Sie taugte nichts
Original-Übersetzung
Der Stadtvogt stand am offenen Fenster. Er hatte ein Oberhemd an und eine Brustnadel in der Hemdkrause stecken und war außerordentlich gut rasiert, das hatte er eigenhändig getan und sich dabei nur einen kleinen Schnitt zugezogen, doch über diesen hatte er ein Stückchen Zeitungspapier geklebt.
„Hörst Du, Kleiner“ rief er.
Der Kleine war aber niemand Anderes als der Sohn der Waschfrau, der eben vorbeiging und ehrerbietig seine Mütze zog. Der Schirm war geknickt und auch sonst war sie nach und nach so eingerichtet worden, dass man sie in die Tasche stecken konnte. In seinen ärmlichen aber sauberen und durchaus ordentlich geflickten Kleidern und den schweren Holzschuhen stand der Knabe ehrerbietig da, als ob er vor dem Könige selber stehe.
„Du bist ein guter Junge“ sagte der Stadtvogt, „Du bist ein höflicher Junge Deine Mutter spült wohl Wäsche unten am Fluss. Dahin sollst Du wohl auch mit dem, was Du in der Tasche hast. Das ist eine schlimme Sache mit Deiner Mutter. Wie viel hast Du da?“
„Ein halb Nößel,“ sagte der Knabe mit erschreckter, halbleiser Stimme.
„Und heute morgen bekam sie ebensoviel,“ fuhr der Mann fort.
„Nein, gestern war es“ antwortete der Knabe.
„Zwei halbe geben ein ganzes. – Sie taugt nichts. Es ist traurig mit dieser Volksklasse. – Sag Deiner Mutter, sie sollte sich schämen. Und werde nicht auch zum Trunkenbold, aber das wirst Du ja doch. – Armes Kind. – Geh nun.“
Und der Knabe ging; die Mütze behielt er in der Hand und der Wind blies durch sein blondes Haar, sodass es sich in langen Strähnen aufrichtete. Er ging um die Straßenecke in das Gässchen zum Flusse hinab, wo die Mutter draußen im Wasser neben der Waschbank stand und mit dem Wäscheklöpfel auf das schwere Leinen schlug. Es war starke Strömung im Flusse, denn die Schleusen der Wassermühle waren geöffnet. Die Laken wurden vom Strome fortgetrieben und rissen fast die Waschbank mit sich; die Waschfrau musste sich kräftig dagegenstemmen.
„Ich bin nahe daran, fortzuschwimmen.“ sagte sie, „es ist gut, dass Du kommst, denn eine Hülfe tut den Kräften schon Not! Es ist kalt hier draußen im Wasser; sechs Stunden habe ich schon hier gestanden. Hast Du etwas für mich?“
Der Knabe zog die Flasche hervor und die Mutter setzte sie an den Mund und trank einen Schluck.
„Ach, das tut gut. Wie das wärmt. Das ist ebenso gut wie warmes Essen, und es ist nicht so teuer. Trink, mein Junge. Du siehst so blas aus, Du frierst in den dünnen Kleidern; es ist ja auch Herbst. Hu, Das Wasser ist kalt. Wenn ich nur nicht krank werde. Aber das tue ich nicht. Gib mir noch einen Tropfen und trinke auch, aber nur einen kleinen Tropfen, Du darfst Dich nicht daran gewöhnen, mein liebes armes Kind.“
Sie ging um die Brücke, auf der der Knabe stand, und trat aufs Land. Das Wasser triefte aus der Schilfmatte, die sie um den Leib gebunden trug und es triefte auch aus ihrem Hemde.
„Ich quäle und placke mich ab, dass mir das Blut fast unter den Nägeln hervorspritzt, aber das tut nichts, wenn ich Dich nur ehrlich durch die Welt bringe, mein Kind.“
Im gleichen Augenblick kam eine etwas ältere Frau, ärmlich an Kleidung und Gestalt. Sie hinkte auf dem einen Bein und trug über dem einen Auge eine mächtige falsche Locke, das sollte von der Locke verdeckt werden, aber das Gebrechen fiel dadurch nur noch mehr in die Augen. Es war eine Freundin der Waschfrau, „Humpelmaren mit der Locke“ nannten die Nachbarn sie.
„Du Ärmste, wie Du Dich quälen und placken und in dem kalten Wasser stehen musst. Du hast doch wahrhaftig ein bisschen Warmes nötig, und doch missgönnt man Dir noch den Tropfen, den Du bekommst!“
Und nun war bald des Stadtvogts ganze Rede zu dem Knaben der Waschfrau zu Ohren gebracht; denn Maren hatte das Ganze mitangehört und es hatte sie geärgert, dass er zu dem Kinde so von seiner eigenen Mutter und von dem Tropfen, den sie zu sich nahm, sprach, wehrend er gleichzeitig große Essen abhielt, bei denen der Wein flaschenweise floss. „Feine Weine und starke Weine werden da getrunken, auch ein bisschen über den Durst bei vielen. Aber das nennt man beileibe nicht trinken! Sie taugen etwas, aber Du taugst nichts!“
„Hat er so zu Dir gesprochen, Kind“ sagte die Waschfrau und ihre Lippen bewegten sich zitternd. „Du hast eine Mutter, die nichts taugt. Vielleicht hat er recht, aber dem Kinde hätte er das nicht sagen dürfen. Doch von diesem Hause kommt viel über mich.“
„Ihr habt ja dort im Hause gedient, als des Stadtvogts Eltern noch lebten und dort wohnten; das ist viele Jahre her. Seit der Zeit sind viele Scheffel Salz gegessen worden, da kann man schon Durst bekommen!“ und Maren lachte. „Heute ist großes Mittagessen beim Stadtvogt, es sollte abgesagt werden, aber es wurde zu spät, und das Essen war schon fertig. Ich habe es von dem Hausknechte. Vor einer Stunde ungefähr ist ein Brief gekommen, dass der jüngere Bruder in Kopenhagen gestorben ist.“
„Gestorben“ schrie die Waschfrau auf und wurde totenbleich.
„Aber ja doch“ sagte die Frau. „Geht es Euch so nahe? Nun ja, Ihr habt ihn ja gekannt von der Zeit an, wo Ihr im Hause dientet.“
„Ist er tot! Er war der beste Mensch auf Erden. Unser Herrgott bekommt nicht viele, wie er war.“ Und Tränen liefen über ihre Wangen. „O, mein Gott. Es dreht sich alles vor mir im Kreise. Das kommt, weil ich die Flasche ausgetrunken habe; ich habe es nicht vertragen können. Ich fühle mich so krank“ und sie lehnte sich gegen einen Bretterzaun.
„Aber Mutter, Ihr seid ja ganz krank“ sagte die Frau. „Seht nur, dass es vorübergeht! Nein, Ihr seid wirklich krank. Es wird das beste sein, dass ich Euch nachhause bringe!“
„Aber die Wäsche hier.“
„Da lasst mich nur machen. Fasst mich unter den Arm. Der Junge kann hier bleiben und solange aufpassen. Nachher komme ich und wasche den Rest. Es ist ja nicht mehr viel übrig.“
Und die Waschfrau schwankte auf ihren Füßen.
„Ich habe zu lange in dem kalten Wasser gestanden. Seit heute morgen habe ich weder etwas Warmes noch etwas Kaltes in den Magen bekommen! Ich fühle, wie das Fieber in meinem Körper sitzt. O, Herr Jesus, hilf mir nachhause. Mein armes Kind“ und sie brach in Tränen aus.
Der Knabe weinte und saß bald allein am Flusse neben der nassen Wäsche. Die beiden Frauen gingen nur langsam, die Waschfrau schwankend, das Gässchen entlang, sie bogen um die Ecke am Hause des Stadtvogts vorbei, und gerade vor diesem sank sie auf das Pflaster. Die Leute liefen zusammen.
Humpelmaren lief in das Haus um Hülfe. Der Stadtvogt mit seinen Gästen sah aus dem Fenster.
„Das ist die Waschfrau“ sagte er. „Sie hat wohl eins über den Durst getrunken; sie taugt nichts. Es ist schade um ihren hübschen Jungen. Für das Kind habe ich etwas übrig. Aber die Mutter taugt nichts.“
Dann wurde sie wieder zur Besinnung gebracht und in ihr ärmliches Heim geführt, wo man sie auf das Bett legte. Die brave Maren machte ihr eine Tasse warmes Bier mit Butter und Zucker zurecht, eine Medizin, die sie immer für die beste hielt. Und dann ging sie zum Flusse hinunter und spülte schlecht aber mit viel guter Meinung die Wäsche, sie zog das nasse Zeug eigentlich nur ans Land und nahm es mit sich.
Am Abend saß sie in der ärmlichen Stube bei der Waschfrau. Ein paar gebratene Kartoffeln und ein prächtig fettes Stück Schinken hatte sie von der Köchin des Stadtvogts für die Kranke bekommen, daran taten sich der Knabe und Maren gütlich; die Kranke freute sich am Geruche, der so nährend wäre, wie sie sagte.
Und der Knabe kam ins Bett, in das gleiche Bett, in dem die Mutter lag, aber er hatte seinen Platz quer zu ihren Füßen und zog einen alten Fußteppich über sich, der aus roten und blauen Streifen zusammengenäht war.
Der Waschfrau ging es ein wenig besser; das warme Bier hatte sie gestärkt und der Duft des feinen Essens ihr wohlgetan.
„Dank, Du gute Seele“ sagte sie zu Maren. „Wenn der Junge schläft, will ich Dir auch alles sagen. Ich glaube, er tut es schon. Wie süß und lieb er doch aussieht mit den geschlossenen Augen. Er weiß nicht, wie schlecht es seiner Mutter geht. Der liebe Gott möge ihm ein anderes Schicksal bescheren! – Als ich bei Gerichtsrats, den Eltern des Stadtvogts diente, traf es sich, dass der Jüngste von den Söhnen, der damals Student war, heimkam; damals war ich jung, wild und warmblütig, aber anständig, das kann ich auch vor Gott getrost behaupten!“ sagte die Waschfrau. – „Der Student war so lustig und fröhlich, ein prachtvoller Mensch. Jeder Blutstropfen in ihm war rechtschaffen und gut. Einen besseren Menschen gab es auf der ganzen Welt nicht. Er war der Sohn des Hauses und ich nur das Dienstmädchen, aber wir wurden uns einig in Zucht und Ehren. Ein Kuss ist doch keine Sünde, wenn man einander richtig lieb hat. Und dann sagte er es seiner Mutter, die für ihn der Herrgott hier auf Erden war. Und sie war auch so klug, so liebevoll und so gut. – Dann reiste er fort und setzte mir seinen goldenen Ring auf den Finger. Als er fort war, rief mich meine Dienstherrin in ihr Zimmer. Ernst und doch so mild stand sie da und sprach mit mir, wie der liebe Gott auch hätte sprechen können. Sie erklärte mir den Abstand in Geist und Bildung zwischen ihm und mir. Jetzt sieht er noch, wie hübsch Du aussiehst, aber die Schönheit vergeht! Du bist nicht in dem Stande erzogen wie er, Ihr seid in den Reichen des Geistes nicht gleich, und darin liegt das Unglück. Ich achte den Armen, sagte sie, bei Gott erhält er vielleicht einen höheren Platz als mancher Reiche, aber auf Erden darf man nicht in der verkehrten Spur fahren, wenn man vorwärts will, sonst schlägt der Wagen um, und Ihr beiden würdet umschlagen! Ich weiß, dass ein braver Mann, ein Handwerker, um Dich gefreit hat, es ist der Handschuhmacher Erik. Er ist Witwer, er hat keine Kinder und steht sich gut; denke darüber nach.“ Jedes Wort, was sie sagte, schnitt mir wie ein Messer ins Herz, aber die Frau hatte recht. Und das drückte mich und lastete auf mir. Ich küsste ihr die Hand und weinte meine bittersten Tränen und noch mehr, als ich dann in meiner Kammer war und mich übers Bett warf. Es war eine schwere Nacht, die dieser Stunde folgte; der liebe Gott weiß es, wie ich gelitten und gestritten habe. Dann ging ich am Sonntag zum Abendmahl, um innere Klarheit zu finden. Da geschah es wie in einer Fügung, dass ich gerade den Handschuhmacher Erik traf, als ich aus der Kirche kam. Da war es mit meinen Zweifeln vorbei, wir passten zu einander in Stellung und Verhältnissen, ja, er war sogar ein wohlhabender Mann, und so ging ich gerade auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte: Sind Deine Gedanken immer noch bei mir? – Ja, ewig und immer werden sie das sein. sagte er. – Willst Du ein Mädchen haben, das Dich achtet und ehrt, wenn es Dich auch nicht liebt? Aber auch das kann wohl noch kommen. – Das wird kommen sagte er, und dann gaben wir einander die Hand. Ich ging heim zu meiner Dienstherrin. Den Goldring, den der Sohn mir gegeben hatte, trug ich auf meiner bloßen Brust, am Tage konnte ich ihn nicht auf meinen Finger setzen, aber jeden Abend, wenn ich mich ins Bett legte, setzte ich ihn auf. Ich küsste den Ring, dass meine Lippen dabei bluteten. Und dann gab ich ihn meiner Dienstherrin und sagte, dass ich in der nächsten Woche von der Kanzel herab mit dem Handschuhmacher aufgeboten werden würde. Da nahm sie mich in ihre Arme und küsste mich – sie sagte nicht, dass ich nichts tauge, aber damals war ich vielleicht auch noch besser, obgleich ich noch nicht so viel Widerstand im Leben hatte durchmachen müssen. Zu Lichtmess fand dann die Hochzeit statt. Das erste Jahr ging es gut, wir hielten einen Gesellen und einen Burschen, und damals dientest Du auch bei uns, Maren.“
„Ach, Ihr wart mir eine gute Dienstherrin“ sagte Maren. „Niemals werde ich vergessen, wie freundlich Ihr und Euer Mann zu mir wart.“
„Das waren die guten Jahre, in denen Du bei uns warst – Kinder hatten wir da noch nicht. – Den Studenten sah ich niemals mehr. – Doch, ich sah ihn, aber er sah mich nicht. Er kam zu seiner Mutter Begräbnis. Ich sah, ihn am Grabe stehen, er war kreideweiß und tiefbetrübt, aber es war um der Mutter willen! Als später der Vater starb, war er in fremden Ländern und kam nicht her, auch später ist er nicht mehr hier gewesen. Niemals hat er sich verheiratet, das weiß ich; er war wohl Rechtsanwalt. – An mich dachte er nicht mehr und hätte er mich gesehen, so hätte er mich wohl nicht mehr erkannt, so hässlich bin ich geworden. Und das ist ja auch gut so!“
Und sie sprach von den schweren Tagen der Prüfung, wie das Unglück geradezu über sie hergefallen war. Sie besaßen fünfhundert Reichstaler, und da in der Straße ein Haus für zweihundert zu haben war und es sich gelohnt hätte, es niederzureißen und ein neues zu bauen, wurde das Haus gekauft. Der Maurer und der Zimmermann machten einen Überschlag, wonach das weitere noch eintausendzwanzig Mark kosten würde. Kredit hatte der Handschuhmacher, das Geld bekam er in Kopenhagen geliehen, aber der Schiffer, der es bringen sollte, ging unter und das Geld mit.
Damals war es, dass mein lieber Junge, der hier schläft, geboren wurde. – Der Vater fiel in eine schwere langwierige Krankheit. Dreiviertel Jahr lang musste ich ihn aus- und anziehen. Es ging immer weiter rückwärts mit uns; wir liehen und liehen, all unser Eigentum ging verloren und der Vater starb. – Ich habe mich gequält und geplagt, habe gestritten und gestrebt um des Kindes willen, habe Treppen gescheuert und Wäsche gewaschen, grobe und feine. Aber Gott wollte, dass ich es nicht besser haben sollte, aber er wird mich wohl einmal erlösen und für den Knaben sorgen.“
Dann schlief sie ein.
Am Morgen fühlte sie sich gekräftigt und, wie sie glaubte, stark genug, wieder an ihre Arbeit zu gehen. Sie war eben in das kalte Wasser gestiegen, als ein Zittern, eine Ohnmacht sie befiel. Krampfhaft griff sie mit der Hand nach vorwärts, machte einen Schritt an das Land und fiel dann um. Der Kopf war auf dem Trockenen, aber die Füße lagen draußen im Fluss. Ihre Holzschuhe, mit denen sie auf dem Grunde gestanden hatte – in jedem von ihnen war eine Strohlage – trieben in der Strömung; hier wurde sie von Maren aufgefunden, die mit Kaffee herunterkam.
Vom Stadtvogt war eine Bestellung zuhause, dass sie sogleich zu ihm kommen möge, er habe ihr etwas zu sagen. Das war zu spät. Ein Barbier wurde geholt, um ihr zur Ader zu lassen; aber die Waschfrau war tot.
„Sie hat sich todgetrunken!“ sagte der Stadtvogt.
In dem Briefe, der die Nachricht vom Tode des Bruders brachte, war der Inhalt des Testaments angegeben und darin stand, dass sechshundert Reichstaler der Handschuhmacherswitwe vermacht waren, die einmal bei seinen Eltern gedient habe. Nach bestem Gewisses sollte das Geld in kleineren oder größeren Teilen ihr und ihrem Kinde übergeben werden.
„Da hat einmal so ein Techtelmechtel zwischen meinem Bruder und ihr stattgefunden!“ sagte der Stadtvogt. „Gut: dass sie aus dem Wege ist, nun bekommt der Knabe das Ganze. Ich werde ihn zu braven Leuten geben, dass ein guter Handwerker aus ihm wird.“ – Und in diese Worte legte der liebe Gott seinen Segen.
Der Stadtvogt rief den Knaben zu sich, versprach, für ihn zu sorgen und sagte zu ihm, wie gut es sei, dass seine Mutter gestorben wäre, sie taugte nichts.
Sie wurde auf den Kirchhof gebracht, auf den Armenfriedhof. Maren pflanzte einen kleinen Rosenstrauch auf das Grab – und der Knabe stand an ihrer Seite.
„Meine liebe Mutter“ sagte er und seine Tränen strömten: „Ist es wahr, dass sie nichts taugte?“
„Ja, sie taugte!“ sagte das alte Mädchen und sah zum Himmel auf. „Ich weiß das seit langen Jahren und seit der letzten Nacht noch mehr. Ich sage Dir, sie taugte. Und unser Herrgott im Himmelreich sagt es auch. Lass die Welt nur ruhig sagen: sie taugt nichts!“
Über diese Märchen
Dieses Märchen wurde 1852 veröffentlicht.
Original-Übersetzung
Der Stadtvogt stand am offenen Fenster. Er hatte ein Oberhemd an und eine Brustnadel in der Hemdkrause stecken und war außerordentlich gut rasiert, das hatte er eigenhändig getan und sich dabei nur einen kleinen Schnitt zugezogen, doch über diesen hatte er ein Stückchen Zeitungspapier geklebt.
„Hörst Du, Kleiner“ rief er.
Der Kleine war aber niemand Anderes als der Sohn der Waschfrau, der eben vorbeiging und ehrerbietig seine Mütze zog. Der Schirm war geknickt und auch sonst war sie nach und nach so eingerichtet worden, dass man sie in die Tasche stecken konnte. In seinen ärmlichen aber sauberen und durchaus ordentlich geflickten Kleidern und den schweren Holzschuhen stand der Knabe ehrerbietig da, als ob er vor dem Könige selber stehe.
„Du bist ein guter Junge“ sagte der Stadtvogt, „Du bist ein höflicher Junge Deine Mutter spült wohl Wäsche unten am Fluss. Dahin sollst Du wohl auch mit dem, was Du in der Tasche hast. Das ist eine schlimme Sache mit Deiner Mutter. Wie viel hast Du da?“
„Ein halb Nößel,“ sagte der Knabe mit erschreckter, halbleiser Stimme.
„Und heute morgen bekam sie ebensoviel,“ fuhr der Mann fort.
„Nein, gestern war es“ antwortete der Knabe.
„Zwei halbe geben ein ganzes. – Sie taugt nichts. Es ist traurig mit dieser Volksklasse. – Sag Deiner Mutter, sie sollte sich schämen. Und werde nicht auch zum Trunkenbold, aber das wirst Du ja doch. – Armes Kind. – Geh nun.“
Und der Knabe ging; die Mütze behielt er in der Hand und der Wind blies durch sein blondes Haar, sodass es sich in langen Strähnen aufrichtete. Er ging um die Straßenecke in das Gässchen zum Flusse hinab, wo die Mutter draußen im Wasser neben der Waschbank stand und mit dem Wäscheklöpfel auf das schwere Leinen schlug. Es war starke Strömung im Flusse, denn die Schleusen der Wassermühle waren geöffnet. Die Laken wurden vom Strome fortgetrieben und rissen fast die Waschbank mit sich; die Waschfrau musste sich kräftig dagegenstemmen.
„Ich bin nahe daran, fortzuschwimmen.“ sagte sie, „es ist gut, dass Du kommst, denn eine Hülfe tut den Kräften schon Not! Es ist kalt hier draußen im Wasser; sechs Stunden habe ich schon hier gestanden. Hast Du etwas für mich?“
Der Knabe zog die Flasche hervor und die Mutter setzte sie an den Mund und trank einen Schluck.
„Ach, das tut gut. Wie das wärmt. Das ist ebenso gut wie warmes Essen, und es ist nicht so teuer. Trink, mein Junge. Du siehst so blas aus, Du frierst in den dünnen Kleidern; es ist ja auch Herbst. Hu, Das Wasser ist kalt. Wenn ich nur nicht krank werde. Aber das tue ich nicht. Gib mir noch einen Tropfen und trinke auch, aber nur einen kleinen Tropfen, Du darfst Dich nicht daran gewöhnen, mein liebes armes Kind.“
Sie ging um die Brücke, auf der der Knabe stand, und trat aufs Land. Das Wasser triefte aus der Schilfmatte, die sie um den Leib gebunden trug und es triefte auch aus ihrem Hemde.
„Ich quäle und placke mich ab, dass mir das Blut fast unter den Nägeln hervorspritzt, aber das tut nichts, wenn ich Dich nur ehrlich durch die Welt bringe, mein Kind.“
Im gleichen Augenblick kam eine etwas ältere Frau, ärmlich an Kleidung und Gestalt. Sie hinkte auf dem einen Bein und trug über dem einen Auge eine mächtige falsche Locke, das sollte von der Locke verdeckt werden, aber das Gebrechen fiel dadurch nur noch mehr in die Augen. Es war eine Freundin der Waschfrau, „Humpelmaren mit der Locke“ nannten die Nachbarn sie.
„Du Ärmste, wie Du Dich quälen und placken und in dem kalten Wasser stehen musst. Du hast doch wahrhaftig ein bisschen Warmes nötig, und doch missgönnt man Dir noch den Tropfen, den Du bekommst!“
Und nun war bald des Stadtvogts ganze Rede zu dem Knaben der Waschfrau zu Ohren gebracht; denn Maren hatte das Ganze mitangehört und es hatte sie geärgert, dass er zu dem Kinde so von seiner eigenen Mutter und von dem Tropfen, den sie zu sich nahm, sprach, wehrend er gleichzeitig große Essen abhielt, bei denen der Wein flaschenweise floss. „Feine Weine und starke Weine werden da getrunken, auch ein bisschen über den Durst bei vielen. Aber das nennt man beileibe nicht trinken! Sie taugen etwas, aber Du taugst nichts!“
„Hat er so zu Dir gesprochen, Kind“ sagte die Waschfrau und ihre Lippen bewegten sich zitternd. „Du hast eine Mutter, die nichts taugt. Vielleicht hat er recht, aber dem Kinde hätte er das nicht sagen dürfen. Doch von diesem Hause kommt viel über mich.“
„Ihr habt ja dort im Hause gedient, als des Stadtvogts Eltern noch lebten und dort wohnten; das ist viele Jahre her. Seit der Zeit sind viele Scheffel Salz gegessen worden, da kann man schon Durst bekommen!“ und Maren lachte. „Heute ist großes Mittagessen beim Stadtvogt, es sollte abgesagt werden, aber es wurde zu spät, und das Essen war schon fertig. Ich habe es von dem Hausknechte. Vor einer Stunde ungefähr ist ein Brief gekommen, dass der jüngere Bruder in Kopenhagen gestorben ist.“
„Gestorben“ schrie die Waschfrau auf und wurde totenbleich.
„Aber ja doch“ sagte die Frau. „Geht es Euch so nahe? Nun ja, Ihr habt ihn ja gekannt von der Zeit an, wo Ihr im Hause dientet.“
„Ist er tot! Er war der beste Mensch auf Erden. Unser Herrgott bekommt nicht viele, wie er war.“ Und Tränen liefen über ihre Wangen. „O, mein Gott. Es dreht sich alles vor mir im Kreise. Das kommt, weil ich die Flasche ausgetrunken habe; ich habe es nicht vertragen können. Ich fühle mich so krank“ und sie lehnte sich gegen einen Bretterzaun.
„Aber Mutter, Ihr seid ja ganz krank“ sagte die Frau. „Seht nur, dass es vorübergeht! Nein, Ihr seid wirklich krank. Es wird das beste sein, dass ich Euch nachhause bringe!“
„Aber die Wäsche hier.“
„Da lasst mich nur machen. Fasst mich unter den Arm. Der Junge kann hier bleiben und solange aufpassen. Nachher komme ich und wasche den Rest. Es ist ja nicht mehr viel übrig.“
Und die Waschfrau schwankte auf ihren Füßen.
„Ich habe zu lange in dem kalten Wasser gestanden. Seit heute morgen habe ich weder etwas Warmes noch etwas Kaltes in den Magen bekommen! Ich fühle, wie das Fieber in meinem Körper sitzt. O, Herr Jesus, hilf mir nachhause. Mein armes Kind“ und sie brach in Tränen aus.
Der Knabe weinte und saß bald allein am Flusse neben der nassen Wäsche. Die beiden Frauen gingen nur langsam, die Waschfrau schwankend, das Gässchen entlang, sie bogen um die Ecke am Hause des Stadtvogts vorbei, und gerade vor diesem sank sie auf das Pflaster. Die Leute liefen zusammen.
Humpelmaren lief in das Haus um Hülfe. Der Stadtvogt mit seinen Gästen sah aus dem Fenster.
„Das ist die Waschfrau“ sagte er. „Sie hat wohl eins über den Durst getrunken; sie taugt nichts. Es ist schade um ihren hübschen Jungen. Für das Kind habe ich etwas übrig. Aber die Mutter taugt nichts.“
Dann wurde sie wieder zur Besinnung gebracht und in ihr ärmliches Heim geführt, wo man sie auf das Bett legte. Die brave Maren machte ihr eine Tasse warmes Bier mit Butter und Zucker zurecht, eine Medizin, die sie immer für die beste hielt. Und dann ging sie zum Flusse hinunter und spülte schlecht aber mit viel guter Meinung die Wäsche, sie zog das nasse Zeug eigentlich nur ans Land und nahm es mit sich.
Am Abend saß sie in der ärmlichen Stube bei der Waschfrau. Ein paar gebratene Kartoffeln und ein prächtig fettes Stück Schinken hatte sie von der Köchin des Stadtvogts für die Kranke bekommen, daran taten sich der Knabe und Maren gütlich; die Kranke freute sich am Geruche, der so nährend wäre, wie sie sagte.
Und der Knabe kam ins Bett, in das gleiche Bett, in dem die Mutter lag, aber er hatte seinen Platz quer zu ihren Füßen und zog einen alten Fußteppich über sich, der aus roten und blauen Streifen zusammengenäht war.
Der Waschfrau ging es ein wenig besser; das warme Bier hatte sie gestärkt und der Duft des feinen Essens ihr wohlgetan.
„Dank, Du gute Seele“ sagte sie zu Maren. „Wenn der Junge schläft, will ich Dir auch alles sagen. Ich glaube, er tut es schon. Wie süß und lieb er doch aussieht mit den geschlossenen Augen. Er weiß nicht, wie schlecht es seiner Mutter geht. Der liebe Gott möge ihm ein anderes Schicksal bescheren! – Als ich bei Gerichtsrats, den Eltern des Stadtvogts diente, traf es sich, dass der Jüngste von den Söhnen, der damals Student war, heimkam; damals war ich jung, wild und warmblütig, aber anständig, das kann ich auch vor Gott getrost behaupten!“ sagte die Waschfrau. – „Der Student war so lustig und fröhlich, ein prachtvoller Mensch. Jeder Blutstropfen in ihm war rechtschaffen und gut. Einen besseren Menschen gab es auf der ganzen Welt nicht. Er war der Sohn des Hauses und ich nur das Dienstmädchen, aber wir wurden uns einig in Zucht und Ehren. Ein Kuss ist doch keine Sünde, wenn man einander richtig lieb hat. Und dann sagte er es seiner Mutter, die für ihn der Herrgott hier auf Erden war. Und sie war auch so klug, so liebevoll und so gut. – Dann reiste er fort und setzte mir seinen goldenen Ring auf den Finger. Als er fort war, rief mich meine Dienstherrin in ihr Zimmer. Ernst und doch so mild stand sie da und sprach mit mir, wie der liebe Gott auch hätte sprechen können. Sie erklärte mir den Abstand in Geist und Bildung zwischen ihm und mir. Jetzt sieht er noch, wie hübsch Du aussiehst, aber die Schönheit vergeht! Du bist nicht in dem Stande erzogen wie er, Ihr seid in den Reichen des Geistes nicht gleich, und darin liegt das Unglück. Ich achte den Armen, sagte sie, bei Gott erhält er vielleicht einen höheren Platz als mancher Reiche, aber auf Erden darf man nicht in der verkehrten Spur fahren, wenn man vorwärts will, sonst schlägt der Wagen um, und Ihr beiden würdet umschlagen! Ich weiß, dass ein braver Mann, ein Handwerker, um Dich gefreit hat, es ist der Handschuhmacher Erik. Er ist Witwer, er hat keine Kinder und steht sich gut; denke darüber nach.“ Jedes Wort, was sie sagte, schnitt mir wie ein Messer ins Herz, aber die Frau hatte recht. Und das drückte mich und lastete auf mir. Ich küsste ihr die Hand und weinte meine bittersten Tränen und noch mehr, als ich dann in meiner Kammer war und mich übers Bett warf. Es war eine schwere Nacht, die dieser Stunde folgte; der liebe Gott weiß es, wie ich gelitten und gestritten habe. Dann ging ich am Sonntag zum Abendmahl, um innere Klarheit zu finden. Da geschah es wie in einer Fügung, dass ich gerade den Handschuhmacher Erik traf, als ich aus der Kirche kam. Da war es mit meinen Zweifeln vorbei, wir passten zu einander in Stellung und Verhältnissen, ja, er war sogar ein wohlhabender Mann, und so ging ich gerade auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte: Sind Deine Gedanken immer noch bei mir? – Ja, ewig und immer werden sie das sein. sagte er. – Willst Du ein Mädchen haben, das Dich achtet und ehrt, wenn es Dich auch nicht liebt? Aber auch das kann wohl noch kommen. – Das wird kommen sagte er, und dann gaben wir einander die Hand. Ich ging heim zu meiner Dienstherrin. Den Goldring, den der Sohn mir gegeben hatte, trug ich auf meiner bloßen Brust, am Tage konnte ich ihn nicht auf meinen Finger setzen, aber jeden Abend, wenn ich mich ins Bett legte, setzte ich ihn auf. Ich küsste den Ring, dass meine Lippen dabei bluteten. Und dann gab ich ihn meiner Dienstherrin und sagte, dass ich in der nächsten Woche von der Kanzel herab mit dem Handschuhmacher aufgeboten werden würde. Da nahm sie mich in ihre Arme und küsste mich – sie sagte nicht, dass ich nichts tauge, aber damals war ich vielleicht auch noch besser, obgleich ich noch nicht so viel Widerstand im Leben hatte durchmachen müssen. Zu Lichtmess fand dann die Hochzeit statt. Das erste Jahr ging es gut, wir hielten einen Gesellen und einen Burschen, und damals dientest Du auch bei uns, Maren.“
„Ach, Ihr wart mir eine gute Dienstherrin“ sagte Maren. „Niemals werde ich vergessen, wie freundlich Ihr und Euer Mann zu mir wart.“
„Das waren die guten Jahre, in denen Du bei uns warst – Kinder hatten wir da noch nicht. – Den Studenten sah ich niemals mehr. – Doch, ich sah ihn, aber er sah mich nicht. Er kam zu seiner Mutter Begräbnis. Ich sah, ihn am Grabe stehen, er war kreideweiß und tiefbetrübt, aber es war um der Mutter willen! Als später der Vater starb, war er in fremden Ländern und kam nicht her, auch später ist er nicht mehr hier gewesen. Niemals hat er sich verheiratet, das weiß ich; er war wohl Rechtsanwalt. – An mich dachte er nicht mehr und hätte er mich gesehen, so hätte er mich wohl nicht mehr erkannt, so hässlich bin ich geworden. Und das ist ja auch gut so!“
Und sie sprach von den schweren Tagen der Prüfung, wie das Unglück geradezu über sie hergefallen war. Sie besaßen fünfhundert Reichstaler, und da in der Straße ein Haus für zweihundert zu haben war und es sich gelohnt hätte, es niederzureißen und ein neues zu bauen, wurde das Haus gekauft. Der Maurer und der Zimmermann machten einen Überschlag, wonach das weitere noch eintausendzwanzig Mark kosten würde. Kredit hatte der Handschuhmacher, das Geld bekam er in Kopenhagen geliehen, aber der Schiffer, der es bringen sollte, ging unter und das Geld mit.
Damals war es, dass mein lieber Junge, der hier schläft, geboren wurde. – Der Vater fiel in eine schwere langwierige Krankheit. Dreiviertel Jahr lang musste ich ihn aus- und anziehen. Es ging immer weiter rückwärts mit uns; wir liehen und liehen, all unser Eigentum ging verloren und der Vater starb. – Ich habe mich gequält und geplagt, habe gestritten und gestrebt um des Kindes willen, habe Treppen gescheuert und Wäsche gewaschen, grobe und feine. Aber Gott wollte, dass ich es nicht besser haben sollte, aber er wird mich wohl einmal erlösen und für den Knaben sorgen.“
Dann schlief sie ein.
Am Morgen fühlte sie sich gekräftigt und, wie sie glaubte, stark genug, wieder an ihre Arbeit zu gehen. Sie war eben in das kalte Wasser gestiegen, als ein Zittern, eine Ohnmacht sie befiel. Krampfhaft griff sie mit der Hand nach vorwärts, machte einen Schritt an das Land und fiel dann um. Der Kopf war auf dem Trockenen, aber die Füße lagen draußen im Fluss. Ihre Holzschuhe, mit denen sie auf dem Grunde gestanden hatte – in jedem von ihnen war eine Strohlage – trieben in der Strömung; hier wurde sie von Maren aufgefunden, die mit Kaffee herunterkam.
Vom Stadtvogt war eine Bestellung zuhause, dass sie sogleich zu ihm kommen möge, er habe ihr etwas zu sagen. Das war zu spät. Ein Barbier wurde geholt, um ihr zur Ader zu lassen; aber die Waschfrau war tot.
„Sie hat sich todgetrunken!“ sagte der Stadtvogt.
In dem Briefe, der die Nachricht vom Tode des Bruders brachte, war der Inhalt des Testaments angegeben und darin stand, dass sechshundert Reichstaler der Handschuhmacherswitwe vermacht waren, die einmal bei seinen Eltern gedient habe. Nach bestem Gewisses sollte das Geld in kleineren oder größeren Teilen ihr und ihrem Kinde übergeben werden.
„Da hat einmal so ein Techtelmechtel zwischen meinem Bruder und ihr stattgefunden!“ sagte der Stadtvogt. „Gut: dass sie aus dem Wege ist, nun bekommt der Knabe das Ganze. Ich werde ihn zu braven Leuten geben, dass ein guter Handwerker aus ihm wird.“ – Und in diese Worte legte der liebe Gott seinen Segen.
Der Stadtvogt rief den Knaben zu sich, versprach, für ihn zu sorgen und sagte zu ihm, wie gut es sei, dass seine Mutter gestorben wäre, sie taugte nichts.
Sie wurde auf den Kirchhof gebracht, auf den Armenfriedhof. Maren pflanzte einen kleinen Rosenstrauch auf das Grab – und der Knabe stand an ihrer Seite.
„Meine liebe Mutter“ sagte er und seine Tränen strömten: „Ist es wahr, dass sie nichts taugte?“
„Ja, sie taugte!“ sagte das alte Mädchen und sah zum Himmel auf. „Ich weiß das seit langen Jahren und seit der letzten Nacht noch mehr. Ich sage Dir, sie taugte. Und unser Herrgott im Himmelreich sagt es auch. Lass die Welt nur ruhig sagen: sie taugt nichts!“
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