen wurden so groß, und ihr Mund redete, ohne dass er auch nur ein einziges Wort gesagt hätte, und der Gruß, den Georg erhielt, war der entzückendste Gruß, den ein junger Mann sich von einer jungen Dame wünschen konnte, mit der er nicht verwandt war oder mit der er nicht sehr oft getanzt hatte; sie und der Maumeister hatten aber niemals zusammen getanzt.
Der Graf drückte ihm die Hand und stellte ihn vor. „Ganz fremd ist er Ihnen nicht, unser junger Freund, Herr Georg!“
Die Generalin verneigte sich, die Tochter war kurz davor, ihm die Hand zu reichen, aber sie reichte sie ihm doch nicht.
„Unser lieber Herr Georg!“ sagte der General. „Alte Hausfreunde! Charmant!“
„Sie sind ja vollständig Italiener geworden!“ sagte die Generalin. „Und Sie sprechen die Sprache wohl wie ein Eingeborener!“
Die Generalin singe die Sprache, spreche sie aber nicht, sagte der General.
Bei Tische saß Georg zu Emiliens Rechten, der General führte sie, der Graf führte die Generalin.
Herr Georg sprach und erzählte, und er erzählte so gut, er war das Wort und der Geist bei Tische, obwohl der alte Graf es auch sein konnte. Emilie saß stumm da, die Ohren hörten, die Augen strahlten.
Aber sie sagte nichts.
Auf der Veranda zwischen den Blumen standen sie und Georg, die Rosenhecke entzog sie den Blicken. Georg hatte wieder das Wort, hatte es zuerst.
„Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit gegen meine alte Mutter!“ sagte er. „Ich weiß alles, in der Nacht, als mein Vater starb, kamen Sie zu Mutter hinunter und waren bei ihr, bis seine Augen sich geschlossen hatten, ich danke Ihnen!“ Er ergriff Emiliens Hand und küsste sie, das konnte er wohl tun bei der Gelegenheit, sie ward dunkelrot, drückte ihm aber die Hand und sah ihn mit ihren blauen, herzensguten Augen an.
„Ihre Mutter war eine liebevolle Seele“ Wie hat sie Sie geleibt! Und alle Ihre Briefe ließ sie mich lesen, ich glaube fast, ich kenne Sie! Wie freundlich waren Sie gegen mich, als ich noch klein war, Sie schenkten mir Bilder -!“
„Die Sie zerrissen!“ sagte Georg. „Nein, ich habe mein Schloss noch, die Zeichnung!“
„Nun muss ich es wirklich bauen!“ sagte Georg, und er wurde selber ganz warm bei dem, was er sagte.
Der General und die Generalin sprachen in ihren eigenen Zimmern über den Sohn des Hauswarts, er wisse sich ja zu bewegen und drücke sich mit Verstand und Kenntnissen aus. Er könnte Informator sein!“ sagte der General. „Geist!“ sagte die Generalin, und dann sagte sie nichts weiter.
In der schönen Sommerzeit kam Herr Georg häufiger auf das Schloss des Grafen. Er ward vermisst, wenn er nicht kam.
„Wie viel doch der liebe Gott Ihnen vor uns andern armen Menschen voraus gegeben hat!“ sagte Emilie zu ihm. „Erkennen Sie das nun auch so recht an?“ Es schmeichelte Georg, dass das schöne junge Mädchen zu ihm aufsah, erfand sie so ungewöhnlich begabt.
Und der General gelangte mehr und mehr zu der Überzeugung, dass Georg unmöglich ein Kellerkind sein könne. „Die Mutter war freilich eine sehr anständige Frau“, sagte er, „das muss ich ihr im Grabe nachsagen!“
Der Sommer verging, der Winter kam, da sprach man wieder von Herrn Georg; er war selbst höchsten Ortes gern gesehen und gut aufgenommen, der General war ihm auf einem Hofball begegnet.
Jetzt sollte im Hause ein Ball zu Ehren von Emilie stattfinden. Ob man Herrn Georg einladen konnte?
„Wen der König einladet, den kann auch der General einladen!“ sagte der General und erhob sich einen ganzen Zoll vom Fußboden in die Höhe.
Herr Georg wurde eingeladen und er kam; und es kamen Grafen und Prinzen und der eine tanzte immer noch besser als der andere; aber Emilie konnte nur den ersten Tanz tanzen; in dem vertrat sie sich den Fuß, nicht schlimm, aber sie fühlte es doch, und da musste sie vorsichtig sein, mit dem Tanzen innehalten und den andern zusehen. So saß sie denn da und sah zu, und der Baumeister stand neben ihr.
„Sie schildern ihr wohl die ganze Peterskirche?“ sagte der General, indem er vorüberging und wohlwollend lächelte.
Mit demselben Lächeln empfing er Herrn Georg einige Tage später. Der junge Mann kam natürlich, um für die Balleinladung zu danken, was sollte ihn sonst auch herführen? Ja, das Überraschendste, Erstaunlichste führte ihn her: mit wahnwitzigen Worten kam er, der General wollte seinen Ohren nicht trauen; „pyramidale Deklamation“, ein ganz undenkbares Ansinnen: Herr Georg bat um Emiliens Hand!
„Mensch!“ sagte der General und bekam einen dunkelroten Kopf. „Ich begreife Sie nicht! Was sagen Sie? Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht! Mein Herr! Mensch! Wie kommen Sie darauf, in mein Haus einzubrechen! Darf ich hier sein, oder darf ich nicht hier sein?“ Und damit ging er rücklings in sein Schlafzimmer, drehte den Schlüssel um und ließ Herrn Georg allein dastehen. Der blieb einige Minuten stehen und drehte sich dann ebenfalls um. Im Korridor stand Emilie.
„Nun, was sagte mein Vater?“ fragen sie, und ihre Stimme bebte.
Georg drückte ihr die Hand. Er lief vor mir davon! Aber es werden schon bessere Zeiten kommen!“
In Emiliens Augen standen Tränen; aus des jungen Mannes Augen strahlten Zuversicht und Mut; und die Sonne beschien die beiden und gab ihnen ihren Segen.
Kochend vor Wut saß der General in seinem Zimmer; ja, es kochte noch in ihm, es kochte über in Worten und Ausdrücken: „Wahnsinn! Hauswartsirrsinn!“ –
Eine Stunde war vergangen, da hatte die Generalin es aus des Generals eignem Munde vernommen, und sie rief Emilie zu sich und schloss sich mir ihr ein.
„Du armes Kind! Dich so zu beleidigen! Uns so zu beleidigen! Auch du hast Tränen in den Augen, aber das steht dir! Du bist bezaubernd in Tränen! Du gleichst mir an meinem Hochzeitstage. Weine nur, liebe Emilie!“
„Ja, weinen muss ich“, sagte Emilie, „falls du und Vater nicht ja sagt!“
„Kind“, rief die Generalin, „bist du krank? Du redest im Irrsinn, und ich bekomme meine schrecklichen Kopfschmerzen. Ach, welch Unglück ist über unser Haus gekommen! Du willst doch nicht, dass deine Mutter stirbt! Emilie, dann hast du keine Mutter mehr!“
Und die Augen der Generalin wurden feucht, sie konnte es nicht aushalten, an ihren eignen Tod zu denken.
In der Zeitung stand unter andern Ernennungen zu Lesen: Herr Georg zum Professor ernannt, fünfte Rangklasse Nummer acht.
„Schade, dass seine Eltern im Grabe liegen und das nicht lesen können“, sagten die neuen Hauswartsleute, die jetzt im Keller unter dem General wohnten; sie wussten, dass der Professor innerhalb ihrer vier Wände geboren und aufgewachsen war.
„Ja, für den Titel muss er ein gutes Stück Geld bezahlen!“ sagte der Mann.
„Ach, was macht der sich aus den paar Talern“, sagte die Frau, „die kann er sich leicht wieder verdienen. Und eine reiche Frau kriegt er natürlich auch. Wenn wir Kinder hätten, dann sollte unser Kind auch Baumeister und Professor werden.“
Georg bekam eine gute Nachrede im Keller, aber auch im ersten Stockwerk wurde gut von ihr gesprochen, das erlaubte sich der alte Graf.
Die Zeichnungen aus der Kinderzeit gaben den Anlass dazu. Aber weshalb sprach man von diesen Zeichnungen? Die Rede war auf Russland gekommen, aus Moskau, und dann lag ja der Kreml so nahe, und en Kreml hatte der kleine Georg einmal für Fräulein Emilie gezeichnet, er hatte so viele Bilder gezeichnet; des einen erinnerte sich der Graf noch ganz besonders: „Emiliens Schloss“, wo sie schlief, wo sie tanzte und „Es kommt Besuch“ spielte; der Professor besaß große Tüchtigkeit, er würde gewiss als alter Konferenzrat sterben, das war gar nicht unmöglich, und vorher würde er wohl auch ein Schloss für die jetzt noch so junge Dame erbaut haben; warum auch nicht?
„Das war ja eine sonderbare Ausgelassenheit!“ bemerkte die Generalin, als der Graf gegangen war. Der General schüttelte nachdenklich den Kopf, ritt aus, den Reitknecht in geziemendem Abstand hinter sich, und saß stolzer denn je zu Ross.
Es war Emiliens Geburtstag, Blumen und Bücher, Briefe und Visitenkarten wurden gebracht; die Generalin küsste sie auf den Mund, der General auf die Stirn; es waren liebevolle Eltern. Und es kam hoher Besuch, zwei von den Prinzen. Man sprach von Bällen und vom Theater, von diplomatischen Sendungen, von der Regierung der Länder und Reiche. Man sprach von Tüchtigkeit, von des eignen Landes Tüchtigkeit, und dadurch kam die Rede auf den jungen Professor, den Herrn Baumeister.
„Der baut für seine Unsterblichkeit“, wurde gesagt, „er baut sich auch wohl in eine unser ersten Familien hinein!“
„Eine der ersten Familien!“ wiederholte später der General der Generalin gegenüber. „Wer ist eine unserer ersten Familien?“
„Ich weiß, worauf angespielt wurde“, sagte die Generalin, „aber ich sage es nicht! Gott lenkt die Geschicke! Wundern soll es mich aber doch!“
„Ich möchte mich gern mit dir wundern!“ sagte der General. „Ich habe keine Ahnung!“ Und er versank in Gedanken.
Es liegt eine Macht, eine unaussprechliche Macht in dem Gnadenquell von oben; Hofgunst, Gottes Gunst – und die Gunst all dieser Gnade besaß der kleine Georg. Aber wir vergessend en Geburtstag.
Emiliens Zimmer duftete von Blumen, die ihr Freunde und Freundinnen gesandt, auf dem Tische lagen schöne Geschenke als Grund und zur Erinnerung, aber nicht die geringste Gabe von Georg. Die konnte nicht kommen, brauchte auch nicht zu kommen, das ganze Haus war eine Erinnerung an ihn. Selbst aus dem Sandloch unter der Treppe guckte die Erinnerungsblume hervor; dort hatte Emilie gepiepst, als die Gardine brannte und Georg als erste Spritze kam. Ein Blick zum Fenster hinaus und der Akazienbaum erinnerte an die Kinderzeit. Blüten und Blätter waren abgefallen, aber der Baum stand mit Reif bedeckt da wie ein ungeheurer Korallenzweig; und der Mond schien klar und groß zwischen den Zweigen hindurch, unverändert in all seiner Veränderlichkeit, ganz so wie damals, als Georg sein Butterbrot mit der kleinen Emilie teilte.
Sie nahm aus der Schublade die Zeichnungen von des Zaren Schloss und von ihrem eigenen Schloss, Erinnerungen an Georg. Und sie sah sie an und hatte ihre Gedanken dabei; sie gedachte des Tages, als sie unbemerkt von Vater und Mutter zu der Frau des Hauswarts hinabging, die in den letzten Zügen lag; sie hatte bei ihr gesessen, ihre Hand gehalten und ihre letzten Worte „Segen! – Georg!“ gehört. Die Mutter dachte an ihren Sohn. – Jetzt legte Emilie ihre Bedeutung dahinein. Ja, Georg war an ihrem Geburtstag bei ihr!
An nächsten Tage war wieder ein Geburtstag dort im Hause, der Geburtstag des Generals; er war am Tage nach seiner Tochter geboren, natürlich früher als sie, viele Jahre früher. Und es kamen wieder Geschenke, und unter diesen ein Sattel von prächtigem Aussehen, bequem und köstlich, nur einer von den Prinzen hatte einen ebensolchen. Von wen kam der? Der General war entzückt. Ein kleiner Zettel lag dabei, und darauf stand geschrieben: „Von einem, den der Herr General nicht kennt!“
„Wen in aller Welt kenne ich nicht!“ sagte der General. „Alle Menschen kenne ich!“ Und sein Gedanke durchschweifte die ganze große Gesellschaft; er kannte sie alle. „Er ist von meiner Frau!“ sagte er schließlich. „Sie will mich necken! Charmant!“
Aber die neckte nicht mehr, die Zeiten waren vorüber.
Und es war abermals ein Fest, ein großes Fest, aber diesmal nicht bei Generals; es war ein Kostümball bei einem der Prinzen; Masken waren ebenfalls gestattet.
Der General erschien als Rubens, in spanischer Tracht mit kleinem Tollenkragen, Degen und guter Haltung; die Generalin war Madame Rubens, in schwarzem Samt, hoch am Halse, schrecklich warm, mit einem Mühlsein um den Hals, das heißt natürlich mit einem großen Tollenkragen, ganz nach einem holländischen Gemälde, das der General besaß und an dem namentlich die Hände bewundert wurden, die sahen ganz so aus wie die der Generalin.
Emile war Psyche, in Flor und Spitzen. Sie war wie eine schwebende Schwanenflaumfeder, sie brauchte gar keine Flügel, sie trug sie nur als Psyche-Abzeichen.
Da war ein Glanz, eine Pracht, da waren Licht und Blumen, Reichtum und Geschmack; da war so viel zu sehen, dass man Madame Rubens‘ schöne Hände gar nicht beachtete.
Ein schwarzer Domino mit einer Akazienblüte auf der Kapuze tanzte mit Psyche.
„Wer ist das?“ fragte die Generalin.
„Seine königliche Hoheit!“ sagte der General. „Ich bin meiner Sache ganz sicher, ich habe ihn gleich am Händedruck erkannt!“
Die Generalin zweifelte.
General Rubens zweifelte nicht, näherte sich dem schwarzen Domino und schrieb ihm königliche Buchstaben in die Hand; sie wurden verneint, aber es wurde ein Fingerzeig gegeben:
„Die Devise des Sattels“ Einer, den der Herr General nicht kennt!“
„Aber dann kenne ich Sie ja!“ sagte der General. „Sie haben mir den Sattel geschenkt!“
Der Domino erhob die Hand und verschwand unter der Menge.
„Wer ist der schwarze Domino, mit dem du tanztest, Emilie?“ fragte die Generalin.
„Ich habe nicht nach seinem Namen gefragt“, antwortete sie.
„Weil du es wusstest! Es ist der Professor! Ihr Protege, Herr Graf, ist hier!“ fuhr sie fort und wandte sich an den Grafen, der in der Nähe stand. „Schwarzer Domino mit Akazienblute!“
„Wohl möglich, meine Gnädige!“ antwortete der Graf. „Aber einer der Prinzen ist übrigens ebenso kostümiert.“
„Ich kenne den Händedruck!“ sagte der General. „Von dem Prinzen habe ich den Sattel. Ich bin meiner Sache so sicher, dass ich ihn zu uns einladen kann.“
„Tun Sie das!“ sagte der Graf. „Wenn es der Prinz ist, so kommt er sicher!“
„Und ist es ein anderer, so kommt er sicher nicht!“ sagte der General und näherte sich dem schwarzen Domino, der gerade dastand und mit dem König redete. Der General bracht eine sehr ehrerbietige Einladung vor, damit sie einander kennen lernen könnten. Er lächelte so sicher in seiner Gewissheit, wen er einlud; er sprach laut und deutlich.
Der Domino lüftete seine Maske: es war Georg.
„Wiederholen der Herr General die Einladung?“
Der General wurde allerdings einen Zoll großer, nahm eine festere Haltung an, trat zwei Schritte zurück und einen Schritt vor wie bei einem Menuett, und es lag Ernst und Ausdruck in des Generals Gesicht, soviel sich hineinlegen ließ.
„Ich nehme niemals mein Wort zurück; der Herr Professor ist eingeladen!“ Und er verneigte sich mit einem Blick auf den König, der sicher das Ganze gehört hatte.
Und dann war die Mittagsgesellschaft bei Generals, und es waren nur der alte Graf und sein Protege eingeladen.
„Wenn ich erst den Fuß unterm Tisch habe“, meinte Georg, „so ist auch schon der Grundstein gelegt!“
Und der Grundstein wurde wirklich unter großer Feierlichkeit bei dem General und der Generalin gelegt.
Georg war erschienen und hatte sich, wie der General das ja an ihm kannte, ganz wie ein Mann aus der guten Gesellschaft unterhalten, war höchst interessant gewesen, der General hatte mehrmals sein „Charmant“ sagen müssen. Die Generalin sprach von ihrem kleinen Diner, sprach auch zu einer der Hofdamen davon, und diese, eine der geistreichsten Hofdamen, bat sich eine Einladung für das nächste Mal aus, wo der Professor kommen würde. Da musste er ja wieder eingeladen werden, und er wurde eingeladen und kam und war wieder charmant, konnte sogar Schach spielen.
„Der ist nicht aus dem Keller“, sagte der General, „er ist ganz sicher von vornehmer Herkunft, und daran ist der junge Mann ganz unschuldig!“
Der Professor, der in des Königs Hause verkehrte, konnte sehr wohl in des Generals Haus verkehren, aber von einem Festwachsen war keine Rede, außer in der ganzen Stadt.
Es wuchs fest. Der Tau der Gnade fiel von oben!
Es war daher gar keine Überraschung, dass, als der Professor Etatsrat wurde, Emilie Etatsrätin wurde.
„Das Leben ist eine Tragödie oder eine Komödie!“ sagte der General. „In der Tragödie sterben sie, in der Komödie kriegen sie sich!“
Hier kriegen sie sich. Und sie bekamen drei prächtige Jungen, aber nicht sofort.
Die süßen Kinder ritten auf ihren Steckenpferden durch Stuben und Säle, wenn sie bei Großvater und Großmutter waren. Und der General ritt auch auf dem Steckenpferd, ritt hinter ihnen her, „als Jockey hinter den kleinen Etatsräten!“
Die Generalin saß auf dem Sofa und lächelte, selbst wenn sie ihre großen Kopfschmerzen hatte.
Wie weit brachte Georg es und noch viel weiter, sonst wäre es ja nicht wert gewesen, die Geschichte von des Hauswarts Sohn zu erzählen.
Über diese Märchen
Dieses Märchen wurde 1866 zum ersten mal in dem Buch namens ”Nye Eventyr og Historier. Anden Række. Fjerde Samling. 1866” veröffentlicht.
Original-Übersetzung
Der General wohnte im ersten Stockwerk, der Hauswart wohnte im Keller; es war ein großer Abstand zwischen den beiden Familien, das ganze Erdgeschoss und die Rangordnung; aber unter einem Dache wohnten sie und mit der Aussicht auf die Straße und den Hof. Und auf dem Hof war ein Rasenplatz mit einer blühenden Akazie, wenn sie blühte, und darunter saß zuweilen eine geputzte Amme mit dem noch mehr geputzten Kind des Generals, der „kleinen Emilie“. Vor ihnen tanzte auf seinen bloßen Beinen des Hauswarts kleiner Junge mit den großen braunen Augen und dem dunklen Haar, und die Kleine lachte ihm zu und streckte die Händchen nach ihm aus, und wenn der General das von seinem Fenster aus sah, so nickte er hinunter und sagte: „Charmant!“ Die Generalin selber, die so jung war, dass sie fast ihres Gatten Tochter aus einer frühen Ehe hätte sein können, sah nie zu dem Fenster auf den Hof hinaus, aber sie hatte Befehl gegeben, der kleine Junge aus dem Keller dürfe gern mit dem Kinde spielen, es aber nicht anrühren. Die Amme gehorchte genau dem Befehl der gnädigen Frau.
Und die Sonne schien zu den Bewohnern des ersten Stockwerks und zu denen im Keller hinein, die Akazie setzte Blüten an, und sie fielen wieder ab, und im nächsten Jahr kamen neue; der Baum blühte, und des Hauswarts kleiner Sohn blühte, er sah aus wie eine frische Tulpe.
Die kleine Tochter des Generals blieb fein und bleich wie das blassrosa Blatt der Akazienblüte. Jetzt kam sie nur noch selten hinunter zu dem Baum, sie schöpfte frische Luft in der Kutsche. Sie fuhr mit Mama spazieren, und dann nickte sie immer Hauswarts Georg zu, ja, warf ihm ein Kusshändchen zu, bis ihre Mutter sagte, dass sie jetzt zu groß dazu sei.
Eines Morgens sollte er dem General die Zeitungen und Briefe hinaufbringen, die der Postbote unten beim Hauswart abgegeben hatte. Als er die Treppe hinauflief und an der Tür zum Sandloch vorbeikam, hörte er etwas da drinnen piepsen; es glaubte, es sei ein Küchlein, das sich dahinein verirrt habe, und statt dessen war es des Generals kleines Töchterchen in Flor und Spitzen.
„Sag es nur ja nicht Papa und Mama, denn dann werden sie böse!“
„Aber was ist denn dies hier, kleines Fräulein?“ fragte Georg.
„Es brennt alles zusammen!“ sagte sie. „Es brennt lichterloh!“
Georg öffnete die Tür zum Kinderzimmer. Die Gardine am Fenster war fast heruntergebrannt, der Gardinenhalter stand in Flammen. Georg sprang hinauf, riss die Stange herunter, rief Leute herbei; ohne ihn wäre ein Hausbrand entstanden.
Der General und die Generalin examinierten die kleine Emilie.
„Ich hab nur ein einziges Streichholz genommen“, sagte sie, „da brannte es gleich, und die Gardine brannte auch gleich. Ich spuckte, um zu löschen, ich spuckte, soviel ich nur konnte, aber ich hatte nicht Spucke genug, und da lief ich hinaus und versteckte mich, weil Papa und Mama böse werden.“
„Du spucktest!“ sagte der General. „Was für ein Wort ist das! Wenn hast du gehört, dass Papa oder Mama „spucken“ gesagt haben? Das wirst du unter gehört haben!“
Aber der kleine Georg bekam vier Schilling. Die wurden nicht beim Konditor angelegt, sie wanderten in die Sparkasse, und bald waren da so viele Schillinge, dass er sich einen Malkasten kaufen konnte, und nun malte er alle seine Zeichnungen an. Er hatte eine ganze Menge Zeichnungen, die kamen ihm förmlich aus den Fingern und aus dem Bleistift heraus. Die ersten bunten Bilder schenkte er der kleinen Emilie.
„Charmant!“ sagte der General; selbst die Generalin gab zu, dass man deutlich sehen könne, was der Kleine sich gedacht hatte. „Genie hat er!“ Die Worte brachte die Frau des Hauswarts mit in den Keller hinab.
Der General und seine Frau waren vornehme Leute; sie hatten zwei Wappen an ihrem Wagen; eins für einen jeden von ihnen; die gnädige Frau hatte das Wappen auf jedem Kleidungsstück, auswendig und inwendig, auf ihrer Nachtmütze und ihrer Nachtzeugtasche. Das eine Wappen, das der Gnädigen, war ein kostbares Wappen, ihr Vater hatte es für blanke Taler gekauft, denn er war nicht damit geboren, sie auch nicht; sie war zu früh gekommen, sieben Jahre vor dem Wappen; dessen erinnerten sich die meisten Leute, nur nicht die Familie. Das Wappen des Generals war alt und groß, es war keine Kleinigkeit, es mit Anstand zu tragen, geschweige denn, zwei Wappen zu tragen. Das sah man der Generalin denn auch an, wenn sie steif und stattlich zum Hofball fuhr.
Der General war alt und grau, aber er saß gut zu Pferd, das wusste er, und jeden Tag ritt er aus, seinen Reitknecht in passendem Abstand hinter sich. Wenn er in Gesellschaft kam, so sah es aus, als komme er auf seinem hohen Ross hereingeritten, und er hatte so viele Orden, dass es fast unbegreiflich war, aber das war nun wirklich nicht seine Schuld. Als ganz junger Mann hatte er die militärische Karriere eingeschlagen und hatte alle die großen Herbstmanöver mitgemacht, die in Friedenszeiten über die Truppen abgehalten wurden. Aus jeder Zeit stammte eine Anekdote, die einzige, die er zu erzählen wusste: sein Unteroffizier schnitt einem der Prinzen den Rückzug ab und machte ihn zum Gefangenen, und nun musste der Prinz mit seinem kleinen Trupp gefangener Soldaten, selber als Gefangener, hinter dem General her in die Stadt einreichten. Das war ein unvergleichliches Ereignis, das während all der Jahre von dem General wieder erzählt wurde mit genau denselben denkwürdigen Worten, die er gesagt hatte, als er dem Prinzen den Säbel wieder überreicht: „Nur mein Unteroffizier konnte Eure Hoheit gefangen nehmen, ich hätte es nie gekonnt!“ Und der Prinz hatte ihm darauf geantwortet: „Sie sind unvergleichlich!“ In einem wirklichen Krieg war der General niemals gewesen; als es wirklich Krieg gab, war der General zur Diplomatie übergegangen und hielt sich längere Zeit an drei verschiedenen ausländischen Höfen auf. Er sprach die französische Sprache so gut, dass er seine Muttersprache fast ganz vergaß; er tanzte gut, er ritt gut, eine Unmenge von Orden schmückten seine Brust; die Schildwachen präsentierten vor ihm, eins der schönsten Mädchen ward seine Gattin, und sie bekamen ein entzückendes kleines Kind, es war so liebreizend, dass man hätte denken können, es sei vom Himmel gefallen, und der Sohn des Hauswarts tanzte auf dem Hofe vor ihm und schenkte ihm alle seine buntgemalten Zeichnungen, und die Kleine sah sie an und freute sich darüber und zerriss sie. Sie war so fein und so niedlich.
„Mein Rosenblatt!“ sagte die Generalin. „Für einen Prinzen bist du geboren!“ Der Prinz stand bereits draußen vor der Tür, man wusste es nur nicht; die Menschen sehen nicht weit über die Türschwelle hinaus.
„Neulich hat unser Junge, weiß Gott, sein Butterbrot mit ihr geteilt!“ sagte die Frau des Hauswarts. „Es war weder Käse noch Fleisch darauf, aber es hat ihr geschmeckt, als wenn es Rinderbraten gewesen wäre. Das hätte was gegeben, wenn Generals die Mahlzeit gesehen hätten, aber sie haben es gottlob nicht gesehen!“
Georg hatte sein Butterbrot mit der kleinen Emilie geteilt; gern hätte er sein Herz mit ihr geteilt, wenn es ihr nur Vergnügen gemacht hätte. Er war ein guter Junge, er war aufgeweckt und klug, er besuchte jetzt die Abendschule der Akademie, um richtig zeichnen zu lernen. Die kleine Emilie machte ebenfalls Fortschritte in bezug auf Kenntnisse; sie sprach französisch mit ihrer Bonne und hatte Unterricht beim Tanzmeister.
„Zu Ostern soll Georg eingesegnet werden!“ sagte die Frau des Hauswarts; so weit war Georg.
„Am richtigsten wäre es wohl, wenn er dann in die Lehre käme“, sagte der Vater. „Eine anständige Profession muss es sein! Und dann sind wir ihn aus dem Hause los!“
„Er wird doch bei uns schlafen müssen!“ sagte die Mutter. „Es ist nicht leicht, einen Meister zu finden, der Platz hat. Kleiden müssen wir ihn ja auch, das bisschen Essen, was er isst, werden wir auch schon aufbringen, mit ein paar gekochten Kartoffeln ist er ja zufrieden, freien Unterricht hat er. Lass du ihn nur seinen Weg gehen, du sollst sehen, wir werden Freude an ihm erleben, das hat der Professor auch gesagt!“
Der Konfirmationsanzug war fertig, Mutter hatte ihn selber genäht, aber er war vom Flickschneider zugeschnitten, und der hatte einen guten Schnitt; wäre er anders gestellt gewesen, so dass er eine Werkstatt mit Gesellen hätte halten können, so hätte der Mann sehr wohl Hofschneider werden können, sagte die Frau des Hauswarts.
Die Kleider waren fertig, und der Konfirmand war bereit. Georg erhielt an seinem Konfirmationstag eine große Tombakuhr von seinem Paten, dem alten Gehilfen des Speckhökers. der der wohlhabendste von Georgs Paten war. Die Uhr war alt und erprobt, sie ging immer vor, aber das ist besser, als wenn sie nachgeht. Das war ein kostbares Geschenk; und von Generals kam ein Gesangbuch in Saffianleder, von dem kleinen Fräulein gesandt, dem Georg so oft Bilder geschenkt hatte. Voran im Buch stand sein Name und ihr Name und „Huldvolle Gönnerin“. Das war nach dem Diktat der Generalin geschrieben, und der General hatte es durchgelesen und „Charmant!“ dazu gesagt.
„Das war wirklich eine große Aufmerksamkeit von einer so vornehmen Herrschaft“, sagte die Frau des Hauswarts; und Georg musste in seinem Konfirmationsanzug und mit dem Gesangbuch hinauf und sich bedanken. Die Generalin saß ganz eingehüllt da und hatte ihre großen Kopfschmerzen, die sie immer hatte, wenn sie sich langweilte. Sie sah Georg sehr freundlich an und wünschte ihm alles Gute und dass er niemals ihre Kopfschmerzen bekommen möchte. Der General war im Schlafrock und Zipfelmütze und hatte russische Stiefel mit roten Schäften an; er ging dreimal im Zimmer auf und nieder, in Gedanken und Erinnerungen versunken, dann blieb er stehen und sagte:
„Lieber Georg, so bist du denn also jetzt in die Christenheit aufgenommen! Sei auch ein braver Mann, der seine Obrigkeit ehrt! Wenn du einstmals ein alter Mann bist, kannst du sagen, dass dir der General diesen Ratschlag mit auf den Weg gegeben hat!“
Dies war eine längere Rede, als wie sie der General sonst hielt, darauf kehrte er wieder zu seinen stillschweigenden Betrachtungen zurück und sah vornehm aus. Doch von allem, was Georg hier oben sah und hörte, haftete das kleine Fräulein Emilie am festesten in seinem Gedächtnis. Wie süß und sanft war sie doch, wie schwebend, wie fein! Wenn sie abgezeichnet werden sollte, musste es in einer Seifenblase geschehen. Es hing ein Duft in ihren Kleidern, in ihrem blondgelockten Haar, als sei sie ein eben erblühter Rosenstock; und mit ihr hatte er einmal sein Butterbrot geteilt! Sie hatte es mit mächtigem Appetit verzehrt und ihm bei jedem zweiten Bissen zugenickt. Ob sie sich dessen noch entsann? Freilich, sie hatte ihm ja in Erinnerung hieran das schöne Gesangbuch geschenkt, und als zum erstenmal wieder der erste Neumond im neuen Jahr am Himmel stand, ging er mit einem Stück Brot und einem Schilling hinaus und schlug im Gesangbuch auf, um zu sehen, welcher Gesang für ihn bestimmt sei. Es war ein Lob- und Danklied; und dann schlug er auf, um zu sehen, was der kleinen Emilie bestimmt sein würde; er nahm sich recht in acht, dass er nicht dort aufschlug, wo die Sterbelieder standen, und dann geriet er trotzdem zwischen Grab und Tod. Aber es war ja Unsinn, an so etwas zu glauben. Und doch ergriff ihn eine große Angst, als das reizende kleine Mädchen bald darauf das Bett hüten musste und jeden Mittag der Wagen des Doktors vor der Tür hielt.
„Sie behalten sie nicht!“ sagte die Frau des Hauswarts. „Der liebe Gott weiß auch, wen er gerne haben möchte!“
Aber sie behielten sie; und Georg zeichneten Bilder und schickte sie ihr; er zeichnete das Schloss des Zaren, den alten Kreml in Moskau, genau so, wie er dastand mit Kuppeln und Türmen, sie sahen aus wie sieben große grüne und vergoldete Gurken, wenigstens auf Georgs Zeichnung. Sie machten der kleinen Emilie so viel Vergnügen, und deswegen schickte ihr Georg im Laufe der Woche noch ein paar Bilder, alles Gebäude, denn dabei konnte er selber sich so viel denken hinter den Türen und Fenstern.
Er zeichnete ein chinesisches Haus mit einem Glockenspiel durch alle sechzehn Stockwerke; er zeichnete zwei griechische Tempel mit schlanken Marmorsäulen und einer Treppe ringsherum; er zeichnete eine Kirche aus Norwegen, man konnte sehen, dass sie ganz aus Balken war, ausgehauen und wunderlich zusammengestellt, jedes Stockwerk sah so aus, als habe es Wiegenkufen. Am schönsten war aber doch auf einem Blatt das Schloss, das er „Der kleinen Emilie Schloss“ nannte. So sollte sie wohnen; das hatte sich Georg ganz genau ausgedacht, und er hatte zu diesem Schloss alles genommen, was er an den andern Gebäuden am schönsten fand. Es hatte geschnitzte Balken wie die norwegische Kirche, Marmorsäulen wie ein griechischer Tempel, ein Glockenspiel in jedem Stockwerk und ganz oben Kuppeln, grüne und vergoldete, wie am Kreml des Zaren. Es war ein richtiges Kinderschloss, und unter jedem Fenster stand geschrieben, wozu dieser Saal oder jenes Zimmer dienen sollte: hier schläft Emilie, hier tanzt Emilie, und hier spielt sie: Es kommt Besuch! Das war amüsant anzusehen, und es wurde gründlich angesehen.
„Charmant!“ sagte der General.
Aber der alte Graf, denn da war ein alter Graf, der noch vornehmer war als der General und selber ein Schloss und ein Rittergut hatte, der sagte nichts; er hörte, dass es von dem kleinen Sohn des Hauswarts ersonnen und gezeichnet sei. Nun, so klein war er ja freilich nicht mehr; er war ja schon eingesegnet. Der alte Graf betrachtete die Bilder und hatte so seine eigenen, stillen Gedanken dabei.
Eines Tages, als das Wetter so recht grau und nass und grässlich war, sollte sich der Tag für den kleinen Georg zu einem der lichtesten und besten gestalten. Der Professor der Kunstakademie ließ ihn zu sich kommen.
„Höre einmal, mein Freund, lass uns ein wenig miteinander plaudern! Der liebe Gott ist in Bezug auf Fähigkeiten sehr gut gegen dich gewesen, er ist auch in Bezug auf gute Menschen gut gegen dich. Der alte Graf dort von der Ecke hat mir von dir gesprochen; ich habe auch deine Bilder gesehen, darunter wollen wir einen Strich machen, es ist viel daran auszusetzen. Nun kannst du zweimal wöchentlich in meinen Zeichenunterricht kommen, dann wird es damit schon besser werden. Ich glaube, du hast mehr Anlage zum Baumeister als zum Maler; aber du hast ja Zeit genug, um dir das zu überlegen! Du musst jedenfalls noch heute zu dem alten Grafen im Eckhaus gehen, und danke du deinem Schöpfer, dass er dir den Mann gesandt hat!“
Der Graf wohnte in einem großen Eckhaus; da waren ausgehauene Elefanten und Dromedare um die Fenster herum, alles aus alten Zeiten; aber der alte Graf interessierte sich am meisten für die neue Zeit und alles gute, was sie brachte, mochte es aus dem ersten Stockwerk, aus dem Keller oder der Mansarde kommen.
„Ich glaube“, sagte die Frau des Hauswarts, „dass, je vornehmer die Leute wirklich sind, je weniger stellen sie sich an. Wie reizend und natürlich der alte Graf ist! Und er spricht, weiß Gott, geradeso wie du und ich; das können Generals nicht. Georg war ja gestern auch ganz aus dem Häuschen, weil der Graf so freundlich gegen ihn gewesen war; und heute, wo ich mit dem mächtigen Mann gesprochen hat, geht es mir geradeso! War es nun nicht ein Glück, dass wir den Jungen nicht in die Handwerkerlehre gegeben hatten! Talent hat er!“
„Aber das nützt alles nichts, wenn man keine Unterstützung von außen hat!“ sagte der Vater.
„Die hat er jetzt!“ sagte die Mutter. „Der Graf sprach sich ganz klar und deutlich darüber aus!“
„Von Generals ist das Ganze aber doch ausgegangen!“ sagte der Vater. „Bei denen müssen wir uns auch bedanken.“
„Das können wir ja gern tun“, sagte die Mutter, „wenn ich auch gerade nicht einsehen kann, was wir denen groß zu verdanken haben. Aber dem lieben Gott will ich danken, und ich will mich auch bei ihm dafür bedanken, dass die kleine Emilie wieder besser wird!“
Die kleine Emilie machte wirklich Fortschritte, und Georg machte auch Fortschritte; im Lauf des Jahres bekam er die kleine silberne Medaille und später auch die große.
„Es wäre doch besser gewesen, wenn wir ihn in die Handwerkerlehre gegeben hätten“, sagte die Frau des Hauswarts und weinte, „dann hätten wir ihn jetzt behalten. Was soll er in Rom? Ich krieg ihn nie wieder zu sehen, selbst wenn er je wieder nach Hause kommt, aber er kommt nie wieder nach Hause, das süße Kind!“
„Das ist aber doch sein Glück und sein Ruhm!“ sagte der Vater.
„Ja, das sagst du wohl!“ entgegnete die Mutter. „Du sagst auch vieles, was du gar nicht meinst! du bist ebenso betrübt wie ich!“
Und es hatte seine Richtigkeit mit der Betrübnis und mit der Abreise. Es sei ein großes Glück für den jungen Menschen, sagten alle Leute.
Und nun ging es ans Abschiednehmen. Auch beim General; aber die Gnädige ließ sich nicht blicken, sie hatte ihre großen Kopfschmerzen. Der General erzählte zum Abschied seine einzige Anekdote, was er zu dem Prinzen gesagt hatte und was der Prinz zu ihm gesagt hatte: „Sie sind unvergleichlich!“ Und dann reichte er Georg die Hand.
Auch Emilie reichte Georg ihre Hand und sah beinahe betrübt aus, aber am allerbetrübtesten war doch Georg.
Die Zeit vergeht, wenn man etwas tut, sie vergeht auch, wenn man nichts tut. Die Zeit ist gleich lang, aber nicht gleich nützlich. Für Georg war sie nützlich und gar nicht lang, außer wenn er an die Lieben in der Heimat dachte. Wie mochte es untern und oben aussehen? Ja, darüber ward geschrieben; und man kann so viel in einen Brief hineinlegen, den lichten Sonnenschein und die schweren, trüben Tage. Die lagen im Brief, sie meldeten, dass der Vater gestorben und die Mutter allein zurückgeblieben war. Die kleine Emilie sei ein wahrer Engel des Trostes gewesen, sie sei zu ihr in die Kellerwohnung gekommen, schrieb die Mutter, und über sich selber fügte sie hinzu, dass man ihr erlaubt habe, den Hauswartposten zu behalten.
Die Generalin führte Tagebuch; darin waren jede Gesellschaft, jeder Ball, den sie besucht hatte, aufgeführt, auch alle Visiten, die sie erhielt. Das Tagebuch war mit den Visitenkarten der Diplomaten und des höchsten Adels illustriert. Sie war stolz auf ihr Tagebuch, es wuchs im Laufe langer Jahre, vieler Jahre, unter vielen großen Kopfschmerzen, aber auch in vielen hellen Nächten, das heißt auf Hofbällen. Emilie war zum erstenmal auf einem Hofball gewesen; die Mutter war in Rosa mit schwarzen Spitzen: spanisch! Die Tochter in Weiß, so klar und fein. Grüne, seidene Bänder flatterten wie Schilf in dem blonden Lockenhaar, auf dem ein Kranz von weißen Seerosen ruhte; die Augen waren so blau und klar, der Mund so fein und rot, sie glich einer kleinen Seejungfrau, so lieblich, wie man sie sich nur denken kann. Drei Prinzen tanzten mit ihr, dass heißt, erst der eine und dann der andere; die Generalin hatte acht Tage lang keine Kopfschmerzen.
Aber der erste Ball blieb nicht der letzte, das konnte Emilie nicht aushalten, daher war es gut, dass der Sommer mit Ruhe und Aufenthalt in der frischen Luft kam. Die Familie war auf das Schloss des alten Grafen eingeladen.
Das war ein Schloss und ein Garten, die es sich zu sehen verlohnte. Ein Teil davon war ganz wie in alten Zeiten mit steifen, grünen Hecken, als gehe man zwischen grünen Schirmwänden, in denen Gucklöcher waren. Buchsbaum und Taxus standen zu Sternen und Pyramiden ausgeschnitten da, das Wasser sprang aus großen Grotten, die mit Muschelschalen belegt waren; ringsumher standen steinerne Figuren aus allerschwerstem Stein, das konnte man den Gesichtern und auch den Kleidern ansehen; jedes Blumenbeet hatte seine Gestalt, als Fisch, Wappenschild oder Namenszug, das war der französische Teil des Garten; aus dem gelangte man gleichsam in den freien, frischen Wald hinein, wo die Bäume wachsen duften, wie sie wollten, und daher so groß und prächtig waren; das Gras war grün, und man durfte darauf gehen, es wurde auch gewalzt, geschnitten, gepflegt und gehütet; das war der englische Teil des Garten.
„Alte Zeit und neue Zeit!“ sagte der Graf. „Hier gleiten sie auch so gut ineinander hinein! In zwei Jahren wird das Schloss selber sein richtiges Aussehen bekommen, das wird eine ganze Verwandlung zu etwas Schönem und Besserem werden; ich werde Ihnen die Zeichnungen zeigen, und auch den Baumeister werde ich Ihnen zeigen, er ist heute zu Tische hier!“
„Charmant!“ sagte der General.
„Es ist paradiesisch hier!“ sagte die Generalin. „Und da haben Sie ja eine Ritterburg!“
„Das ist mein Hühnerhaus!“ sagte der Graf. „Die Tauben wohnen im Turm, die Kalikuten im ersten Stockwerk, aber im Erdgeschoss regiert die alte Else. Sie hat Fremdenzimmer nach allen Seiten: die Glucken für sich, die Hühner und Küchlein für sich, und die Enten, ja, die haben freien Zutritt zum Wasser!“
„Charmant!“ wiederholte der General.
Und sie gingen alle hinein, um diese Herrlichkeit zu sehen.
Die alte Else stand mitten in der Stube, und neben ihr stand Georg; er und die kleine Emilie sahen sich nach mehreren Jahren im Hühnerhaus wieder.
Ja, hier stand er, und er war gar schon vom Aussehen; sein Gesicht war offen und bestimmt, er hatte schwarzes, glänzendes Haar und um den Mund ein Lächeln, das zu sagen schien: hinter meinem Ohr sitzt ein Schelm, der kennt euch aus und ein. Die alte Else hatte ihre Holzschuhe ausgezogen und stand auf Socken da, zu Ehren der vornehmen Gäste. Und die Hühner glucksten, und der Hahn krähte, die Enten watschelten „gack, gack!“ Aber das feine, blasse Mädchen, die Tochter des Generals, stand da mit einem Rosenschimmer auf den sonst so bleichen Wangen, ihre Augen wurden so groß, und ihr Mund redete, ohne dass er auch nur ein einziges Wort gesagt hätte, und der Gruß, den Georg erhielt, war der entzückendste Gruß, den ein junger Mann sich von einer jungen Dame wünschen konnte, mit der er nicht verwandt war oder mit der er nicht sehr oft getanzt hatte; sie und der Maumeister hatten aber niemals zusammen getanzt.
Der Graf drückte ihm die Hand und stellte ihn vor. „Ganz fremd ist er Ihnen nicht, unser junger Freund, Herr Georg!“
Die Generalin verneigte sich, die Tochter war kurz davor, ihm die Hand zu reichen, aber sie reichte sie ihm doch nicht.
„Unser lieber Herr Georg!“ sagte der General. „Alte Hausfreunde! Charmant!“
„Sie sind ja vollständig Italiener geworden!“ sagte die Generalin. „Und Sie sprechen die Sprache wohl wie ein Eingeborener!“
Die Generalin singe die Sprache, spreche sie aber nicht, sagte der General.
Bei Tische saß Georg zu Emiliens Rechten, der General führte sie, der Graf führte die Generalin.
Herr Georg sprach und erzählte, und er erzählte so gut, er war das Wort und der Geist bei Tische, obwohl der alte Graf es auch sein konnte. Emilie saß stumm da, die Ohren hörten, die Augen strahlten.
Aber sie sagte nichts.
Auf der Veranda zwischen den Blumen standen sie und Georg, die Rosenhecke entzog sie den Blicken. Georg hatte wieder das Wort, hatte es zuerst.
„Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit gegen meine alte Mutter!“ sagte er. „Ich weiß alles, in der Nacht, als mein Vater starb, kamen Sie zu Mutter hinunter und waren bei ihr, bis seine Augen sich geschlossen hatten, ich danke Ihnen!“ Er ergriff Emiliens Hand und küsste sie, das konnte er wohl tun bei der Gelegenheit, sie ward dunkelrot, drückte ihm aber die Hand und sah ihn mit ihren blauen, herzensguten Augen an.
„Ihre Mutter war eine liebevolle Seele“ Wie hat sie Sie geleibt! Und alle Ihre Briefe ließ sie mich lesen, ich glaube fast, ich kenne Sie! Wie freundlich waren Sie gegen mich, als ich noch klein war, Sie schenkten mir Bilder -!“
„Die Sie zerrissen!“ sagte Georg. „Nein, ich habe mein Schloss noch, die Zeichnung!“
„Nun muss ich es wirklich bauen!“ sagte Georg, und er wurde selber ganz warm bei dem, was er sagte.
Der General und die Generalin sprachen in ihren eigenen Zimmern über den Sohn des Hauswarts, er wisse sich ja zu bewegen und drücke sich mit Verstand und Kenntnissen aus. Er könnte Informator sein!“ sagte der General. „Geist!“ sagte die Generalin, und dann sagte sie nichts weiter.
In der schönen Sommerzeit kam Herr Georg häufiger auf das Schloss des Grafen. Er ward vermisst, wenn er nicht kam.
„Wie viel doch der liebe Gott Ihnen vor uns andern armen Menschen voraus gegeben hat!“ sagte Emilie zu ihm. „Erkennen Sie das nun auch so recht an?“ Es schmeichelte Georg, dass das schöne junge Mädchen zu ihm aufsah, erfand sie so ungewöhnlich begabt.
Und der General gelangte mehr und mehr zu der Überzeugung, dass Georg unmöglich ein Kellerkind sein könne. „Die Mutter war freilich eine sehr anständige Frau“, sagte er, „das muss ich ihr im Grabe nachsagen!“
Der Sommer verging, der Winter kam, da sprach man wieder von Herrn Georg; er war selbst höchsten Ortes gern gesehen und gut aufgenommen, der General war ihm auf einem Hofball begegnet.
Jetzt sollte im Hause ein Ball zu Ehren von Emilie stattfinden. Ob man Herrn Georg einladen konnte?
„Wen der König einladet, den kann auch der General einladen!“ sagte der General und erhob sich einen ganzen Zoll vom Fußboden in die Höhe.
Herr Georg wurde eingeladen und er kam; und es kamen Grafen und Prinzen und der eine tanzte immer noch besser als der andere; aber Emilie konnte nur den ersten Tanz tanzen; in dem vertrat sie sich den Fuß, nicht schlimm, aber sie fühlte es doch, und da musste sie vorsichtig sein, mit dem Tanzen innehalten und den andern zusehen. So saß sie denn da und sah zu, und der Baumeister stand neben ihr.
„Sie schildern ihr wohl die ganze Peterskirche?“ sagte der General, indem er vorüberging und wohlwollend lächelte.
Mit demselben Lächeln empfing er Herrn Georg einige Tage später. Der junge Mann kam natürlich, um für die Balleinladung zu danken, was sollte ihn sonst auch herführen? Ja, das Überraschendste, Erstaunlichste führte ihn her: mit wahnwitzigen Worten kam er, der General wollte seinen Ohren nicht trauen; „pyramidale Deklamation“, ein ganz undenkbares Ansinnen: Herr Georg bat um Emiliens Hand!
„Mensch!“ sagte der General und bekam einen dunkelroten Kopf. „Ich begreife Sie nicht! Was sagen Sie? Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht! Mein Herr! Mensch! Wie kommen Sie darauf, in mein Haus einzubrechen! Darf ich hier sein, oder darf ich nicht hier sein?“ Und damit ging er rücklings in sein Schlafzimmer, drehte den Schlüssel um und ließ Herrn Georg allein dastehen. Der blieb einige Minuten stehen und drehte sich dann ebenfalls um. Im Korridor stand Emilie.
„Nun, was sagte mein Vater?“ fragen sie, und ihre Stimme bebte.
Georg drückte ihr die Hand. Er lief vor mir davon! Aber es werden schon bessere Zeiten kommen!“
In Emiliens Augen standen Tränen; aus des jungen Mannes Augen strahlten Zuversicht und Mut; und die Sonne beschien die beiden und gab ihnen ihren Segen.
Kochend vor Wut saß der General in seinem Zimmer; ja, es kochte noch in ihm, es kochte über in Worten und Ausdrücken: „Wahnsinn! Hauswartsirrsinn!“ –
Eine Stunde war vergangen, da hatte die Generalin es aus des Generals eignem Munde vernommen, und sie rief Emilie zu sich und schloss sich mir ihr ein.
„Du armes Kind! Dich so zu beleidigen! Uns so zu beleidigen! Auch du hast Tränen in den Augen, aber das steht dir! Du bist bezaubernd in Tränen! Du gleichst mir an meinem Hochzeitstage. Weine nur, liebe Emilie!“
„Ja, weinen muss ich“, sagte Emilie, „falls du und Vater nicht ja sagt!“
„Kind“, rief die Generalin, „bist du krank? Du redest im Irrsinn, und ich bekomme meine schrecklichen Kopfschmerzen. Ach, welch Unglück ist über unser Haus gekommen! Du willst doch nicht, dass deine Mutter stirbt! Emilie, dann hast du keine Mutter mehr!“
Und die Augen der Generalin wurden feucht, sie konnte es nicht aushalten, an ihren eignen Tod zu denken.
In der Zeitung stand unter andern Ernennungen zu Lesen: Herr Georg zum Professor ernannt, fünfte Rangklasse Nummer acht.
„Schade, dass seine Eltern im Grabe liegen und das nicht lesen können“, sagten die neuen Hauswartsleute, die jetzt im Keller unter dem General wohnten; sie wussten, dass der Professor innerhalb ihrer vier Wände geboren und aufgewachsen war.
„Ja, für den Titel muss er ein gutes Stück Geld bezahlen!“ sagte der Mann.
„Ach, was macht der sich aus den paar Talern“, sagte die Frau, „die kann er sich leicht wieder verdienen. Und eine reiche Frau kriegt er natürlich auch. Wenn wir Kinder hätten, dann sollte unser Kind auch Baumeister und Professor werden.“
Georg bekam eine gute Nachrede im Keller, aber auch im ersten Stockwerk wurde gut von ihr gesprochen, das erlaubte sich der alte Graf.
Die Zeichnungen aus der Kinderzeit gaben den Anlass dazu. Aber weshalb sprach man von diesen Zeichnungen? Die Rede war auf Russland gekommen, aus Moskau, und dann lag ja der Kreml so nahe, und en Kreml hatte der kleine Georg einmal für Fräulein Emilie gezeichnet, er hatte so viele Bilder gezeichnet; des einen erinnerte sich der Graf noch ganz besonders: „Emiliens Schloss“, wo sie schlief, wo sie tanzte und „Es kommt Besuch“ spielte; der Professor besaß große Tüchtigkeit, er würde gewiss als alter Konferenzrat sterben, das war gar nicht unmöglich, und vorher würde er wohl auch ein Schloss für die jetzt noch so junge Dame erbaut haben; warum auch nicht?
„Das war ja eine sonderbare Ausgelassenheit!“ bemerkte die Generalin, als der Graf gegangen war. Der General schüttelte nachdenklich den Kopf, ritt aus, den Reitknecht in geziemendem Abstand hinter sich, und saß stolzer denn je zu Ross.
Es war Emiliens Geburtstag, Blumen und Bücher, Briefe und Visitenkarten wurden gebracht; die Generalin küsste sie auf den Mund, der General auf die Stirn; es waren liebevolle Eltern. Und es kam hoher Besuch, zwei von den Prinzen. Man sprach von Bällen und vom Theater, von diplomatischen Sendungen, von der Regierung der Länder und Reiche. Man sprach von Tüchtigkeit, von des eignen Landes Tüchtigkeit, und dadurch kam die Rede auf den jungen Professor, den Herrn Baumeister.
„Der baut für seine Unsterblichkeit“, wurde gesagt, „er baut sich auch wohl in eine unser ersten Familien hinein!“
„Eine der ersten Familien!“ wiederholte später der General der Generalin gegenüber. „Wer ist eine unserer ersten Familien?“
„Ich weiß, worauf angespielt wurde“, sagte die Generalin, „aber ich sage es nicht! Gott lenkt die Geschicke! Wundern soll es mich aber doch!“
„Ich möchte mich gern mit dir wundern!“ sagte der General. „Ich habe keine Ahnung!“ Und er versank in Gedanken.
Es liegt eine Macht, eine unaussprechliche Macht in dem Gnadenquell von oben; Hofgunst, Gottes Gunst – und die Gunst all dieser Gnade besaß der kleine Georg. Aber wir vergessend en Geburtstag.
Emiliens Zimmer duftete von Blumen, die ihr Freunde und Freundinnen gesandt, auf dem Tische lagen schöne Geschenke als Grund und zur Erinnerung, aber nicht die geringste Gabe von Georg. Die konnte nicht kommen, brauchte auch nicht zu kommen, das ganze Haus war eine Erinnerung an ihn. Selbst aus dem Sandloch unter der Treppe guckte die Erinnerungsblume hervor; dort hatte Emilie gepiepst, als die Gardine brannte und Georg als erste Spritze kam. Ein Blick zum Fenster hinaus und der Akazienbaum erinnerte an die Kinderzeit. Blüten und Blätter waren abgefallen, aber der Baum stand mit Reif bedeckt da wie ein ungeheurer Korallenzweig; und der Mond schien klar und groß zwischen den Zweigen hindurch, unverändert in all seiner Veränderlichkeit, ganz so wie damals, als Georg sein Butterbrot mit der kleinen Emilie teilte.
Sie nahm aus der Schublade die Zeichnungen von des Zaren Schloss und von ihrem eigenen Schloss, Erinnerungen an Georg. Und sie sah sie an und hatte ihre Gedanken dabei; sie gedachte des Tages, als sie unbemerkt von Vater und Mutter zu der Frau des Hauswarts hinabging, die in den letzten Zügen lag; sie hatte bei ihr gesessen, ihre Hand gehalten und ihre letzten Worte „Segen! – Georg!“ gehört. Die Mutter dachte an ihren Sohn. – Jetzt legte Emilie ihre Bedeutung dahinein. Ja, Georg war an ihrem Geburtstag bei ihr!
An nächsten Tage war wieder ein Geburtstag dort im Hause, der Geburtstag des Generals; er war am Tage nach seiner Tochter geboren, natürlich früher als sie, viele Jahre früher. Und es kamen wieder Geschenke, und unter diesen ein Sattel von prächtigem Aussehen, bequem und köstlich, nur einer von den Prinzen hatte einen ebensolchen. Von wen kam der? Der General war entzückt. Ein kleiner Zettel lag dabei, und darauf stand geschrieben: „Von einem, den der Herr General nicht kennt!“
„Wen in aller Welt kenne ich nicht!“ sagte der General. „Alle Menschen kenne ich!“ Und sein Gedanke durchschweifte die ganze große Gesellschaft; er kannte sie alle. „Er ist von meiner Frau!“ sagte er schließlich. „Sie will mich necken! Charmant!“
Aber die neckte nicht mehr, die Zeiten waren vorüber.
Und es war abermals ein Fest, ein großes Fest, aber diesmal nicht bei Generals; es war ein Kostümball bei einem der Prinzen; Masken waren ebenfalls gestattet.
Der General erschien als Rubens, in spanischer Tracht mit kleinem Tollenkragen, Degen und guter Haltung; die Generalin war Madame Rubens, in schwarzem Samt, hoch am Halse, schrecklich warm, mit einem Mühlsein um den Hals, das heißt natürlich mit einem großen Tollenkragen, ganz nach einem holländischen Gemälde, das der General besaß und an dem namentlich die Hände bewundert wurden, die sahen ganz so aus wie die der Generalin.
Emile war Psyche, in Flor und Spitzen. Sie war wie eine schwebende Schwanenflaumfeder, sie brauchte gar keine Flügel, sie trug sie nur als Psyche-Abzeichen.
Da war ein Glanz, eine Pracht, da waren Licht und Blumen, Reichtum und Geschmack; da war so viel zu sehen, dass man Madame Rubens‘ schöne Hände gar nicht beachtete.
Ein schwarzer Domino mit einer Akazienblüte auf der Kapuze tanzte mit Psyche.
„Wer ist das?“ fragte die Generalin.
„Seine königliche Hoheit!“ sagte der General. „Ich bin meiner Sache ganz sicher, ich habe ihn gleich am Händedruck erkannt!“
Die Generalin zweifelte.
General Rubens zweifelte nicht, näherte sich dem schwarzen Domino und schrieb ihm königliche Buchstaben in die Hand; sie wurden verneint, aber es wurde ein Fingerzeig gegeben:
„Die Devise des Sattels“ Einer, den der Herr General nicht kennt!“
„Aber dann kenne ich Sie ja!“ sagte der General. „Sie haben mir den Sattel geschenkt!“
Der Domino erhob die Hand und verschwand unter der Menge.
„Wer ist der schwarze Domino, mit dem du tanztest, Emilie?“ fragte die Generalin.
„Ich habe nicht nach seinem Namen gefragt“, antwortete sie.
„Weil du es wusstest! Es ist der Professor! Ihr Protege, Herr Graf, ist hier!“ fuhr sie fort und wandte sich an den Grafen, der in der Nähe stand. „Schwarzer Domino mit Akazienblute!“
„Wohl möglich, meine Gnädige!“ antwortete der Graf. „Aber einer der Prinzen ist übrigens ebenso kostümiert.“
„Ich kenne den Händedruck!“ sagte der General. „Von dem Prinzen habe ich den Sattel. Ich bin meiner Sache so sicher, dass ich ihn zu uns einladen kann.“
„Tun Sie das!“ sagte der Graf. „Wenn es der Prinz ist, so kommt er sicher!“
„Und ist es ein anderer, so kommt er sicher nicht!“ sagte der General und näherte sich dem schwarzen Domino, der gerade dastand und mit dem König redete. Der General bracht eine sehr ehrerbietige Einladung vor, damit sie einander kennen lernen könnten. Er lächelte so sicher in seiner Gewissheit, wen er einlud; er sprach laut und deutlich.
Der Domino lüftete seine Maske: es war Georg.
„Wiederholen der Herr General die Einladung?“
Der General wurde allerdings einen Zoll großer, nahm eine festere Haltung an, trat zwei Schritte zurück und einen Schritt vor wie bei einem Menuett, und es lag Ernst und Ausdruck in des Generals Gesicht, soviel sich hineinlegen ließ.
„Ich nehme niemals mein Wort zurück; der Herr Professor ist eingeladen!“ Und er verneigte sich mit einem Blick auf den König, der sicher das Ganze gehört hatte.
Und dann war die Mittagsgesellschaft bei Generals, und es waren nur der alte Graf und sein Protege eingeladen.
„Wenn ich erst den Fuß unterm Tisch habe“, meinte Georg, „so ist auch schon der Grundstein gelegt!“
Und der Grundstein wurde wirklich unter großer Feierlichkeit bei dem General und der Generalin gelegt.
Georg war erschienen und hatte sich, wie der General das ja an ihm kannte, ganz wie ein Mann aus der guten Gesellschaft unterhalten, war höchst interessant gewesen, der General hatte mehrmals sein „Charmant“ sagen müssen. Die Generalin sprach von ihrem kleinen Diner, sprach auch zu einer der Hofdamen davon, und diese, eine der geistreichsten Hofdamen, bat sich eine Einladung für das nächste Mal aus, wo der Professor kommen würde. Da musste er ja wieder eingeladen werden, und er wurde eingeladen und kam und war wieder charmant, konnte sogar Schach spielen.
„Der ist nicht aus dem Keller“, sagte der General, „er ist ganz sicher von vornehmer Herkunft, und daran ist der junge Mann ganz unschuldig!“
Der Professor, der in des Königs Hause verkehrte, konnte sehr wohl in des Generals Haus verkehren, aber von einem Festwachsen war keine Rede, außer in der ganzen Stadt.
Es wuchs fest. Der Tau der Gnade fiel von oben!
Es war daher gar keine Überraschung, dass, als der Professor Etatsrat wurde, Emilie Etatsrätin wurde.
„Das Leben ist eine Tragödie oder eine Komödie!“ sagte der General. „In der Tragödie sterben sie, in der Komödie kriegen sie sich!“
Hier kriegen sie sich. Und sie bekamen drei prächtige Jungen, aber nicht sofort.
Die süßen Kinder ritten auf ihren Steckenpferden durch Stuben und Säle, wenn sie bei Großvater und Großmutter waren. Und der General ritt auch auf dem Steckenpferd, ritt hinter ihnen her, „als Jockey hinter den kleinen Etatsräten!“
Die Generalin saß auf dem Sofa und lächelte, selbst wenn sie ihre großen Kopfschmerzen hatte.
Wie weit brachte Georg es und noch viel weiter, sonst wäre es ja nicht wert gewesen, die Geschichte von des Hauswarts Sohn zu erzählen.
Über diese Märchen
Dieses Märchen wurde 1866 zum ersten mal in dem Buch namens ”Nye Eventyr og Historier. Anden Række. Fjerde Samling. 1866” veröffentlicht.