Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau
Es war einmal ein Mann, der einst so viele neue Märchen wusste, aber nun seien sie ihm ausgegangen, sagte er; das Märchen, das von selber Besuch machte, kam nicht mehr und klopfte an seine Türe; und weshalb kam es nicht? Ja, das ist freilich war, der Mann hatte in Jahr und Tag nicht daran gedacht, nicht erwartet, dass es kommen sollte, um anzuklopfen, aber es war gewiss auch nicht hier gewesen, denn draußen war Krieg und drinnen Kummer und Not, wie der Krieg sie mitbringt.
Storch und Schwalbe kamen von ihrer langen Reise, sie dachten an keine Gefahr, und als sie kamen waren das Nest verbrannt, die Häuser der Menschen verbrannt, die Hecken zerstört, ja ganz verschwunden; die Rosse der Feinde stampften auf den alten Gräbern, Es waren harte, dunkle Zeiten; aber auch die nehmen ein Ende.
Und nun hatten sie ein Ende, sagte man, doch noch klopfte das Märchen nicht an oder ließ von sich hören.
„Es ist wohl tot und verschollen mit den vielen andern“, sagte der Mann. Aber das Märchen stirbt nie!
Und es verging mehr als ein ganzes Jahr, und er sehnte sich so schrecklich. „Ob das Märchen nicht doch wiederkommen und anklopfen würde!“ Und er erinnerte sich seiner so lebhaft in all den vielen Gestalten, in denen es zu ihm gekommen war; bald jung und herrlich, der Frühling selber, ein reizendes kleines Mädchen mit einem Maiglöckchenkranz im Haar und einem Buchenzweig in der Hand; ihre Augen glänzten wie tiefe Waldseen im klaren Sonnenschein, bald war es auch als Hausierer gekommen, hatte den Kramkasten geöffnet und das Seidenband mit Vers und Inschrift voll alter Erinnerungen flattern lassen; aber am allerschönsten war es doch, wenn es als altes Mütterchen mit silberweißem Haar und mit so großen und so klugen Augen kam, da wusste sie recht zu erzählen von den allerältesten Zeiten, lange noch, bevor die Prinzessinnen Gold spannen, während Drachen und Lindwürmer draußen lagen und sie bewachten. Da erzählte sie so lebendig, dass jedem schwarze Flecken vor die Augen kamen, der darauf hörte, der Boden wurde schwarz von Menschenblut, graulich anzusehen und zu hören und doch so vergnüglich, denn es war so lange her, dass es geschehen war.
„Ob sie nicht mehr anklopfen würde!“ sagte der Mann und starrte nach der Tür, so dass ihm schwarze Flecken vor die Augen kramen, schwarze Flecken auf den Boden; er wusste nicht, ob es Blut war oder Trauerschleier aus den schweren, dunklen Tagen.
Und wie er saß, kam ihm in den Sinn, ob nicht das Märchen sich verborgen halte wie die Prinzessin in den richtigen, alten Märchen und nur aufgesucht werden wollte; wurde sie gefunden, dann strahle sie in neuer Herrlichkeit, schöner als je zuvor.
„Wer weiß, vielleicht liegt sie verborgen in dem weggeworfenen Strohhalm, der am Brunnenrand schaukelt. Vorsichtig! Vorsichtig! Vielleicht hat sie sich in eine verwelkte Blume versteckt, die in einem der großen Bücher auf dem Bücherbord liegt.“
Und der Mann ging hin, öffnete eines der allerneuesten, aus denen man Verstand bekommen soll; aber das lag keine Blume, da stand von Holger Danske zu lesen; und der Mann las, dass die ganze Geschichte erfunden und zusammengesetzt sei von einem Mönch in Frankreich, dass es ein Roman sei, der „übersetzt und gedruckt in der dänischen Sprache“ worden war; dass Holger Danske gar nicht existierte und also gar nicht wiederkommen könne, wie wir davon gesungen und so gerne daran geglaubt hatten. Es war mit Holger Danske wie mit Wilhelm Tell, nur Gerede, auf das man sich nicht verlassen konnte, und das war in dem Buch mit großer Gelehrsamkeit dargelegt.
„Ja, ich glaube nun, was ich glaube, sagte der Mann, „es wächst kein Wegerich, wo noch kein Fuß hintrat.“
Und er machte das Buch zu, stellte es auf das Bord und ging dann hin zu den frischen Blumen am Fensterbrett; vielleicht hatte sich dort das Märchen versteckt in die rote Tulpe mit den goldgelben Rändern oder in die frische Rose oder in die starkfarbige Kamelie. Der Sonnenschein lag zwischen den Blättern, aber nicht das Märchen.
„Die Blumen, die hier in der Trauerzeit standen, waren alle weit schöner; aber sie wurden abgeschnitten, jede einzelne, in Kränze gebunden, auf Särge niedergelegt, und über sie wurde die Fahne gebreitet. Vielleicht ist das Märchen mit den Blumen begraben! Aber davon müssten die Blumen gewusst haben, der Sarg hätte es vernommen, die Erde hätte es vernommen, jeder kleine Grashalm, der hervor wuchs, würde es erzählt haben. Das Märchen stirbt niemals!
Vielleicht ist es auch hier gewesen und hat angeklopft, aber wer hatte damals Ohren dafür, Gedanken dafür! Man sah düster, schwermütig, fast böse zu dem Sonnenschein des Frühlings, seinem Vogelgezwitscher und all dem fröhlichen Grün; ja, die Zunge konnte nicht die alten, volksfrischen Lieder singen, wie wurden eingesargt mit so vielem, was unserm Herzen teuer war; das Märchen kann wohl angeklopft haben; aber es wurde nicht gehrt, nicht willkommen geheißen, und so ist es fortgeblieben.
Ich will gehen und es aufsuchen.
Hinaus aufs Land! Hinaus in den Wald, an den offenen Strand!“
Draußen liegt ein alter Herrenhof mit roten Mauern, zackigem Giebel und wehender Fahne auf dem Turm. Die Nachtigall singt unter den feingefransten Buchenblättern, während sie auf des Garten blühende Apfelbäume blickt und glaubt, dass sie Rosen tragen. Hier sind in der Sommersonne die Bienen geschäftig, und mit summendem Gesang schwärmen sie um ihre Königin. Der Herbststurm weiß von der wilden Jagd zu erzahlen, von den Menschengeschlechtern und den Blättern des Waldes, die hinwehen. Zur Weihnachtszeit singen die wilden Schwäne draußen vor dem offenen Wasser, während man drinnen in dem alten Hof am Kaminfeuer Lust hat, Lieder und Sagen zu hören.
Drunten in dem alten Teil des Gartens, wo die große Allee von wilden Kastanien mit ihrem Halbdunkel lockt, ging der Mann, der das Märchen suchte; hier hatte ihm einmal der Wind von Waldemar Daa und seinen Töchtern vorgesaust. Die Dryade im Baum, das war die Märchenmutter selbst, hatte ihm hier von des alten Eichenbaums letztem Traum erzählt, Zu der Großmutter Zeiten standen hier beschnittene Hecken, nun wuchsen nur Farnkräuter und Nesseln; sie breiteten sich aus über hingeworfene Reste alter Steinfiguren; Moos wuchs ihnen in den Augen, aber sie konnten ebenso gut sehen wie früher, das konnte der Mann, der nach dem Märchen suchte, nicht. es sah das Märchen nicht. Wo war es?
Über ihm und die alten Bäume hin flogen Krähen zu Hunderten und schrieen „Fort von Hier! Fort von hier!“
Und er ging aus dem Garten über den Wallgraben des Herrenhofes hin in das Erlenwäldchen hinein; dort stand ein kleines, sechseckiges Haus mit einem Hühnerhof und einem Entenhof; mitten in der Stube saß die alte Frau, die das Ganze leitete und genau von jedem Ei Bescheid wusste, das gelegt wurde, von jedem Küken, das aus dem Ei schlüpfte! Aber sie war nicht das Märchen, das der Mann suchte; das konnte sie beweisen mit einem christlichen Taufschein und einem Impf-Attest, beide lagen in der Truhe.
Draußen, nicht weit von dem Hause, ist ein Hügel mit Rotdorn und Goldregen; hier liegt ein alter Grabstein, der vor vielen Jahren vom Kirchhof eines Landstädtchens hierher gebracht wurde, eine Erinnerung an einen der ehrenhaften Ratsherren der Stadt, seine Frau und seine fünf Töchter, alle mit gefalteten Händen und Halskrausen, stehen, aus Stein gehauen, um ihn herum. Man konnte sie so lange betrachten, dass sie auf die Gedanken wirkten, und diese wieder wirkten auf den Stein, so dass er von alten Zeiten erzählte; wenigstens war es dem Mann so ergangen, der das Märchen suchte. Als er nun dahin kam, sah er einen lebendigen Schmetterling grade auf der Stirn von dem gemeißelten Bilde des Ratsherrn sitzen; der schlug mit den Flügeln, flog eine kleine Strecke und setzt sich wieder dicht neben den Grabstein, gleichsam um zu zeigen, was dort wuchs. Dort wuchs ein Vierklee, dort wuchsen ganze sieben Stück nebeneinander. Kommt das Glück, so kommt es in Fülle! Er pflückte die Kleeblätter und steckte sie in die Tasche. Das Glück ist so gut wie bares Geld, aber ein neues, schönes Märchen wäre doch noch besser, dachte der Mann, aber das fand er dort nicht.
Die Sonne ging unter, rot und groß; die Wiese dampfte, und das Moorweib braute.
Es war spät am Abend; er stand allein in seiner Stube, sah hinaus über den Garten, über Wiese, Moor und Strand, der Mond schien hell, es lag ein Dunst über der Wiese, als sei sie ein großer See, und das war sie auch einmal gewesen, ging die Sage, und im Mondschein trat die Sage in Erscheinung. Da dachte der Mann daran, was er drinnen, in der Stadt gelesen hatte, dass Wilhelm Tell und Holger Danske nicht gelebt hätten, aber im Volksglauben werden sie doch, wie der See hier draußen, lebende Erscheinungen der Sage. Ja, Holger Danske kommt wieder!
Während er so stand und dachte, schlug etwas ganz stark an das Fenster. War es ein Vogel? eine Fledermaus oder eine Eule? Ja, die lässt man nicht ein, wenn sie klopfen. Das Fenster sprang von selber auf, ein altes Weib sah herein zu dem Mann.
„Was ist gefällig?“ fragte er. „Wer ist Sie? Gleich herein in die erste Etage sieht sie, steht Sie auf einer Leiter?“
„Sie haben ein Vierblatt in der Tasche“, sagte sie, „ja, Sie haben ganze sieben, von denen eines ein Sechsklee ist.“
„Wer ist Sie?“ fragte der Mann.
„Das Moorweib:“ sagte sie. „Das Moorweib, das braut; ich war gerade in voller Arbeit; der Zapfen saß im Fass, aber einer der kleinen Moorjungen riss ihm Übermut den Zapfen ab und warf ihn gerade bis herauf zum Haus, wo er an das Fenster schlug; nun läuft das Bier aus dem Fass, und damit ist keinem gedient.“
„Erzahle Sie mir doch!“ sagte der Mann.
„Ja, wart ein wenig!“ sagte das Moorweib. „Jetzt habe ich anderes zu besorgen!“ Und da war sie fort.
Der Mann war dabei, das Fenster zu schließen, da stand das Weib wieder da. „Nun ist es geschehen!“ sagte sie. „Aber das halbe Bier kann ich morgen wieder brauen, wenn das Wetter danach bleibt. Nun, was haben Sie zu fragen? Ich komme wieder, denn ich halte immer Wort, und Sie haben sieben Vierblätter in der Tasche, von denen eines ein Sechsklee, das ist ein Ordenszeichen, das an der Landstraße wächst, aber nicht von jedem gefunden wird. Wonach haben Sie also zu fragen? Stehen Sie jetzt nicht da wie ein dummes Ende, ich muss bald fort zu meinem Zapfen und meinem Fass!“
Und der Mann fragte nach dem Märchen, fragte, ob das Moorweib es auf seinem Wege gesehen hätte.
„Ih, du großes Brauhaus!“ sagte das Weib. „Haben Sie noch nicht genug von Märchen? Das glaube ich doch freilich, dass die meisten genug haben. Hier ist anderes zu besorgen, anderes zu beachten. Selbst die Kinder sind darüber hinausgewachsen. Gebt den kleinen Jungen eine Zigarre und den kleinen Mädchen eine neue Krinoline, das mögen sie lieber! Auf Märchen hören? Nein, hier ist wahrlich anderes zu besorgen, wichtigeres auszurichten!“
„Was meinen Sie damit?“ fragte der Mann. „Und was wissen sie von der Welt? Sie sehen ja nur Frösche und Irrlichter.
„Ja, nehmen sie sich in acht vor den Irrlichtern“ sagte das Weib, „sie sind aus! Sie sind losgekommen! Von denen wollen wir reden! Kommen sie zu mir in das Moor, wo meine Anwesenheit notwendig ist; dort werde ich Ihnen alles sagen, aber eilen Sie sich ein wenig, solange Ihre sieben Vierblätter mit dem einen Sechser frisch sind und der Mond noch scheint!“ Weg war das Moorweib.
Die Glocke schlug zwölf von der Turmuhr, und bevor sie das nächste Viertel schlug, war der Mann draußen auf dem Hof, draußen aus dem Garten und stand in der Wiese. Der Nebel hatte sich gelegt, das Moorweib hörte auf zu brauen.
„Es dauerte lange, bis Sie kamen!“ sagte das Moorweib. „Das Zauberzeug kommt schneller vorwärts als die Menschen, und ich bin froh, dass ich als Zauberwesen geboren bin.“
„Was haben Sie mir nun zu sagen?“ fragte der Mann. „Ist es ein Wort vom Märchen?“
„Können Sie denn niemals weiter kommen, als danach zu fragen?“ sagte das Weib.
„Ist es dann von der Zukunftspoesie, von der Sie sprechen können?“ fragte der Mann.
„Werden Sie nur nicht hochtrabend:, sagte das Weib, „dann werde ich wohl antworten. Sie denken nur an die Dichterei, fragen nach dem Märchen, als ob es die Madame über das Ganze wäre!“ sie ist freilich schon die Älteste, aber sie gilt immer als Jüngste. Ich kenne sie wohl! Ich bin auch einmal jung gewesen, und das ist keine Kinderkrankheit, Ich bin auch einmal ein ganz niedliches Elfenmädchen gewesen und habe mit den anderen im Mondschein getanzt, auf die Nachtigall gehört, bin in den Wald gegangen und dem Märchenfräulein begegnet, das immer aus war und sich herumtrieb. Bald nahm sie ihr Nachtlager in einer halberblühten Tulpe oder in einer Wiesenblume, bald huscht sie hinein in die Kirche und hüllte sich in den Trauerflor, der von den Altarkerzen herabhing!“
„Sie wissen herrlich Bescheid!“ sagte der Mann.
„Ich sollte doch wahrscheinlich ebenso viel wissen wie Sie!“ sagte das Moorweib. „Märchen und Poesie, ja, das sind zwei Ellen von einem Stück; die können gehen und sich schlafen legen, wo sie wollen. All ihre Worte und Werke kann man nachbrauen und besser und billiger haben. Sie sollen sie bei mir umsonst bekommen. Ich habe einen ganzen Schrank voll von Poesie auf Flaschen. Es ist die Essenz, das Feine davon, die Bierwürze, das Süße und auch das Bittere. Ich habe auf Flaschen alles, was die Menschen von Poesie brauchen, um an Feststagen etwas auf ihr Sacktuch zu tun, um daran zu riechen.“
„Das sind ganz seltsame Dinge, die Sie da sagen“, sagte der Mann. „Haben Sie Poesie auf Flaschen?“
„Mehr als Sie aushalten können!“ sagte das Weib. „Sie kennen wohl die Geschichte von dem Mädchen, welches aufs Brot trat, um seine neuen Schuhe nicht zu beschmutzen? Sie ist sowohl geschrieben wie gedruckt.“
„Die habe ich selber erzählt“, sagte der Mann.
„Ja, dann kennen Sie sie“, sagte das Weib, „und wissen, dass das Mädchen direkt hinab in die Erde sank zur Moorfrau, gerade, als des Teufels Großmutter Besuch machte, um die Brauerei zu sehen. Sie sah das Mädchen, das hereinsank, und bat es sich als Postament aus, als Erinnerung an den Besuch, und sie bekam es, und ich bekam ein Geschenk, für das ich gar keine Verwendung habe, eine Reiseapotheke, einen ganzen Schrank voll Poesie auf Flaschen. Die Großmutter sagte, wo der Schrank stehen sollte, und da steht er noch. Sehen Sie nur! Sie haben ja Ihre sieben Vierblätter in der Tasche, von denen das eine ein Sechsklee ist, da werden Sie es wohl sehen können.“
Und wirklich, mitten im Moor lag wie ein großer Erlenstrunk der Schrank der Großmutter. Er stand offen für das Moorweib und für jeden in allen Ländern und in allen Zeiten, wenn man nur wusste, wo der Schrank stand. Er war vorne und hinten zu öffnen, auf allen Seiten und Ecken, ein ganzes Kunstwerk, und sah doch nur wie ein alter Erlenstrunk aus. Die Poeten aller Länger, besonders die unseres eigenen Landes, waren hier nachbereitet; ihr Geist war ausspekuliert, rezensiert, renoviert, konzentriert und auf Flaschen gezogen. Mit großem Instinkt, wie es genannt wird, wenn man nicht Genie sagen will, hatte die Großmutter das in der Natur genommen, was gleichsam nach diesem oder jenem Poeten schmeckte, hatte etwas Teufelei hinzugesetzt, und so hatte sie eine Poesie auf Flaschen für die ganze Zukunft.
„Lassen Sie mich einmal sehen!“ sagte der Mann.
„Ja, aber es gibt wichtigere Dinge zu hören!“ sagte das Moorweib.
„Aber jetzt sind wir bei dem Schrank!“ sagte der Mann und sah hinein. „Hier sind Flaschen in allen Größen. Was ist in dieser? Und was in dieser?“
„Hier ist das, was sie Maiduft nennen!“ sagte das Weib. „Ich habe es nicht versucht, aber ich weiß, wenn man davon nur einen kleinen Tropfen auf den Boden spritzt, dann liegt da gleich ein herrlicher Waldsee mit Wasserlilien, blühendem Rohr und wilder Krauseminze. Man gießt nur zwei Tropfen auf ein altes Heft, selbst aus der untersten Klasse, und dann wird das Buch eine ganze Duftkomödie, die man sehr gut aufführen und bei der man einschlafen kann, so stark durftet sie. Das soll wohl eine Höflichkeit für mich sein, dass auf der Flasche steht: „Gebräu des Moorweibs“.
Hier steht die Skandalflasche. Sie sieht aus, als ob nur schmutziges Wasser darin wäre, und es ist schmutziges Wasser, aber mit Brausepulver von Stadtgeklatsch, drei Lot Lügen und zwei Gran Wahrheit mit einem Birkenzweig umgerührt, nicht aus einer Spießrute, die man in Salzlake gelegt hat und aus dem blutigen Körper des Sünders schnitt, auch nicht eine Gerte von der Rute des Schulmeisters, nein, direkt vom Besen genommen, der den Rinnstein fegte.
Hier steht die Flasche mit der frommen Poesie im Psalmenton. Jeder Tropfen hat einen Klang wie das Quietschen der Höllentüre und ist zubereitet aus dem Blut und Schweiß der Züchtigung; einige sagen, es ist nur Taubengalle, aber die Tauben sind die frömmsten Tiere, sie haben keine Galle, sagen die Leute, die nicht Naturgeschichte kennen.“
Hier stand die Flasche aller Flaschen; sie nahm den halben Schrank ein, die Flasche mit den Alltagsgeschichten; sie war sowohl mit einer Schweinshaut als auch mit einer Blase zugebunden, denn sie durfte nichts von ihrer Kraft verlieren. Jede Nation konnte hier ihre eigene Suppe erhalten, sie kam, je nachdem man die Flasche wandte und drehte. Hier war alte deutsche Blutsuppe mit Räuberklößchen, auch dünne Hausmannssumme mit wirklichen Hofräten, die wie Wurzelwerk darin lagen, und auf der Oberfläche schwammen philosophische Fettaugen. Es gab englische Gouvernantensuppe und die französische Potage à la Kock, mit Hühnerknochen und Spatzeneiern zubereitet, auf dänisch Cancansuppe genannt. Aber die beste von den Suppen war die Kopenhagener. Das sagte die Familie.
Hier stand die Tragödie in Champagnerflaschen; sie konnte knallen, und das soll sie. Das Lustspiel sah aus wie feiner Sand, um ihn den Leuten in die Augen zu werfen, das heißt, das feinere Lustspiel; das gröbere war auch auf Flaschen, aber bestand nur aus Zukunftsplakaten, wo der Name das Kräftigste vom Stück war. Es waren ausgezeichneten Komödiennamen wie: „Willst du herausrücken mit dem Geld?“, „Eins um die Ohren“, „Der süße Esel“ und „Sie ist knallvoll!“
Der Mann verfiel in Gedanken dabei, aber das Moorweib dachte weiter, sie wollte ein Ende haben.
„Nun haben Sie wohl genug in dem Kramkasten gesehen!“ sagte sie. „Nun wissen Sie, was das ist; aber das Wichtigere, was Sie wissen sollten, wissen Sie noch nicht. Die Irrlichter sind in der Stadt! Das hat mehr zu bedeuten als Poesie und Märchen. Ich sollte nun gerade meinen Mund dabei halten, aber es muss eine Fügung sein, ein Schicksal, etwas, was stärker ist als ich, es drückt mir das Herz ab, es muss heraus. Die Irrlichter sind in der Stadt! Sie sind losgekommen: Nehmt euch in acht, ihr Menschen!“
„Davon verstehe ich kein Wort!“ sagte der Mann.
„Seien Sie so gut und setzen Sie sich auf den Schrank“, sagte sie, „aber fallen Sie nicht hinein, dass Sie nicht die Flaschen entzweischlagen; Sie wissen, was darin ist. Ich werde Ihnen das große Ereignis erzählen; es ist nicht länger her als seit gestern; es hat sich schon früher zugetragen. Es hat noch dreihundertvierundsechzig Tage zu dauern. Sie wissen, wie viel Tage ein Jahr hat?“
Und das Moorweib erzählte.
„Hier hat sich gestern etwas Großes in den Sümpfen ereignet: Hier war Kinderfest! Hier wurde ein kleines Irrlicht geboren, hier wurden zwölf geboren von der Gattung, der es gegeben ist, wenn sie wollen, als Menschen auftreten zu können und unter diesen zu agieren und zu kommandieren, als ob sie geborene Menschen wären. Das ist ein großes Ereignis im Sumpf, und deshalb tanzten über Moor und Wiese hin alle Irrlichter und Irrlichterinnen; es gibt auch ein weibliches Geschlecht, aber das ist nicht im Sprachgebrauch. Ich saß da auf meinem Schrank und hatte alle die zwölf kleinen neugeborenen Irrlichter auf meinem Schoß; sie leuchteten wie Johanniswürmchen; sie fingen schon an zu hüpfen, und jede Minute nahmen sie an Größe zu, so dass, ehe eine Viertelstunde um war, jedes von ihnen ebenso groß aussah wie der Vater oder Onkel. Nun ist es ein altes, angeborenes Gesetz und eine Gunst, wenn der Wind so weht, wie er gestern wehte, und der Mond so steht, wie er gestern stand, dann ist es allen Irrlichtern, die in dieser Stunde und Minute geboren werden, gegeben und gegönnt, dass sie Menschen werden können und jedes von ihnen ein ganzes Jahr lang ringsum seine Macht üben kann. Das Irrlicht kann durch das Land und um die Welt ziehen, wenn es nicht Angst hat, in die See zu fallen oder in einem starken Sturm ausgeblasen zu werden. Es kann kerzengerade in einen Menschen hineinfahren, für ihn sprechen und alle Bewegungen machen, die es will. Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen, die es will, von Mann oder Weib, kann in ihrem Geist handeln, aber seinem ganzen Wesen entsprechend, so dass dabei herauskommt, was es will; aber in einem Jahr muss es wissen und verstehen, dreihundertfünfundsechzig Menschen auf falsche Wege zu führen, und dies in großem Stil, sie von dem Recht und der Wahrheit fortzuführen, dann erreicht es das Höchste, wozu es ein Irrlicht bringen kann, nämlich Läufer vor des Teufels Staatskarosse zu werden, glühende, feuergelbe Kleider zu bekommen und Flammen, die ihm zum Hals herausschlagen. Danach kann sich ein einfaches Irrlicht die Finger ablecken. Aber es ist auch Gefahr und große Unannehmlichkeit für ein ehrgeiziges Irrlicht damit verbunden, das gerne eine Rolle spielen will. Gehen dem Menschen die Augen auf und sieht er, wer es ist, und kann es wegblasen, so ist es weg und muss zurück in den Sumpf; und wenn ein Irrlicht, bevor das Jahr um ist, von der Sehnsucht gepackt wird, zu seiner Familie zu kommen, und sich selber aufgibt, so ist es auch weg, kann nicht länger hell brennen, geht bald aus und kann nicht wieder angezündet werden; und ist das Jahr zu Ende und hat es dann noch nicht dreihunderfünfundsechzig Menschen fortgeführt von der Wahrheit und von dem, was schön und gut ist, so ist es verurteilt, in faulem Holz zu liegen und zu leuchten, ohne sich rühren zu können, und das ist die fürchterlichste Strafe für ein lebhaftes Irrlicht. All dies wusste ich, und all dies sagte ich den zwölf kleinen Irrlichtern, die ich auf dem Schoß hatte und die wie toll vor Freude waren. Ich sagte ihnen, dass es das sicherste und bequemste wäre, die Ehre aufzugeben und nichts anzustellen; das wollten die jungen Flammen nicht, sie sahen sich schon glühend, brandgelb, mit der Flamme zum Halse heraus. „Bleibt bei uns!“ sagten einige von den Alten. „Treibst Spiel mit den Menschen!“ sagten die andern. „Die Menschen trocknen unsere Wiesen aus, die dränieren! Was soll da aus unseren Nachkommen werden!“
„Wir wollen flammen in Flammen!“ sagten die neugeborenen Irrlichter, und so war es abgemacht.
Hier war nun gleich Minutenball, kürzer konnte es nicht sein! Die Elfenmädchen schwingen sich dreimal herum mit allen den andern, um nicht hochmütig zu seinen; sie tanzen sonst am liebsten mit sich selber. Dann wurden Patengeschenke gegeben, „Rikoschettiert“, wie man es nennt. Geschenke flogen wie Kieselsteine über das Moorwasser hin. Jedes von den Elfenmädchen gab einen Zipfel von ihrem Schleier. „Nimm ihn“, sagten sie, „dann kannst du gleich den höheren Tanz, die schwierigsten Schwingungen und Wendungen, auch wenn es drückt; du bekommst die rechte Haltung und kannst dich in der steifsten Gesellschaft zeigen!“ Der Nachtrabe lehrte jedes der jungen Irrlichter „bra, bra, brav!“ zu sagen, es am rechten Ort zu sagen und das ist eine große Gabe, die sich selber lohnt. Die Eule und der Storch ließen auch etwas fallen, aber das war nicht der Rede wert, sagten sie, also reden wir nicht davon. König Waldemars wilde Jagd fuhr gerade hin über das Moor, und da diese Herrschaft von dem Fest hörte, sandte sie als Geschenk ein paar feine Hunde, die mit Windeseile jagen und wohl ein Irrlicht tragen können, oder auch drei. Zwei alte Nachtmahre, die sich durch Reiten ernähren, waren mit bei dem Fest; die lehrten sie gleich die Kunst, durch ein Schlüsselloch hineinzuschlüpfen, das ist, als ob einem alle Türen offen stünden. Sie boten sich an, die jungen Irrlichter in die Stadt zu führen, wo sie gut Bescheid wissen. Sie reiten gewöhnlich durch die Luft auf ihrem eigenen langen Nackenhaar, das sie in einen Knoten gebunden haben, um fest zu sitzen. Aber nun setzt sie sich beide quer auf die Hunde der wilden Jagd, nahmen die jungen Irrlichter auf den Schoß, die hineinsollten, um die Menschen zu verleiten und zu verwirren – husch! waren sie fort. Das war alles gestern nacht. Nun sind die Irrlichter in der Stadt, jetzt haben sie die Sache schon angepackt, aber wie und so, ja, sag mir das! Ich habe einen Wetterpropheten in meiner großen Zehe, der mir immer etwas erzählt!“
„Das ist ein ganzes Märchen!“ sagte der Mann.
„Ja, das ist doch nur der Anfang zu einem“, sagte das Weib. „Können Sie mir erzahlen, wie sich die Irrlichter nun tummeln und betragen, in welchen Gestalten sie aufgetreten sind, um die Menschen auf falsche Wege zu ringen?“ „Ich glaube wohl“, sagte der Mann, „es konnte ein ganzer Roman über die Irrlichter geschrieben werden, ganze zwölf Teile, einen über jedes Irrlicht, oder vielleicht noch besser ein ganzes Volkslustspiel.“
„Das sollten Sie schreiben“, sagte das Weib, „oder lieber es sein lassen.“
„Ja, das ist angenehmer und bequemer“, sagte der Mann, „dann braucht man sich nicht in der Zeitung zerrupfen zu lassen, und dabei wird es einem oft ebenso beklommen zumut wie einem Irrlicht, wenn es in einem Baume liegen, leuchten muss und nicht mucksen darf!“
„Mir ist das ganz gleich“, sagte das Weib, „aber lassen Sie lieber die andern schreiben, die, die es können, und die, die es nicht können! Ich gebe einen alten Zapfen von meinem Fass, der schließt den Schrank mit der Poesie auf Flaschen auf, darauf können sie bekommen, was ihnen fehlt; aber Sie, mein guter Mann, scheinen mir nun Ihre Finger genug mit Tinte beschmiert zu haben, und Sie sollten wohl zu dem Alter und der Gesetztheit gekommen sein, dass Sie nicht jedes Jahr dem Märchen nachlaufen dürfen, nun, wo viel wichtigere Dinge zu tun sind. Sie haben doch wohl verstanden, was los ist=“ „Die Irrlichter sind in der Stadt!“ sagte der Mann. „Ich habe es gehört, ich habe es verstanden! Aber was wollen Sie, dass ich tun soll? Es wird mir ja doch schlecht ergehen, wenn ich sie sehe und den Leuten sage: „Seht einmal, da geht ein Irrlicht in Staatsuniform!“
„Sie gehen auch in Röcken!“ sagte das Weib. „Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen, die es will, und allerorten auftreten. Es geht in die Kirche, nicht um Gottes willen, nein, vielleicht ist es in den Priester gefahren. Es spricht am Wahltag nicht zu des Landes und Reiches Gunsten, nein, nur zu seinen eigenen; es ist Künstler sowohl im Farbentopf als auch im Theatertopf, aber bekommt es ordentlich Macht, dann ist es aus mit dem Topf! Ich schwatze und schwatze, ich muss heraus mit dem, was ich auf dem Herzen habe, zum Schaden meiner eigenen Familie; aber ich werde nun die Retterin der Menschheit sein. Das geschieht wahrlich nicht aus guter Absicht oder um der Medaille willen. Ich tue das Verkehrteste, was ich tun kann, ich sage es einem Poeten und so bekommt es gleich die ganze Stadt zu wissen!“
„Die Stadt nimmt sich das nicht zu Herzen!“ sagte der Mann. „Das wird keinen einzigen Menschen bekümmern, sie glauben alle, dass ich ein Märchen erzähle, während ich im tiefsten Ernst ihnen sage: „Die Irrlichter sind in der Stadt“, sagte die Moorfrau, “ Nehmt euch in acht.“
Es war einmal ein Mann, der einst so viele neue Märchen wusste, aber nun seien sie ihm ausgegangen, sagte er; das Märchen, das von selber Besuch machte, kam nicht mehr und klopfte an seine Türe; und weshalb kam es nicht? Ja, das ist freilich war, der Mann hatte in Jahr und Tag nicht daran gedacht, nicht erwartet, dass es kommen sollte, um anzuklopfen, aber es war gewiss auch nicht hier gewesen, denn draußen war Krieg und drinnen Kummer und Not, wie der Krieg sie mitbringt.
Storch und Schwalbe kamen von ihrer langen Reise, sie dachten an keine Gefahr, und als sie kamen waren das Nest verbrannt, die Häuser der Menschen verbrannt, die Hecken zerstört, ja ganz verschwunden; die Rosse der Feinde stampften auf den alten Gräbern, Es waren harte, dunkle Zeiten; aber auch die nehmen ein Ende.
Und nun hatten sie ein Ende, sagte man, doch noch klopfte das Märchen nicht an oder ließ von sich hören.
„Es ist wohl tot und verschollen mit den vielen andern“, sagte der Mann. Aber das Märchen stirbt nie!
Und es verging mehr als ein ganzes Jahr, und er sehnte sich so schrecklich. „Ob das Märchen nicht doch wiederkommen und anklopfen würde!“ Und er erinnerte sich seiner so lebhaft in all den vielen Gestalten, in denen es zu ihm gekommen war; bald jung und herrlich, der Frühling selber, ein reizendes kleines Mädchen mit einem Maiglöckchenkranz im Haar und einem Buchenzweig in der Hand; ihre Augen glänzten wie tiefe Waldseen im klaren Sonnenschein, bald war es auch als Hausierer gekommen, hatte den Kramkasten geöffnet und das Seidenband mit Vers und Inschrift voll alter Erinnerungen flattern lassen; aber am allerschönsten war es doch, wenn es als altes Mütterchen mit silberweißem Haar und mit so großen und so klugen Augen kam, da wusste sie recht zu erzählen von den allerältesten Zeiten, lange noch, bevor die Prinzessinnen Gold spannen, während Drachen und Lindwürmer draußen lagen und sie bewachten. Da erzählte sie so lebendig, dass jedem schwarze Flecken vor die Augen kamen, der darauf hörte, der Boden wurde schwarz von Menschenblut, graulich anzusehen und zu hören und doch so vergnüglich, denn es war so lange her, dass es geschehen war.
„Ob sie nicht mehr anklopfen würde!“ sagte der Mann und starrte nach der Tür, so dass ihm schwarze Flecken vor die Augen kramen, schwarze Flecken auf den Boden; er wusste nicht, ob es Blut war oder Trauerschleier aus den schweren, dunklen Tagen.
Und wie er saß, kam ihm in den Sinn, ob nicht das Märchen sich verborgen halte wie die Prinzessin in den richtigen, alten Märchen und nur aufgesucht werden wollte; wurde sie gefunden, dann strahle sie in neuer Herrlichkeit, schöner als je zuvor.
„Wer weiß, vielleicht liegt sie verborgen in dem weggeworfenen Strohhalm, der am Brunnenrand schaukelt. Vorsichtig! Vorsichtig! Vielleicht hat sie sich in eine verwelkte Blume versteckt, die in einem der großen Bücher auf dem Bücherbord liegt.“
Und der Mann ging hin, öffnete eines der allerneuesten, aus denen man Verstand bekommen soll; aber das lag keine Blume, da stand von Holger Danske zu lesen; und der Mann las, dass die ganze Geschichte erfunden und zusammengesetzt sei von einem Mönch in Frankreich, dass es ein Roman sei, der „übersetzt und gedruckt in der dänischen Sprache“ worden war; dass Holger Danske gar nicht existierte und also gar nicht wiederkommen könne, wie wir davon gesungen und so gerne daran geglaubt hatten. Es war mit Holger Danske wie mit Wilhelm Tell, nur Gerede, auf das man sich nicht verlassen konnte, und das war in dem Buch mit großer Gelehrsamkeit dargelegt.
„Ja, ich glaube nun, was ich glaube, sagte der Mann, „es wächst kein Wegerich, wo noch kein Fuß hintrat.“
Und er machte das Buch zu, stellte es auf das Bord und ging dann hin zu den frischen Blumen am Fensterbrett; vielleicht hatte sich dort das Märchen versteckt in die rote Tulpe mit den goldgelben Rändern oder in die frische Rose oder in die starkfarbige Kamelie. Der Sonnenschein lag zwischen den Blättern, aber nicht das Märchen.
„Die Blumen, die hier in der Trauerzeit standen, waren alle weit schöner; aber sie wurden abgeschnitten, jede einzelne, in Kränze gebunden, auf Särge niedergelegt, und über sie wurde die Fahne gebreitet. Vielleicht ist das Märchen mit den Blumen begraben! Aber davon müssten die Blumen gewusst haben, der Sarg hätte es vernommen, die Erde hätte es vernommen, jeder kleine Grashalm, der hervor wuchs, würde es erzählt haben. Das Märchen stirbt niemals!
Vielleicht ist es auch hier gewesen und hat angeklopft, aber wer hatte damals Ohren dafür, Gedanken dafür! Man sah düster, schwermütig, fast böse zu dem Sonnenschein des Frühlings, seinem Vogelgezwitscher und all dem fröhlichen Grün; ja, die Zunge konnte nicht die alten, volksfrischen Lieder singen, wie wurden eingesargt mit so vielem, was unserm Herzen teuer war; das Märchen kann wohl angeklopft haben; aber es wurde nicht gehrt, nicht willkommen geheißen, und so ist es fortgeblieben.
Ich will gehen und es aufsuchen.
Hinaus aufs Land! Hinaus in den Wald, an den offenen Strand!“
Draußen liegt ein alter Herrenhof mit roten Mauern, zackigem Giebel und wehender Fahne auf dem Turm. Die Nachtigall singt unter den feingefransten Buchenblättern, während sie auf des Garten blühende Apfelbäume blickt und glaubt, dass sie Rosen tragen. Hier sind in der Sommersonne die Bienen geschäftig, und mit summendem Gesang schwärmen sie um ihre Königin. Der Herbststurm weiß von der wilden Jagd zu erzahlen, von den Menschengeschlechtern und den Blättern des Waldes, die hinwehen. Zur Weihnachtszeit singen die wilden Schwäne draußen vor dem offenen Wasser, während man drinnen in dem alten Hof am Kaminfeuer Lust hat, Lieder und Sagen zu hören.
Drunten in dem alten Teil des Gartens, wo die große Allee von wilden Kastanien mit ihrem Halbdunkel lockt, ging der Mann, der das Märchen suchte; hier hatte ihm einmal der Wind von Waldemar Daa und seinen Töchtern vorgesaust. Die Dryade im Baum, das war die Märchenmutter selbst, hatte ihm hier von des alten Eichenbaums letztem Traum erzählt, Zu der Großmutter Zeiten standen hier beschnittene Hecken, nun wuchsen nur Farnkräuter und Nesseln; sie breiteten sich aus über hingeworfene Reste alter Steinfiguren; Moos wuchs ihnen in den Augen, aber sie konnten ebenso gut sehen wie früher, das konnte der Mann, der nach dem Märchen suchte, nicht. es sah das Märchen nicht. Wo war es?
Über ihm und die alten Bäume hin flogen Krähen zu Hunderten und schrieen „Fort von Hier! Fort von hier!“
Und er ging aus dem Garten über den Wallgraben des Herrenhofes hin in das Erlenwäldchen hinein; dort stand ein kleines, sechseckiges Haus mit einem Hühnerhof und einem Entenhof; mitten in der Stube saß die alte Frau, die das Ganze leitete und genau von jedem Ei Bescheid wusste, das gelegt wurde, von jedem Küken, das aus dem Ei schlüpfte! Aber sie war nicht das Märchen, das der Mann suchte; das konnte sie beweisen mit einem christlichen Taufschein und einem Impf-Attest, beide lagen in der Truhe.
Draußen, nicht weit von dem Hause, ist ein Hügel mit Rotdorn und Goldregen; hier liegt ein alter Grabstein, der vor vielen Jahren vom Kirchhof eines Landstädtchens hierher gebracht wurde, eine Erinnerung an einen der ehrenhaften Ratsherren der Stadt, seine Frau und seine fünf Töchter, alle mit gefalteten Händen und Halskrausen, stehen, aus Stein gehauen, um ihn herum. Man konnte sie so lange betrachten, dass sie auf die Gedanken wirkten, und diese wieder wirkten auf den Stein, so dass er von alten Zeiten erzählte; wenigstens war es dem Mann so ergangen, der das Märchen suchte. Als er nun dahin kam, sah er einen lebendigen Schmetterling grade auf der Stirn von dem gemeißelten Bilde des Ratsherrn sitzen; der schlug mit den Flügeln, flog eine kleine Strecke und setzt sich wieder dicht neben den Grabstein, gleichsam um zu zeigen, was dort wuchs. Dort wuchs ein Vierklee, dort wuchsen ganze sieben Stück nebeneinander. Kommt das Glück, so kommt es in Fülle! Er pflückte die Kleeblätter und steckte sie in die Tasche. Das Glück ist so gut wie bares Geld, aber ein neues, schönes Märchen wäre doch noch besser, dachte der Mann, aber das fand er dort nicht.
Die Sonne ging unter, rot und groß; die Wiese dampfte, und das Moorweib braute.
Es war spät am Abend; er stand allein in seiner Stube, sah hinaus über den Garten, über Wiese, Moor und Strand, der Mond schien hell, es lag ein Dunst über der Wiese, als sei sie ein großer See, und das war sie auch einmal gewesen, ging die Sage, und im Mondschein trat die Sage in Erscheinung. Da dachte der Mann daran, was er drinnen, in der Stadt gelesen hatte, dass Wilhelm Tell und Holger Danske nicht gelebt hätten, aber im Volksglauben werden sie doch, wie der See hier draußen, lebende Erscheinungen der Sage. Ja, Holger Danske kommt wieder!
Während er so stand und dachte, schlug etwas ganz stark an das Fenster. War es ein Vogel? eine Fledermaus oder eine Eule? Ja, die lässt man nicht ein, wenn sie klopfen. Das Fenster sprang von selber auf, ein altes Weib sah herein zu dem Mann.
„Was ist gefällig?“ fragte er. „Wer ist Sie? Gleich herein in die erste Etage sieht sie, steht Sie auf einer Leiter?“
„Sie haben ein Vierblatt in der Tasche“, sagte sie, „ja, Sie haben ganze sieben, von denen eines ein Sechsklee ist.“
„Wer ist Sie?“ fragte der Mann.
„Das Moorweib:“ sagte sie. „Das Moorweib, das braut; ich war gerade in voller Arbeit; der Zapfen saß im Fass, aber einer der kleinen Moorjungen riss ihm Übermut den Zapfen ab und warf ihn gerade bis herauf zum Haus, wo er an das Fenster schlug; nun läuft das Bier aus dem Fass, und damit ist keinem gedient.“
„Erzahle Sie mir doch!“ sagte der Mann.
„Ja, wart ein wenig!“ sagte das Moorweib. „Jetzt habe ich anderes zu besorgen!“ Und da war sie fort.
Der Mann war dabei, das Fenster zu schließen, da stand das Weib wieder da. „Nun ist es geschehen!“ sagte sie. „Aber das halbe Bier kann ich morgen wieder brauen, wenn das Wetter danach bleibt. Nun, was haben Sie zu fragen? Ich komme wieder, denn ich halte immer Wort, und Sie haben sieben Vierblätter in der Tasche, von denen eines ein Sechsklee, das ist ein Ordenszeichen, das an der Landstraße wächst, aber nicht von jedem gefunden wird. Wonach haben Sie also zu fragen? Stehen Sie jetzt nicht da wie ein dummes Ende, ich muss bald fort zu meinem Zapfen und meinem Fass!“
Und der Mann fragte nach dem Märchen, fragte, ob das Moorweib es auf seinem Wege gesehen hätte.
„Ih, du großes Brauhaus!“ sagte das Weib. „Haben Sie noch nicht genug von Märchen? Das glaube ich doch freilich, dass die meisten genug haben. Hier ist anderes zu besorgen, anderes zu beachten. Selbst die Kinder sind darüber hinausgewachsen. Gebt den kleinen Jungen eine Zigarre und den kleinen Mädchen eine neue Krinoline, das mögen sie lieber! Auf Märchen hören? Nein, hier ist wahrlich anderes zu besorgen, wichtigeres auszurichten!“
„Was meinen Sie damit?“ fragte der Mann. „Und was wissen sie von der Welt? Sie sehen ja nur Frösche und Irrlichter.
„Ja, nehmen sie sich in acht vor den Irrlichtern“ sagte das Weib, „sie sind aus! Sie sind losgekommen! Von denen wollen wir reden! Kommen sie zu mir in das Moor, wo meine Anwesenheit notwendig ist; dort werde ich Ihnen alles sagen, aber eilen Sie sich ein wenig, solange Ihre sieben Vierblätter mit dem einen Sechser frisch sind und der Mond noch scheint!“ Weg war das Moorweib.
Die Glocke schlug zwölf von der Turmuhr, und bevor sie das nächste Viertel schlug, war der Mann draußen auf dem Hof, draußen aus dem Garten und stand in der Wiese. Der Nebel hatte sich gelegt, das Moorweib hörte auf zu brauen.
„Es dauerte lange, bis Sie kamen!“ sagte das Moorweib. „Das Zauberzeug kommt schneller vorwärts als die Menschen, und ich bin froh, dass ich als Zauberwesen geboren bin.“
„Was haben Sie mir nun zu sagen?“ fragte der Mann. „Ist es ein Wort vom Märchen?“
„Können Sie denn niemals weiter kommen, als danach zu fragen?“ sagte das Weib.
„Ist es dann von der Zukunftspoesie, von der Sie sprechen können?“ fragte der Mann.
„Werden Sie nur nicht hochtrabend:, sagte das Weib, „dann werde ich wohl antworten. Sie denken nur an die Dichterei, fragen nach dem Märchen, als ob es die Madame über das Ganze wäre!“ sie ist freilich schon die Älteste, aber sie gilt immer als Jüngste. Ich kenne sie wohl! Ich bin auch einmal jung gewesen, und das ist keine Kinderkrankheit, Ich bin auch einmal ein ganz niedliches Elfenmädchen gewesen und habe mit den anderen im Mondschein getanzt, auf die Nachtigall gehört, bin in den Wald gegangen und dem Märchenfräulein begegnet, das immer aus war und sich herumtrieb. Bald nahm sie ihr Nachtlager in einer halberblühten Tulpe oder in einer Wiesenblume, bald huscht sie hinein in die Kirche und hüllte sich in den Trauerflor, der von den Altarkerzen herabhing!“
„Sie wissen herrlich Bescheid!“ sagte der Mann.
„Ich sollte doch wahrscheinlich ebenso viel wissen wie Sie!“ sagte das Moorweib. „Märchen und Poesie, ja, das sind zwei Ellen von einem Stück; die können gehen und sich schlafen legen, wo sie wollen. All ihre Worte und Werke kann man nachbrauen und besser und billiger haben. Sie sollen sie bei mir umsonst bekommen. Ich habe einen ganzen Schrank voll von Poesie auf Flaschen. Es ist die Essenz, das Feine davon, die Bierwürze, das Süße und auch das Bittere. Ich habe auf Flaschen alles, was die Menschen von Poesie brauchen, um an Feststagen etwas auf ihr Sacktuch zu tun, um daran zu riechen.“
„Das sind ganz seltsame Dinge, die Sie da sagen“, sagte der Mann. „Haben Sie Poesie auf Flaschen?“
„Mehr als Sie aushalten können!“ sagte das Weib. „Sie kennen wohl die Geschichte von dem Mädchen, welches aufs Brot trat, um seine neuen Schuhe nicht zu beschmutzen? Sie ist sowohl geschrieben wie gedruckt.“
„Die habe ich selber erzählt“, sagte der Mann.
„Ja, dann kennen Sie sie“, sagte das Weib, „und wissen, dass das Mädchen direkt hinab in die Erde sank zur Moorfrau, gerade, als des Teufels Großmutter Besuch machte, um die Brauerei zu sehen. Sie sah das Mädchen, das hereinsank, und bat es sich als Postament aus, als Erinnerung an den Besuch, und sie bekam es, und ich bekam ein Geschenk, für das ich gar keine Verwendung habe, eine Reiseapotheke, einen ganzen Schrank voll Poesie auf Flaschen. Die Großmutter sagte, wo der Schrank stehen sollte, und da steht er noch. Sehen Sie nur! Sie haben ja Ihre sieben Vierblätter in der Tasche, von denen das eine ein Sechsklee ist, da werden Sie es wohl sehen können.“
Und wirklich, mitten im Moor lag wie ein großer Erlenstrunk der Schrank der Großmutter. Er stand offen für das Moorweib und für jeden in allen Ländern und in allen Zeiten, wenn man nur wusste, wo der Schrank stand. Er war vorne und hinten zu öffnen, auf allen Seiten und Ecken, ein ganzes Kunstwerk, und sah doch nur wie ein alter Erlenstrunk aus. Die Poeten aller Länger, besonders die unseres eigenen Landes, waren hier nachbereitet; ihr Geist war ausspekuliert, rezensiert, renoviert, konzentriert und auf Flaschen gezogen. Mit großem Instinkt, wie es genannt wird, wenn man nicht Genie sagen will, hatte die Großmutter das in der Natur genommen, was gleichsam nach diesem oder jenem Poeten schmeckte, hatte etwas Teufelei hinzugesetzt, und so hatte sie eine Poesie auf Flaschen für die ganze Zukunft.
„Lassen Sie mich einmal sehen!“ sagte der Mann.
„Ja, aber es gibt wichtigere Dinge zu hören!“ sagte das Moorweib.
„Aber jetzt sind wir bei dem Schrank!“ sagte der Mann und sah hinein. „Hier sind Flaschen in allen Größen. Was ist in dieser? Und was in dieser?“
„Hier ist das, was sie Maiduft nennen!“ sagte das Weib. „Ich habe es nicht versucht, aber ich weiß, wenn man davon nur einen kleinen Tropfen auf den Boden spritzt, dann liegt da gleich ein herrlicher Waldsee mit Wasserlilien, blühendem Rohr und wilder Krauseminze. Man gießt nur zwei Tropfen auf ein altes Heft, selbst aus der untersten Klasse, und dann wird das Buch eine ganze Duftkomödie, die man sehr gut aufführen und bei der man einschlafen kann, so stark durftet sie. Das soll wohl eine Höflichkeit für mich sein, dass auf der Flasche steht: „Gebräu des Moorweibs“.
Hier steht die Skandalflasche. Sie sieht aus, als ob nur schmutziges Wasser darin wäre, und es ist schmutziges Wasser, aber mit Brausepulver von Stadtgeklatsch, drei Lot Lügen und zwei Gran Wahrheit mit einem Birkenzweig umgerührt, nicht aus einer Spießrute, die man in Salzlake gelegt hat und aus dem blutigen Körper des Sünders schnitt, auch nicht eine Gerte von der Rute des Schulmeisters, nein, direkt vom Besen genommen, der den Rinnstein fegte.
Hier steht die Flasche mit der frommen Poesie im Psalmenton. Jeder Tropfen hat einen Klang wie das Quietschen der Höllentüre und ist zubereitet aus dem Blut und Schweiß der Züchtigung; einige sagen, es ist nur Taubengalle, aber die Tauben sind die frömmsten Tiere, sie haben keine Galle, sagen die Leute, die nicht Naturgeschichte kennen.“
Hier stand die Flasche aller Flaschen; sie nahm den halben Schrank ein, die Flasche mit den Alltagsgeschichten; sie war sowohl mit einer Schweinshaut als auch mit einer Blase zugebunden, denn sie durfte nichts von ihrer Kraft verlieren. Jede Nation konnte hier ihre eigene Suppe erhalten, sie kam, je nachdem man die Flasche wandte und drehte. Hier war alte deutsche Blutsuppe mit Räuberklößchen, auch dünne Hausmannssumme mit wirklichen Hofräten, die wie Wurzelwerk darin lagen, und auf der Oberfläche schwammen philosophische Fettaugen. Es gab englische Gouvernantensuppe und die französische Potage à la Kock, mit Hühnerknochen und Spatzeneiern zubereitet, auf dänisch Cancansuppe genannt. Aber die beste von den Suppen war die Kopenhagener. Das sagte die Familie.
Hier stand die Tragödie in Champagnerflaschen; sie konnte knallen, und das soll sie. Das Lustspiel sah aus wie feiner Sand, um ihn den Leuten in die Augen zu werfen, das heißt, das feinere Lustspiel; das gröbere war auch auf Flaschen, aber bestand nur aus Zukunftsplakaten, wo der Name das Kräftigste vom Stück war. Es waren ausgezeichneten Komödiennamen wie: „Willst du herausrücken mit dem Geld?“, „Eins um die Ohren“, „Der süße Esel“ und „Sie ist knallvoll!“
Der Mann verfiel in Gedanken dabei, aber das Moorweib dachte weiter, sie wollte ein Ende haben.
„Nun haben Sie wohl genug in dem Kramkasten gesehen!“ sagte sie. „Nun wissen Sie, was das ist; aber das Wichtigere, was Sie wissen sollten, wissen Sie noch nicht. Die Irrlichter sind in der Stadt! Das hat mehr zu bedeuten als Poesie und Märchen. Ich sollte nun gerade meinen Mund dabei halten, aber es muss eine Fügung sein, ein Schicksal, etwas, was stärker ist als ich, es drückt mir das Herz ab, es muss heraus. Die Irrlichter sind in der Stadt! Sie sind losgekommen: Nehmt euch in acht, ihr Menschen!“
„Davon verstehe ich kein Wort!“ sagte der Mann.
„Seien Sie so gut und setzen Sie sich auf den Schrank“, sagte sie, „aber fallen Sie nicht hinein, dass Sie nicht die Flaschen entzweischlagen; Sie wissen, was darin ist. Ich werde Ihnen das große Ereignis erzählen; es ist nicht länger her als seit gestern; es hat sich schon früher zugetragen. Es hat noch dreihundertvierundsechzig Tage zu dauern. Sie wissen, wie viel Tage ein Jahr hat?“
Und das Moorweib erzählte.
„Hier hat sich gestern etwas Großes in den Sümpfen ereignet: Hier war Kinderfest! Hier wurde ein kleines Irrlicht geboren, hier wurden zwölf geboren von der Gattung, der es gegeben ist, wenn sie wollen, als Menschen auftreten zu können und unter diesen zu agieren und zu kommandieren, als ob sie geborene Menschen wären. Das ist ein großes Ereignis im Sumpf, und deshalb tanzten über Moor und Wiese hin alle Irrlichter und Irrlichterinnen; es gibt auch ein weibliches Geschlecht, aber das ist nicht im Sprachgebrauch. Ich saß da auf meinem Schrank und hatte alle die zwölf kleinen neugeborenen Irrlichter auf meinem Schoß; sie leuchteten wie Johanniswürmchen; sie fingen schon an zu hüpfen, und jede Minute nahmen sie an Größe zu, so dass, ehe eine Viertelstunde um war, jedes von ihnen ebenso groß aussah wie der Vater oder Onkel. Nun ist es ein altes, angeborenes Gesetz und eine Gunst, wenn der Wind so weht, wie er gestern wehte, und der Mond so steht, wie er gestern stand, dann ist es allen Irrlichtern, die in dieser Stunde und Minute geboren werden, gegeben und gegönnt, dass sie Menschen werden können und jedes von ihnen ein ganzes Jahr lang ringsum seine Macht üben kann. Das Irrlicht kann durch das Land und um die Welt ziehen, wenn es nicht Angst hat, in die See zu fallen oder in einem starken Sturm ausgeblasen zu werden. Es kann kerzengerade in einen Menschen hineinfahren, für ihn sprechen und alle Bewegungen machen, die es will. Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen, die es will, von Mann oder Weib, kann in ihrem Geist handeln, aber seinem ganzen Wesen entsprechend, so dass dabei herauskommt, was es will; aber in einem Jahr muss es wissen und verstehen, dreihundertfünfundsechzig Menschen auf falsche Wege zu führen, und dies in großem Stil, sie von dem Recht und der Wahrheit fortzuführen, dann erreicht es das Höchste, wozu es ein Irrlicht bringen kann, nämlich Läufer vor des Teufels Staatskarosse zu werden, glühende, feuergelbe Kleider zu bekommen und Flammen, die ihm zum Hals herausschlagen. Danach kann sich ein einfaches Irrlicht die Finger ablecken. Aber es ist auch Gefahr und große Unannehmlichkeit für ein ehrgeiziges Irrlicht damit verbunden, das gerne eine Rolle spielen will. Gehen dem Menschen die Augen auf und sieht er, wer es ist, und kann es wegblasen, so ist es weg und muss zurück in den Sumpf; und wenn ein Irrlicht, bevor das Jahr um ist, von der Sehnsucht gepackt wird, zu seiner Familie zu kommen, und sich selber aufgibt, so ist es auch weg, kann nicht länger hell brennen, geht bald aus und kann nicht wieder angezündet werden; und ist das Jahr zu Ende und hat es dann noch nicht dreihunderfünfundsechzig Menschen fortgeführt von der Wahrheit und von dem, was schön und gut ist, so ist es verurteilt, in faulem Holz zu liegen und zu leuchten, ohne sich rühren zu können, und das ist die fürchterlichste Strafe für ein lebhaftes Irrlicht. All dies wusste ich, und all dies sagte ich den zwölf kleinen Irrlichtern, die ich auf dem Schoß hatte und die wie toll vor Freude waren. Ich sagte ihnen, dass es das sicherste und bequemste wäre, die Ehre aufzugeben und nichts anzustellen; das wollten die jungen Flammen nicht, sie sahen sich schon glühend, brandgelb, mit der Flamme zum Halse heraus. „Bleibt bei uns!“ sagten einige von den Alten. „Treibst Spiel mit den Menschen!“ sagten die andern. „Die Menschen trocknen unsere Wiesen aus, die dränieren! Was soll da aus unseren Nachkommen werden!“
„Wir wollen flammen in Flammen!“ sagten die neugeborenen Irrlichter, und so war es abgemacht.
Hier war nun gleich Minutenball, kürzer konnte es nicht sein! Die Elfenmädchen schwingen sich dreimal herum mit allen den andern, um nicht hochmütig zu seinen; sie tanzen sonst am liebsten mit sich selber. Dann wurden Patengeschenke gegeben, „Rikoschettiert“, wie man es nennt. Geschenke flogen wie Kieselsteine über das Moorwasser hin. Jedes von den Elfenmädchen gab einen Zipfel von ihrem Schleier. „Nimm ihn“, sagten sie, „dann kannst du gleich den höheren Tanz, die schwierigsten Schwingungen und Wendungen, auch wenn es drückt; du bekommst die rechte Haltung und kannst dich in der steifsten Gesellschaft zeigen!“ Der Nachtrabe lehrte jedes der jungen Irrlichter „bra, bra, brav!“ zu sagen, es am rechten Ort zu sagen und das ist eine große Gabe, die sich selber lohnt. Die Eule und der Storch ließen auch etwas fallen, aber das war nicht der Rede wert, sagten sie, also reden wir nicht davon. König Waldemars wilde Jagd fuhr gerade hin über das Moor, und da diese Herrschaft von dem Fest hörte, sandte sie als Geschenk ein paar feine Hunde, die mit Windeseile jagen und wohl ein Irrlicht tragen können, oder auch drei. Zwei alte Nachtmahre, die sich durch Reiten ernähren, waren mit bei dem Fest; die lehrten sie gleich die Kunst, durch ein Schlüsselloch hineinzuschlüpfen, das ist, als ob einem alle Türen offen stünden. Sie boten sich an, die jungen Irrlichter in die Stadt zu führen, wo sie gut Bescheid wissen. Sie reiten gewöhnlich durch die Luft auf ihrem eigenen langen Nackenhaar, das sie in einen Knoten gebunden haben, um fest zu sitzen. Aber nun setzt sie sich beide quer auf die Hunde der wilden Jagd, nahmen die jungen Irrlichter auf den Schoß, die hineinsollten, um die Menschen zu verleiten und zu verwirren – husch! waren sie fort. Das war alles gestern nacht. Nun sind die Irrlichter in der Stadt, jetzt haben sie die Sache schon angepackt, aber wie und so, ja, sag mir das! Ich habe einen Wetterpropheten in meiner großen Zehe, der mir immer etwas erzählt!“
„Das ist ein ganzes Märchen!“ sagte der Mann.
„Ja, das ist doch nur der Anfang zu einem“, sagte das Weib. „Können Sie mir erzahlen, wie sich die Irrlichter nun tummeln und betragen, in welchen Gestalten sie aufgetreten sind, um die Menschen auf falsche Wege zu ringen?“ „Ich glaube wohl“, sagte der Mann, „es konnte ein ganzer Roman über die Irrlichter geschrieben werden, ganze zwölf Teile, einen über jedes Irrlicht, oder vielleicht noch besser ein ganzes Volkslustspiel.“
„Das sollten Sie schreiben“, sagte das Weib, „oder lieber es sein lassen.“
„Ja, das ist angenehmer und bequemer“, sagte der Mann, „dann braucht man sich nicht in der Zeitung zerrupfen zu lassen, und dabei wird es einem oft ebenso beklommen zumut wie einem Irrlicht, wenn es in einem Baume liegen, leuchten muss und nicht mucksen darf!“
„Mir ist das ganz gleich“, sagte das Weib, „aber lassen Sie lieber die andern schreiben, die, die es können, und die, die es nicht können! Ich gebe einen alten Zapfen von meinem Fass, der schließt den Schrank mit der Poesie auf Flaschen auf, darauf können sie bekommen, was ihnen fehlt; aber Sie, mein guter Mann, scheinen mir nun Ihre Finger genug mit Tinte beschmiert zu haben, und Sie sollten wohl zu dem Alter und der Gesetztheit gekommen sein, dass Sie nicht jedes Jahr dem Märchen nachlaufen dürfen, nun, wo viel wichtigere Dinge zu tun sind. Sie haben doch wohl verstanden, was los ist=“ „Die Irrlichter sind in der Stadt!“ sagte der Mann. „Ich habe es gehört, ich habe es verstanden! Aber was wollen Sie, dass ich tun soll? Es wird mir ja doch schlecht ergehen, wenn ich sie sehe und den Leuten sage: „Seht einmal, da geht ein Irrlicht in Staatsuniform!“
„Sie gehen auch in Röcken!“ sagte das Weib. „Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen, die es will, und allerorten auftreten. Es geht in die Kirche, nicht um Gottes willen, nein, vielleicht ist es in den Priester gefahren. Es spricht am Wahltag nicht zu des Landes und Reiches Gunsten, nein, nur zu seinen eigenen; es ist Künstler sowohl im Farbentopf als auch im Theatertopf, aber bekommt es ordentlich Macht, dann ist es aus mit dem Topf! Ich schwatze und schwatze, ich muss heraus mit dem, was ich auf dem Herzen habe, zum Schaden meiner eigenen Familie; aber ich werde nun die Retterin der Menschheit sein. Das geschieht wahrlich nicht aus guter Absicht oder um der Medaille willen. Ich tue das Verkehrteste, was ich tun kann, ich sage es einem Poeten und so bekommt es gleich die ganze Stadt zu wissen!“
„Die Stadt nimmt sich das nicht zu Herzen!“ sagte der Mann. „Das wird keinen einzigen Menschen bekümmern, sie glauben alle, dass ich ein Märchen erzähle, während ich im tiefsten Ernst ihnen sage: „Die Irrlichter sind in der Stadt“, sagte die Moorfrau, “ Nehmt euch in acht.“